Wednesday, 8 July 2020

Pinselstriche

Sylvia Vetta schreibt seit 1998 für "The Oxford Times" über Kunst und Antiquitäten. Der Kontakt mit Künstlern um Ai Weiwei inspirierte sie zu dieser fiktiven Künstlerbiografie, in der sie die Künstlerin    'Kleiner Winter' im kalifornischen Berkeley ein Buch für ihre in Amerika geborene Tochter schreiben lässt. "Du warst ein so liebes Mädchen, Sara, aber Kinder mögen es nicht, wenn man ihnen etwas vorspielt. Deswegen wurdest du aufmüpfig, und ich wurde wütend. Dein Vater sagt, ich müsse meine Memoiren schreiben, dann würdest du meine Stimmungseinbrüche verstehen und nicht mehr versuchen, mir wehzutun."

Und so schreibt sie von der Indoktrination in der Schule, wie die Kinder angestiftet wurden einander zu denunzieren, gegen ihre Lehrer aufgehetzt und zum Führerkult abkommandiert wurden. Ich fühlte mich an meinen kanadisch-chinesischen Freund Chris erinnert, der mir, als wir zusammen in Quanzhou unterrichteten, von den 'agents provocateurs' während der Kulturrevolution erzählte, und mich darauf aufmerksam machte, dass sich diese Taktik nicht geändert habe.

Auch würden wir ständig überwacht, erläuterte Chris. Überdies gebe es in jeder Klasse einen Studenten, der  ein Spion sei. Die meisten meiner nicht-chinesischen Kollegen glaubten das nicht, ich hingegen schon. Ich hatte Angst und passte auf, was ich sagte und tat, reagierte sogar körperlich (mit Schwindel und Haarausfall) auf diese Atmosphäre der Einschüchterung, mit der man in China auf seinen Platz verwiesen wird.

Wer etwas von der Welt verstehen wolle, solle keine Zeitung mehr lesen, habe ich so oder ähnlich bei Peter Turrini gelesen. Ein Gedanke, der mich bei der Lektüre von Pinselstriche begleitet, denn nur wenn man versucht, sich in eines anderen Situation zu versetzen (in diesem Falle der fiktiven Erzählerin), kann man so in etwa ermessen, welchen Terror die Rote Garde in China ausübte.

Intellektuelle wurden aufs Land verbannt, 'Kleiner Winter' wird als Barfussärztin in die Mandschurei geschickt. Die Indoktrination war umfassen, wobei die  Regierungspropaganda auch groteske Züge annahm. So wurde die amerikanische Mondlandung als "schmutziges Projekt" bezeichnet, mit dem die Amerikaner "Geld anhäufen und das kapitalistische Projekt verbreiten wollen." Einige wehrten sich höchst originell: "Die Leute haben eine neue Protestform gefunden. Sie schalten ihre Fernseher aus." Von einigen Chinesen könnten wir viel lernen.

Pinselstriche schildert die Jahre von 1962 bis 2011. Wir lesen von der Viererbande, willkürlichen 'Gerichtsurteilen', Arbeitslagern, der einhundert Meter langen Mauer der Demokratie unter Deng ("Die Leute hängen Beschwerden über korrupte Beamte daran auf und werden nicht verhaftet.") sowie dass es sich beim Tian'anmen Platz um den grössten Platz der Welt (er fasst eineinhalb Millionen Menschen) handelt.

 Die Regierenden weltweit haben keine grosse Sympathie für idealistisch gesinnte Menschen. Wie unerbittlich die kommunistische Partei Chinas die Hoffnung vieler auf etwas Besseres bekämpft, zeigt Pinselstriche eindrücklich.

Als der Protagonistin mit vierzig Jahren erlaubt wird China zu verlassen, bemerkt sie: "Man sollte meinen, ich war glücklich, einfach nur frei zu sein. Doch das Leben ist nie so einfach."

Pinselstriche obwohl Fiktion, ist auch ein sehr realistisches Buch.

Sylvia Vetta
Pinselstriche
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2020

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