Sunday, 25 August 2019

Stephen Wilkes: Day to Night

Diesem prächtigen, grossformatigen Band ist ein Zitat von Walt Whitman vorangestellt: "To me, every hour of the day and night is an unspeakably perfect miracle." Bei diesem Satz zu verweilen, ihn nicht nur kurz wirken zu lassen, sondern sich ihm hinzugeben, führt unweigerlich zum Staunen darüber, dass, wie Heidegger einmal geschrieben hat, es überhaupt etwas gibt anstatt gar nichts.

Fotografie zeichnet vor allem aus, dass sie aus dem endlosen Strom von Sinneseindrücken einen Moment einfangen, fixieren und festhalten kann. "A moment in time" nennen wir das, ganz so, als ob es die Zeit auch wirklich geben würde, und man ihr Momente entreissen könnte. Doch auch wenn die Zeit eine Erfindung ist, gilt für sie, was Einstein über die Realität gesagt hat – sie sei eine  sehr beständige Fiktion.

Die Fotografie hilft uns, diese Fiktion aufrecht zu erhalten, jedenfalls die Fotografie, die versucht möglichst unverfälscht abzubilden, was sich der Kamera präsentiert. Stephen Wilkes macht in Day to Night etwas anderes, er versucht eine Vision bildlich umzusetzen. Er komprimiert Landschaften wie Stadtansichten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, indem er aus Tausenden von Einzelaufnahmen Gruppen von Fotos zu einer Collage zusammengefügt.
Brooklyn Bridge Park 2016

Ist das überhaupt noch Fotografie?, mag man sich da fragen. Nur eben: das ist eine dieser Fragen, die sich so recht eigentlich nicht wirklich beantworten lassen, da sie suggeriert, es wäre darauf eine autoritative Antwort möglich. Sinnvoller wäre zu fragen, was lösen diese Bilder beim Betrachter aus?

Zuallererst: Man schaut genauer hin. Zugegeben, ich spreche von mir. Die meisten Bilder überfliege ich heutzutage nur noch, doch diese "Ein Tag im Leben"-Porträts zwingen mich geradezu, inne zu halten und verleiten mich damit, zu tun, was in unseren aufgeregten Zeiten vor allem Not tut – mir Zeit zu nehmen.
Champs de Mars and Eiffel Tower 2014

Lyle Rexer weist in seinem Beitrag "Stephen Wilkes: Die ausgedehnte Zeit" unter anderem darauf hin, dass bei eingehender Betrachtung der Aufnahme des Römer Petersdoms man den Pontifex nicht weniger als zehn Mal entdecken kann. Es ist ein vielfältig informativer Text, der sich unter anderem auch über die Wiedergabe von Grössenverhältnissen auslässt, doch gestört hat mich, diese unsägliche Behauptung, ohne die offenbar kein Text über Fotografie auskommt: "Stephen Wilkes ist ein Geschichtenerzähler und seine Geschichten sind vieldeutig, ihr Ende bleibt offen."

Hier nur soviel: Fotos  erzählen gar nichts; sie zeigen uns, was ein Fotograf entschieden hat, uns zeigen zu wollen.
Central Park, New York 2010

Zum für mich Faszinierendsten gehört, sich dem Wandern des Lichts hinzugeben. Besonders eindrücklich lässt sich Tagesanfang und Nachtbeginn bei der Aufnahme des  Kreuzfahrtschiffs bei Robson Bight, Canada, 2016 verfolgen – nicht nur die Sonne geht da am Morgen auf, sondern auch die Fische kommen hervor. Ebenso beeindruckend empfand ich das in ganz unterschiedliches Licht getauchte Rockefeller Center in New York von 2013. Und dann das ausklappbare Bild von der Serengeti in Tanzania ebenfalls aus dem Jahre 2013 ... und und und ...

Day to Night lädt ein zu "one day at a time".

Stephen Wilkes
Day to Night
Taschen, Köln 2019

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