Vor dem Abflug nach Stockholm komme ich am Zürcher Flughafen mit einer seit vielen Jahren in Witikon wohnenden Spanierin aus Bilbao ins Gespräch. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Schwiegermutter, die in der dortigen aramäischen Gemeinschaft ansässig sei. Bei den Aramäern handle es sich um eine christliche Minderheit in der Türkei, die jedoch hauptsächlich in der Diaspora lebe. Und wieder einmal wundere ich mich über unsere bunte, vielfältige Welt.
Im Flugzeug sitze ich neben einer Schwedin, die mit ihren beiden Kindern ihre Schwester und deren Mann, die am Zürichsee leben, besucht hatte. Nach einem PhD in Klima und Meteorologie hat sie sich gegen das akademische Leben entschieden und beschäftigt sich nun in einer Projektgruppe mit einer App für Behinderte. Wer denken gelernt hat, kann vieles machen, denkt es so in mir.
Mein Hotel verfügt über einen Shuttle, der alle dreissig Minuten fährt, und gerade mal sechs Minuten bis zum Flughafen benötigt. Vorgestellt hatte ich mir, dass mich in Flughafennähe flaches Gelände erwarten würde, um mir den Blick in die Weite zu verschaffen – nichts, das meiner Seele besser tut. Das regnerische und teils stürmische Wetter machte mir allerdings einen Strich durch die Rechnung und wartete mit einer tiefliegenden Wolkendecke auf; viel Weite gab es nicht zu sehen.
Nur einmal, im Bus von Arlanda nach Märsta, klarte es auf. Und meine Seele jubelte.
Das abendliche Zudröhnen mittels BBC, CNN und FOX News für einmal ausser Kraft, da gerade einmal vier schwedische Sender zu empfangen sind. Als ich mich erkundige, ob das üblich sei, sagt man mir, nein, nein, man werde sich darum kümmern. Das dauerte dann eine ganze Weile; schlussendlich hatte ich dreizehn Kanäle, auch ein paar englische waren dabei und boten Filme, bei denen ich definitiv nicht zum Zielpublikum gehöre.
Drei Nobelpreisträger für Literatur habe ich mit dabei, doch keinen finde ich lesbar. Im Gegensatz zu früher glaube ich heute nicht mehr, dass ich verpflichtet bin, Nobelpreisträger zu schätzen und so lege ich sie zur Seite. Wobei: Ich habe auch einige gelesen, die ich beeindruckend fand. Stattdessen nehme ich mir bereits Gelesenes von Alan Watts, Krishnamurti und Eugen Herrigel vor – und werde wieder einmal an Wesentliches erinnert: dass man lernen soll, Meister seiner selbst zu werden.
Die Zeit vergeht langsamer, sobald man aus seinen Routinen fällt.
An meinem ersten Tag regnet es, am zweiten auch; es regnet die ganzen vier Tage, in denen ich mit einem Drei-Tages-Pass für Senioren (Nie hätte ich gedacht, dass es einmal so weit kommen könnte!) die Stadt erkunde. Die Innenstadt ist voller Touristen, zu viele für mich. Als Jugendlicher fand ich Menschenansammlungen geil, heute ist es das Gegenteil. „Que lindo perrito“, höre ich eine männliche Stimme hinter mir und sehe einen etwa Sechzigjährigen einen Hund aus Stein streicheln. Ich ergreife die Flucht.
In einer menschenleeren Seitenstrasse: Hej, zwei kleine, blonde Schwedenmädels, die mir lachend zuwinken.
Die Shuttle-Busfahrer sind entweder dunkelhäutig oder tragen Bart, manchmal auch beides. Im Lokalbus heute zum ersten Mal eine blonde Frau am Steuer. Wie in der Schweiz so winken sich auch hier die Buschauffeure zu.
Die Verkehrsanbindung des Flughafens ist exzellent, Züge und Busse zuhauf. Ein Flughafen fühlt sich ganz anders an, wenn man sich regelmässig dort aufhält. Junge Männer kauften vor allem Bücher darüber, wie man schnell erfolgreich wird, sagt der junge Buchhändler.
Es nieselt, Wind kommt auf. Dann ganz plötzlich dringen Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Das Ganze dauert nur einige wenige Minuten. Gibt es eigentlich Faszinierenderes als Wetter?
Die junge Frau aus Simbabwe neben mir im Bus sagt, ihre eigenen Erfahrungen in Polen, wo sie studiert hat, seien total anders als die einer Bekannten. Von Labels halte sie übrigens gar nichts, die seien eine amerikanische Manie. Ob jemand ein Psychopath oder ein Narzisst sei, er sei einfach ein schlechter Mensch. Sie hat einen vierzehnstündigen Stopover in Stockholm und ist begeistert, dieses Europa hier sei verglichen mit Warschau um Klassen besser. Sie werde sich nach Arbeit als Englischlehrerin erkundigen, doch zuerst gehe es jetzt nach Harare, mit einem weiteren Stopover, dreieinhalb Stunden, in Addis Abeba. Das muss ein billiger Flug gewesen sein, schmunzle ich. Das war es in der Tat, lacht sie.
Die Rezeptionistin trägt ihr Haar meist hoch gesteckt. Heute nicht, heute trägt sie es offen und wirkt wie eine gänzlich andere Person.
Im Zug ein Finne, der zum Motorradeinkauf hierher gekommen ist. Hier koste das Motorrad 12000 Euro, in Finnland 18000. Alles sei bereits arrangiert: Er gehe es jetzt abholen, nehme es dann mit der Fähre nach Helsinki. Früher sei er Koch gewesen, dann gab es plötzlich keine Arbeit mehr und so wurde er Fernfahrer. In Schweden, Norwegen, Finnland. Heute arbeitet er als Manager für Frachtgut.
Wieder einmal eine E-Mail der Obama Foundation, die mich in schöner Regelmässigkeit auffordert, Geld zu spenden. Das ist ja wie bei Trump. Die Reichen betteln bei denen, die entschieden weniger haben, um Geld. Kränker geht kaum.
Ich bin auf dem Weg nach Solna, als der Zug in den Bahnhof von Sollentuna einfährt und ich das farbige Gebäude wieder sehe, das mir schon vor zwei Tagen aufgefallen war. Und so steige ich aus und mache Fotos. Ganz verschiedene Firmen beherberge dieses Gebäude, das auch ‚Colour House‘ genannt werde, sagt der mit einem iPad beschäftigte Mann, den ich angesprochen hatte und der sich als Stadtplaner entpuppte. Das schwarz/weisse Gebäude daneben sei übrigens das Gericht, schmunzelt er.
Sollentuna, 10 August 2023
Ich fahre nach Uppsala. Und nach Märsta. Gehe durch die Strassen und mache Fotos. Mich einer mir unbekannten Umgebung auszusetzen und sie auf mich wirken zu lassen, das ist heutzutage meine Form des Reisens. Ihn interessiere die Geschichte der Stadtteile und Gebäude, sagt der Stadtplaner aus Sollentuna. Das kann ich bestens nachvollziehen, so war es fast mein ganzes Leben. Mittlerweile hingegen zählt nur noch, ob etwas meine Augen anspricht, ob mir etwas ästhetisch gefällt.
Wir reden noch über dies und das, doch hauptsächlich über Wissen und Wahrnehmung, gut zwanzig Minuten lang. Ob ich ein Professor sei, für Ethnologie vielleicht? Das Denken in Systemen sei nicht mein Ding, antworte ich, mein Interesse gehöre der Welt der Ideen, dem unabhängigen Denken ausserhalb der Institutionen.
Der weite Himmel, die mächtig wirkenden Wolken wirken befreiend auf mich.
Ob er Englisch spreche, frage ich den beleibten, mit seinem Handy beschäftigten Kioskbetreiber an der Bahnstation Upplands Väsby. Nein, sagt er, ohne aufzuschauen und beschäftigt sich weiter mit seinem Handy. Ehrlich oder gleichgültig? Ich tippe auf faul.
Im Zug. Eine Frau um die fünfzig, Kopfhörer in den Ohren, telefoniert angeregt, ihre Mimik und ihre Gesten sprechen für sich, der ganze Körper ist in Bewegung. Besonders der Gebrauch ihres Zeigefingers ist eindrücklich, auch und obwohl ihre Gesprächspartnerin nichts davon wissen kann.
„Life is ‚a crack of light‘ between the two great voids, before birth and after death“, so oder ähnlich habe ich das über ein Buch von Jenny Diski gelesen.

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