Wednesday, 18 October 2023

Land der Pässe

Berninapass

Neben den beeindruckenden Fotos von Richard von Tscharner enthält dieser sehr ansprechend gestaltete Band erläuternde Texte einer Politikerin, eines Kunst- und Kulturhistorikers, eines Offiziers sowie eines Baukonzernchefs, Leuten also, die sich auf die eine oder andere Art mit den Alpen auseinandergesetzt haben und, so nehme ich an, sich vermutlich kenntnisreich dazu äussern. Obwohl mir bewusst ist, dass dies nicht einfach ein Fotoband, sondern ein historisches Werk ist (dem auch historische Karten beigefügt sind), beschränke ich mich hier auf die Fotos, und zwar darauf, was sie bei mir auslösen. Und: Je weniger ich weiss, desto eher können mich Bilder überraschen.

Doch natürlich nähere ich mich diesem Band mit einem Vorwissen, das so recht eigentlich mehr den Gefühlen zuzurechnen ist. Die erste Assoziation: Ich bin einige Jahre in den Bergen zur Schule gegangen, im Kloster Disentis, und litt darunter, dass man nur rauf und runter, doch praktisch nie geradeaus gehen konnte. Die zweite Assoziation: Zwei Kommentare meiner kubanischen Ex-Frau: Suiza es un país de curvas und En Suiza nunca se ve el horizonte. Die dritte Assoziation: Ich fühle mich durch die Berge eingezwängt.

Derart voreingenommen lasse ich die Bilder nun auf mich wirken. Dabei sehe ich auch ganz anderes als was ich selber zum Bild bringe. Insbesondere den Gotthardpass habe ich so noch nie gesehen. Je länger ich jedoch bei dieser Aufnahme verweile, desto mehr spüre ich eine Vertrautheit mit dieser Art von Gegend, die ich vermeine so auch bei der Überquerung der Anden (auf der chilenischen Seite) wahrgenommen zu haben.

Gotthardpass

"Es war eine grosse Freude, die mythischen Täler, die zu den Pässen führen. mitsamt ihren malerischen Dörfern zu entdecken oder wiederzusehen. Meine Reise durch die Schweiz hat mich zudem durch die verschiedenen Jahreszeiten mit ihrer vielfältigen Farbenpracht geführt", so Richard von Tscharner im Nachwort. Damit beschreibt er, was Fotografie auch sein kann: Ein Augenöffner. Und dies meint: Erst wer wirklich hinsieht, beginnt zu sehen.

Die Kamera sei ein Instrument, das sie das Sehen gelehrt habe, meinte die amerikanische Fotografin Dorothea Lange. Und so ähnlich geht es mir mit den Bildern in diesem Band: Ich sehe eine Schweiz, die ich so nicht kenne. Klar, einiges schon, doch ganz vieles eben nicht. Selbst bei Aufnahmen, auf denen ich viel Vertrautes sehe, entdecke ich immer wieder Verblüffendes, Neues und Unerwartetes.

Fotos zu betrachten, bedeutet, die Welt mit den Augen eines anderen zu sehen; eine Welt zu entdecken, die man bisher nicht kannte. "Schau, was ich gerade gesehen habe", wird ein Fotograf ausrufen, oder "Schau, was mir meine Augen gerade gezeigt haben", eine Fotografin. Dabei spielt das Geschlecht, so scheint mir, weniger eine Rolle als die Persönlichkeit.

Fotografien zeigen uns nicht die Welt, wie sie ist, sondern einen point of view, wie er zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich gewesen ist. So zeigt mir Richard von Tscharner ein Acquacalda (Seiten 128/129), das ich nicht nur sehr eigen und originell finde (ich war auch schon vor Ort), sondern das bei mir Gefühle der Zuneigung auslöst. Warum? Nun ja, meine Gefühle fragen mich nicht nach meiner Meinung, manchmal sind sie so und manchmal anders. Doch als ich Zeit mit diesen beiden Acquacalda-Fotos verbrachte, wirkten sie so, wie ich sie gerade beschrieben habe.

Gute Naturfotografien zu betrachten verleitet einen auch immer zu fragen: Ist die Aufnahme so toll oder ist es das Abgebildete? Natürlich ist es beides, auch wenn die Kreativität der Natur derjenigen der Menschen bei weitem überlegen ist. Nur eben: Die meisten würden die kreative Natur ohne aufmerksame und geduldige Fotografen häufig gar nicht sehen.

Teufelsbrücke - Schöllenenschlucht

Bei einigen Bildern (wie etwa dem obigen von der Teufelsbrücke) wusste ich sofort, was ich vor Augen hatte, bei anderen wusste ich es nicht und fand es auch gar nicht nötig, es zu wissen, und bei noch anderen, wunderte ich mich, was ich da eigentlich vor Augen hatte. Wie bei vielen Fotografen sind auch bei Richard von Tscharner die Bildlegenden wenig aussagekräftig (Grimselpass {BE}, in Richtung Oberaar) und gelegentlich überflüssig (Mann allein auf einer Bergstrasse unterwegs). Wer mehr wissen will, muss zum Buchende vorblättern, wo er ab und zu aufschlussreiche Informationen darüber findet, wann und unter welchen Umständen eine Aufnahme zustande gekommen ist.

Eine Bildlegende ist mir aufgestossen. Da lese ich über einen Mann und eine Frau (vermutlich Asiaten), auf dem Nufenenpass von hinten beim Fotografien aufgenommen: "In sieben Tagen durch die Schweiz ...".  Weder erfährt man, ob der Fotograf die beiden kennt oder ob er mit ihnen gesprochen hat oder ob er einfach Vermutungen äussert. Andere Legenden sind ziemlich fantasielos, etwa ein Bild das Wolken prominent zeigt mit "Auf wolkigen Höhen" zu betiteln (auch weil auf vielen Aufnahmen Wolken zu sehen sind). 

Zu den für mich beeindruckendsten Bildern gehört der Staudamm Santa Maria am Lukmanierpass. "Unterhalb des erst 1968 fertiggestellten Staudamms Santa Maria, finden unzählige Ziegen nahrhaftes und frisches Weidegrass", informiert der Text dazu am Buchende. Ich war selber schon einige Mal auf dem Lukmanier, habe dort auch fotografiert, doch das absolut grandiose Bild, das Richard von Tscharner gesehen und gemacht hat, habe ich selber dort nicht gesehen.

Eine Zeitreise in die heutige Schweiz verspricht der Untertitel und das ist dieses Buch in der Tat, nicht zuletzt, weil im ersten Teil auch historische Aufnahmen zu finden sind, die bei mir den Eindruck von Ewigkeit hinterliessen. Auch diesbezüglich vermögen uns Fotografien zu täuschen, denn schliesslich wissen wir, dass alles in ständiger Veränderung begriffen ist.

Fazit: Eine eindrückliche, höchst willkommene visuelle (und damit emotionale) Horizonterweiterung, die einem eine gleichsam mythische Schweiz vor Augen führt, die sich einem nur erschliesst, wenn man sich Zeit dafür nimmt.

Richard von Tscharner
Land der Pässe
Eine Zeitreise in die heutige Schweiz
Scheidegger & Spiess, Zürich 2023

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