Wednesday, 27 December 2023

A Photo Shooting in Wollishofen





The above pictures were taken by Blazenka Kostolna on 12 July 2023 in her atelier in Zurich Wollishofen. I'm amazed how varied I look on these four shots – as if I were each time a different person. Needless to say, I am for the only permanent thing is change.

Wednesday, 20 December 2023

Ein guter Ethnologe

 Und schliesslich als letztes: der Paul (Feyerabend) ist für einen weitgespannten, wildbewegten Pluralismus und für neue, aufregende Gedanken und Erfahrungen, für die permanente geistige und sinnliche Revolution: möglichst viel ausprobieren, entwickeln, rumflippen, weitergehen, provozieren usw. Das ist mir alles irgendwo ein bissel zu heiss und zu schnell, da schwirrt mir der Kopf: lauter Schmetterlinge in Aufregung: Und auch zu viel – das ist wie auf der Achterbahn: kaum bist du oben geht’s wieder runter und dann reisst’s dich wieder aus den Pantinen. Ich glaube hingegen, wir haben auch die Sehnsucht danach auszuflippen aus der reissenden Zeit und aus der Veränderung, nicht immer wieder Neues und Besseres und schneller und höher und mehr und witziger und klüger und weiser. Sondern ein bissel Klugheit hier und ein bissel Witz dort und wiederum ein bissel Weisheit da.

Hans Peter Duerr: Satyricon

Ich glaube, man kann nur ein guter Ethnologe sein, wenn man keine zu festen Standpunkte hat. Bismarck hat einmal gesagt: „Ein Mensch mit Grundsätzen ist wie einer, der mit ’ner Stange im Maul durch den Wald rennt.“ Man braucht keine Grundsätze oder Standpunkte, sondern Empathie oder ein ‚feeling’, um es auf deutsch auszudrücken. Ich war eigentlich noch nie in einer Umgebung, in der ich das Gefühl gehabt hätte, die Leute nicht zu verstehen, weder unter Pennern, Nutten, Mannheimer Rentnern oder ostindonesischen Dorfbewohnern. Ich verstehe sogar die Leute auf den Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde, einmal vorausgesetzt, sie reden nicht über „Netzwerkanalyse“.

Hans Peter Duerr: Auf dem Zaun oder zwischen den Stühlen?

Ich glaube, ein Feldforscher sollte so wenig wie nur möglich in Erscheinung treten. Der beste Feldforscher, den ich kenne, ist meines Erachtens der Berliner Professor Hartmut Zinser. Als ich drei Monate nach seinem Aufenthalt in dem Dorf Belogili auf Flores nach ihm fragte, konnte sich niemand mehr an ihn erinnern.

Hans Peter Duerr: Auf dem Zaun oder zwischen den Stühlen?

Wednesday, 13 December 2023

Sturm über New Orleans

Sturm über New Orleans“ ist ein Dave-Robicheaux-Krimi. Mit diesem Robicheaux sei er seit 1987 zusammen, schreibt der Autor James Lee Burke in seinem Gruss an seine deutschen Leser. Er sei kein perfekter Mann, sondern einer mit seinen Schwächen, Sünden und Dämonen. Einer, der versuche, das Richtige zu tun. Das ist besonders schwierig in einer Situation, in der die dünne Schicht angelernten sozialen Verhaltens von ganz vielen Menschen abfällt, sie zu Tieren und Killern werden. So war das, als im Jahre 2005 New Orleans von dem Hurrikan Katrina verwüstet wurde.

Was damals in New Orleans geschah, das war nicht nur eine Naturkatastrophe, das war das grösste Versagen einer Regierung, der denkbar grösste Verrat an der eigenen Bevölkerung. Es war ein Verbrechen. Eine nationale Schande.“

Das erfüllt James Lee Burke mit Wut, grosser Wut. Dieses Buch hat er geschrieben, um diese Wut herauszulassen. Und um dazu beizutragen, dass, was damals geschehen ist, nicht vergessen wird. „Sturm über New Orleans“ ist ein eindrückliches, aufwühlendes und eindringliches Buch.

Dave Robicheaux von der Sheriff-Dienststelle, Vietnam-Veteran und trockener Alkoholiker („Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Aber bei den Anonymen Alkoholikern diskutiert man nicht mit Betrunkenen.“), soll einen drogensüchtigen Priester finden und die Vergewaltigung eines jungen Mädchens aufklären, während um ihn herum die Zivilisation zusammenbricht. „Die völlige Wehrlosigkeit der Stadt war es, die uns überwältigte. Das Stromnetz war zerstört und im St. Bernard und Orleans Parish war die gesamte Wasserversorgung zusammengebrochen. Die Pumpen, die das Wasser aus den Gullys pressen sollten, waren ihrerseits überflutet und nutzlos. Gasleitungen brannten unter Wasser und gelegentlich schossen Flammen aus dem Boden und schleuderten in Sekundenschnelle hunderte von versengten Blättern eines uralten Baumes in den Himmel. Die ganze Stadt war binnen einer Nacht auf den technologischen Stand des Mittelalters zurückgeworfen worden.“

Plünderungen sind an der Tagesordnung, die Begleichung alter Rechnungen ebenso. Wie jede Katastrophe so brachte auch diese nicht nur das Beste in einigen, sondern auch das Primitivste in anderen hervor. „Laut der ‚Washington Post‘ hatte ein Abgeordneter in Baton Rouge einer Gruppe von Lobbyisten erklärt: ‚Endlich sind wir den sozialen Wohnungsbau in New Orleans los. Wir haben es nicht geschafft, aber Gott‘.“

Es sind apokalyptische Zustände, die James Lee Burke in „Sturm über New Orleans“ beschreibt:
„Das Geschäft mit Schusswaffen und Munition florierte … Das alte Schreckgespenst des Südens war wieder da, nackt, roh und geifernd – der totale Hass auf die Ärmsten der Armen … Am schlimmsten litten die Tiere. Allein in den Bezirken Vermillion und Cameron ertranken schätzungsweise hunderttausend Rinder. Sie drängten sich auf Galerien, versuchten auf Traktoren und Zuckerrohrwagen zu klettern und landeten sogar auf Dächern. Aber sie ertranken dennoch.“

„Sturm über New Orleans“ ist ein vielschichtiger Krimi (bei dem unter anderem Kleinkriminelle sich ungewollt mit grösseren Kriminellen anlegen), der auch eine sehr gut geschriebene Reportage ist. James Lee Burke ist ein grosser Menschenkenner und hat mit diesem lebensweisen Buch eine der spannendsten, aufwühlendsten und überzeugendsten Sozialreportagen geschrieben, die ich kenne.

James Lee Burke
Sturm über New Orleans
Pendragon, Bielefeld 2015

Wednesday, 6 December 2023

Conversations in Varese

 Recently, on a trip to Varese, I spent two and a half hours in a beauty parlour that offered manicure and pedicure. The manicure was performed by a 17year-old Varese native who said to prefer Rom to Milan because the Romans seemed warmer to her. In charge of the pedicure was a Brazilian in her forties who disliked Rome because it was as chaotic as Recife where she hailed from. I've got enough chaos in my head, she said, I definitely do not need more. It goes without saying that I could easily relate ...

My initial plan had been to walk from the train station to my hotel (45 minutes) and then to explore the town with my camera. I do not know what made me ask at the reception for a beauty parlour nearby but when I felt ready to explore the town the receptionist had already booked me a session. The one and a half hours before the scheduled time I walked around the neighbourhood and photographed flowers, trees and leaves. 

Varese, Italy, 28 November 2023

In my younger years I would have probably judged the differing views of the young Italian and the middle-aged Brazilian in terms of culture. Nowadays I believe one's personality and age are more important factors. Young people generally do seem to want what they do not have while older people aren't too interested in being somebody else. In the end, however, it very likely all boils down to character.

I very much enjoyed my time at the beauty parlour. I guess it has mainly to do with the fact that I wasn't prepared to learn about the dreams of a young Italian who looked forward to visit Las Vegas. Why's that?, I asked. Because her parents got married there. London was also on her list. Because of the late Queen. And, I wasn't prepared at all for a philosophical conversation with a woman from Recife (my very first Brazilian town in 2006) who ended up in a valley in Northern Italy where she missed the horizon. Yes, she remarked, it is crazy to look for stability while knowing that it doesn't exist. But it is an entirely different story if people depend on you.

It was sunny, the sky blue, the leaves golden, when I left Varese for Mendrisio. The sun was still shining while the bus crossed the snow covered San Bernardino and I listened to rock music from the seventies – it felt just great, for moments, that is, for moments is all we have to enjoy.

Varese, Italy, 28 November 2023

Wednesday, 29 November 2023

Bob Dylan

Mit Bob Dylan verbinde ich ganz vieles, und das meiste ist mir gar nicht bewusst. Was ich automatisch mit ihm assoziiere: Ein ungemein begabter Songwriter, der nicht singen kann oder genauer: über eine Stimme verfügt, die ich nicht mit einem guten Sänger in Verbindung bringe. Viele seiner Songs haben mich durch meine Jugend begleitet, My Back Pages, Mister Tambourine Man , The Times They Are A-Changin' kann ich auch heute noch auswendig.

Sein Leben nacherzählen könnte ich hingegen nicht, obwohl ich einige seiner Phasen am Rande mitgekriegt habe. Und dass er den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat, machte mir bewusst, dass ich mich nie wirklich mit seinen Texten auseinandergesetzt habe – und als ich dann einen halbherzigen Versuch machte, blieben mir die wenigsten verständlich.

Sich auf dieser Grundlage mit dem vorliegenden Werk zu beschäftigen, ist ungemein bereichernd, vor allem, weil sich anhand dieses Menschen eine Zeit erfahren lässt, die für viele von Aufbruchsgefühlen geprägt war. Nichts gab den damaligen Sehnsüchten besser Ausdruck als Folk und Rock 'n' Pop. Und kaum einer symbolisierte dieses Gefühl, dass es da noch etwas anderes gab, als was Schule und Berufsleben zu bieten hatten, eindrücklicher.

Mir geht es nicht so sehr um die Person Bob Dylan – ich halte Personen-Kult für ungesund, besonders für die Person, die gefeiert wird – , sondern darum, was er exemplarisch verkörpert: In ihm verkörpert sich das Empfinden eines grossen Teils seiner wie auch früherer und späterer Generationen, denn in ihm zeigte sich, was viele von uns ausmacht. Rebellion, seinen eigenen Weg gehen, die Verbindung zu etwas Grösserem als wir alleine sind.

Douglas Brinkley schreibt, Dylan sei ein aussergewöhnlich gebildeter Mann, der Dummköpfe nur schlecht ertrage. Was mir dieses schöne Zitat von ihm in Erinnerung ruft: „Als 'Hound Dog' im Radio lief, war meine Reaktion nicht: 'Wow, was für ein toller Song, wer den wohl geschrieben hat?' Mir war im Grunde gleichgültig, wer ihn geschrieben hat. Es war egal. Er war einfach ... er war einfach da.“ Auch seine Antwort auf die Frage, ob er glaube, was einige behaupteten, dass Jim Morrison in den Anden lebe, machte mich schmunzeln: "Ich habe bisher nicht das Bedürfnis gehabt, mir dazu eine Meinung zu bilden ...“.

Viele ganz unterschiedliches Essay finden sich in diesem voluminösen Band. Derjenige von Michael Ondaatje wird von drei ganz wunderbaren Zitaten eingeleitet, von den das von Brenda Hillmam das Phänomen Dylan schön charakterisiert: Ist das nicht immer so? Irgendetwas Unkontrollierbares wird zum Helden ...".

Bob Dylan ist ein ungemein wandelbarer Mensch, eine Art work in progress, der wie viele andere auch, sich als junger Mann an sich selber herantastet. Den damals 19Jährigen beschreibt Greil Marcus so: "Zu hören ist jemand, der sich zu einer Haltung vortastet, aus der heraus Lieder nicht länger respektvoll verehrt, sondern als Weg begriffen werden, auf dem Man Schritt für Schritt herausfindet, wonach man eigentlich sucht."

Die Texte in diesem Band sind so vielfältig wie Dylan als Person. Da kommt der Sammler zu Wort, da erfährt man, dass viele Rohentwürfe zu Dylan-Songs sich auf Hotel-Briefpapier finden und freut sich an dem hellsichtigen Dylan-Satz: "If there's an original thought out there, I could use it right now!" Nichts könnte schöner illustrieren, dass sich in Bob Dylan manifestiert, was irgendwo dort draussen (und vermutlich in uns allen) schlummert.

Bob Dylan. Mixing up the Medicine ist ein ungemein faszinierendes Dokument mit ganz vielen Fotos, Briefen von Bill Clinton und Jimmy Carter, einer Auflistung von Ehrungen und Preisen, Notizbüchern, Konzertberichten und und und ....Es ist genau, was das Buch auch so ausweist: Das Bob Dylan-Archiv 1941 bis heute. Ein Sammelsurium der Extraklasse! 

Ein Buch zum Blättern und zum Verweilen, eine Einladung zu einer Zeitreise, die einen anregt, sich der Musik des Robert Allen Zimmerman aus Duluth, Minnesota hinzugeben.

Bob Dylan
Mixing up the Medicine
Herausgegeben und verfasst von Mark Davidson und Parker Fishel
Droemer, München 2023

Wednesday, 22 November 2023

On Language and Character

 The popular impression that a man alters his personality when speaking another tongue is far from ill-grounded. When I speak German to Germans, I automatically shift my orientation as a social being, I spontaneously adapt myself to the atmosphere characteristic of their status, outlook prejudices. The very use of the customary formulae of politeness injects a distinct flavor into the conversation, coloring attitudes and behavior. Some of these modes of expression, to be sure, are merely meaningless formulae, but by no means all. The retention of titles, in European fashion of example, colors mutual relations, as does the free and easy American way of dropping them altogether … Language is intimately interwoven with the whole of social behavior that a bilingual, for better or worse, is bound to differ from the monoglot.

Robert H. Lowie

On changing languages we do not change our character (Wesen), but our behavior (Verhalten) … In principle, the process is the same as in changing among two settings (Milieus) of the same language … We do not change our behavior (and even less our personality) because we change language, but we change language because we have to change our behavior in a new setting … Language is only a part of a larger behavioral complex.

Theodor W. Elwert

Wednesday, 15 November 2023

Staatenlos in Shanghai

Die gegenwärtigen Ereignisse in Israel und Gaza haben einen Antisemitismus sichtbar werden lassen, der offenbar nicht auszurotten ist. Als jemand, der historisch weder informiert, noch besonders interessiert ist (für mich ist Geschichtsschreibung weitestgehend Fiktion), bin ich immer wieder verblüfft, konstatieren zu müssen, dass der Antisemitismus eine lange Tradition hat. Mir persönlich ist er unbegreiflich; die möglichen Gründe dafür interessieren mich nicht, denn Gründe erklären nichts, Obwohl uns unser Hirn etwas anderes vormacht.

Benjamin, der Vater der Autorin Liliane Willens, wurde 1894 in der Ukraine geboren, "zu einer Zeit, als wirtschaftliche und soziale Unruhen Russland erschütterten und antisemitische Pogrome vom Zar gefördert wurden." Benjamin floh, zuerst nach Wladiwostok, dann nach Harbin in der Mandschurei, und schliesslich nach Schanghai, wo er sich einen rumänischen Namen gab.

Zu der Zeit besass Shanghai exterritorialen Status. Zwei Drittel der Stadt wurden von den Briten, Amerikanern und Franzosen kontrolliert und verwaltet. "Die exterritoriale Stadt Shanghai stellte sich als Paradebeispiel der politischen und  kulturellen Diskriminierung des chinesischen Volkes heraus – zuerst durch die Westler, später durch die Japaner. Benjamin und Thaïs, obwohl staatenlos und den chinesischen Gesetzen unterlegen, konnten von den Vorteilen und den meisten Privilegien der Vertragsmächte profitieren, einfach nur deswegen, weil sie ethnisch 'Weisse' waren."

.Die 1927 in Shanghai geborene Liliane Willens beschreibt die vielfältigen Aspekte dieser Stadt, die damals ein internationales Potpourri von Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen war. Ein melting pot war es jedoch nicht, denn betont wurde, was sie voneinander unterschied.

Es ist dieser interkulturelle Aspekt, der mich an diesem Buch interessiert. Die westliche Vorstellung der Integration scheint den Chinesen fremd. Und nicht nur den Chinesen. Man bemüht sich, seine Traditionen  zu pflegen; der Vater bestand darauf, "unser Zuhause ansatzweise koscher zu halten." Das Bedürfnis, sich voneinander abzugrenzen, trieb gelegentlich eigenartige Blüten.

"Um in das andere Settlement zu gelangen, mussten Passagiere von den französischen, elektrischen Strassenbahnen und Autos in die britischen Tram und Doppeldeckerbusse wechseln. Dort galt auch ein anderer Tarif. Glücklicherweise traf die französische Kommunalverwaltung nicht die Entscheidung, in ihrer Konzession zum Rechtsverkehr zu wechseln, wo doch die Briten in allen ihren Kolonien den Linksverkehr eingeführt hatte."

Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, dass es deutlich macht, dass es Flüchtlinge (pauschal gesehen) nicht gibt, sondern nur gänzlich individuelle Schicksale. Menschen mit Geld werden anders behandelt als Menschen ohne; die Hierarchien innerhalb einer Kultur leben weiter, auch wenn man fliehen muss. Und die Privilegien, die einem die Zugehörigkeit zu einer Staatsangehörigkeit verschafft, werden immer mal wieder schamlos ausgenutzt. So veranstaltete ein Franzose ein Heidenspektakel. als ihm die kleine Liliane versehentlich Wasser übers Haupt schüttete. "Meine Eltern entschuldigten sich wortreich und schimpften mit mir, aber ich hörte, wie meine Mutter einer Freundin am Telefon sagte, dass der fragliche Franzose auf der Suche nach einer Wohnung für seine Mätresse, eine Weissrussin, sei, und sich unsere Wohnung ausgezeichnet als Liebesnest eignen würde."

Staatenlos in Shanghai erzählt nicht nur davon, wie Liliane Willens in China aufwuchs, sondern auch davon, wie Juden immer wieder gezwungen werden, sich an neuen und fremden Ort anzusiedeln. Von den 15 Millionen, die es weltweit gibt, leben 7 bis 8 Millionen in Israel, die anderen anderswo auf der Welt. Ein erstaunliches Volk!

Liliane Willens
Staatenlos in Shanghai
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2023

Wednesday, 8 November 2023

The Myth of the Moral Modern Germany

When referring to the Germans, I do not mean the ones I know – a phrase that I often use when employing a stereotype like the Germans –  came to mind when reading the introduction to Nazis All the Way Down: "We're not talking about the individuals when we talk about Nazis today." What also came to mind was my utter disbelief when most recently the Bavarian politician Aiwanger became even more popular when it was revealed that he was undoubtedly an antisemite in his youth. In his youth? Come on ... seems to be a common reaction that should probably demonstrate how tolerant one believes to be. Well, I belong to the ones who believe people do not change until they must (see also here).

The only thing we learn from history is that we learn nothing from history, Hegel famously said. Zachary and Katharina F. Gallant see this differently  they argue that a real Aufarbeitung is needed to prevent future atrocities of the kind experienced during World War II. What so far has happened was at best "Memorial Theater".

The authors of this tome are guided by Santayana's quote, written above Block 4 of the Auschwitz death camp: "Those who cannot remember the past are condemned to repeat it." True, the official Germany makes quite some efforts in this regard yet, as Zachary and Katharina F. Gallant point out, the officials however fail to really address what needs to be addressed: the system that made Nazi Germany possible and makes, largely, modern Germany possible.

Social systems in order to properly function rely on major industries. In other words: that Bahlsen, Melitta, Edeka, Dr. Oetker etc. supported and in turn profited from the Nazis is hardly a surprise; neither is it surprising that they are influential contributors to, and profiteers from, the present German system. The reason is simple: We never condemn a system, we condemn persons. As the authors state:  

"Everything was Hitler's fault, the narrative goes: and with Hitler gone and the Nazi party defeated, the only goal is ensuring 'Never again.' But Hitler didn't produce Zyklon-B and profit off of its use in the murder of millions: Degesh, Degussa, Henkel, and IG Faben did. Hitler didn't rip the shares of major companies from their Jewish owners, ... major German businesses did ... And it wasn't Hitler who took over houses and properties that had belonged to Jews through Aryanization, it was everyday Germans, many of whose families still live in those homes today."

I've rarely read anything more sobering in regards to the so-called Aufarbeitung. Our human tendency to personalise everything is troubling, our inability to accept that we've become slaves of the industries and institutions that we've created is destructive.

Zachary and Katharina F. Gallant do an excellent job in highlighting our present day predicament. "... as profits associated with the Shoah are being used to finance schools, hospitals, and refugee projects, and these profiteer families and companies remain the largest financiers of Germany's most major political parties, who among us is not benefitting from the late impact of the genocide?"

I must admit that the fact that the same industries that profited from the Nazi regime are now important contributors to the present regime does not come as a surprise for in societies in which profit trumps everything, this – sadly  is to be expected. But of course: What needs to be corrected, has to be corrected. 

One way to go about it is to see "Reform as a Moral, not Legal, Obligation". In former times, people understood laws to be God given. Well, they are not – they are the result of the efforts of dominant pressure groups – although they are often treated as if they were God given and could not be changed. This is of course utter nonsense. "At times in history when the law is immoral, the only moral choices are to break or to change the law." This is common sense. Sadly, it  is not very common.

Zachary Gallant
Katharina F. Gallant
Nazis All the Way Down
The Myth of the Moral Modern Germany
Westend, Frankfurt am Main 2023

Wednesday, 1 November 2023

Unsere Medienzivilisation

Man muss die Medienzivilisation wohl einmal für lange Zeit – für Monate oder Jahre – völlig verlassen haben, um bei der Rückkehr wieder so zentriert und konzentriert zu sein, dass man die erneute Zerstreuung und Dekonzentration durch Teilnahme an den modernen Informationsmedien bewusst bei sich selbst beobachten kann. … Wir halten es inzwischen für normal, dass wir in den Illustrierten – fast wie in einem alten Welttheater – alle Regionen hart nebeneinander finden, Berichte über Massensterben in der Dritten Welt zwischen Sektreklamen, Reportagen über Umweltkatastrophen neben dem Salon der neuesten Automobilproduktion. Unsere Köpfe sind dazu trainiert, eine enzyklopädisch breite Skala von Gleichgültigkeiten zu überblicken – wobei die Gleichgültigkeit des Einzelthemas nicht ihm selbst entspringt, sondern seiner Einreihung in den Informationsfluss der Medien. Ohne ein jahrelanges Abstumpfungs- und Elastizitätstraining kann kein menschliches Bewusstsein mit dem zurechtkommen, was ihm beim Durchblättern einer einzigen umfangreichen Illustrierten zugemutet wird; und ohne intensive Übung verträgt keiner, will er nicht geistige Desintegrationserscheinungen riskieren, dieses pausenlose Flimmern von Wichtigem und Unwichtigem, das Auf und Ab von Meldungen, die jetzt eine Höchstaufmerksamkeit verlangen und im nächsten Augenblick total desaktualisiert sind.

Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft.

Wednesday, 25 October 2023

Palm Patterns

Santa Cruz do Sul, Brazil, 5 December 2021
Santa Cruz do Sul, Brazil, 9 December 2021
Santa Cruz do Sul, Brazil, 17 December 2021

Wednesday, 18 October 2023

Land der Pässe

Berninapass

Neben den beeindruckenden Fotos von Richard von Tscharner enthält dieser sehr ansprechend gestaltete Band erläuternde Texte einer Politikerin, eines Kunst- und Kulturhistorikers, eines Offiziers sowie eines Baukonzernchefs, Leuten also, die sich auf die eine oder andere Art mit den Alpen auseinandergesetzt haben und, so nehme ich an, sich vermutlich kenntnisreich dazu äussern. Obwohl mir bewusst ist, dass dies nicht einfach ein Fotoband, sondern ein historisches Werk ist (dem auch historische Karten beigefügt sind), beschränke ich mich hier auf die Fotos, und zwar darauf, was sie bei mir auslösen. Und: Je weniger ich weiss, desto eher können mich Bilder überraschen.

Doch natürlich nähere ich mich diesem Band mit einem Vorwissen, das so recht eigentlich mehr den Gefühlen zuzurechnen ist. Die erste Assoziation: Ich bin einige Jahre in den Bergen zur Schule gegangen, im Kloster Disentis, und litt darunter, dass man nur rauf und runter, doch praktisch nie geradeaus gehen konnte. Die zweite Assoziation: Zwei Kommentare meiner kubanischen Ex-Frau: Suiza es un país de curvas und En Suiza nunca se ve el horizonte. Die dritte Assoziation: Ich fühle mich durch die Berge eingezwängt.

Derart voreingenommen lasse ich die Bilder nun auf mich wirken. Dabei sehe ich auch ganz anderes als was ich selber zum Bild bringe. Insbesondere den Gotthardpass habe ich so noch nie gesehen. Je länger ich jedoch bei dieser Aufnahme verweile, desto mehr spüre ich eine Vertrautheit mit dieser Art von Gegend, die ich vermeine so auch bei der Überquerung der Anden (auf der chilenischen Seite) wahrgenommen zu haben.

Gotthardpass

"Es war eine grosse Freude, die mythischen Täler, die zu den Pässen führen. mitsamt ihren malerischen Dörfern zu entdecken oder wiederzusehen. Meine Reise durch die Schweiz hat mich zudem durch die verschiedenen Jahreszeiten mit ihrer vielfältigen Farbenpracht geführt", so Richard von Tscharner im Nachwort. Damit beschreibt er, was Fotografie auch sein kann: Ein Augenöffner. Und dies meint: Erst wer wirklich hinsieht, beginnt zu sehen.

Die Kamera sei ein Instrument, das sie das Sehen gelehrt habe, meinte die amerikanische Fotografin Dorothea Lange. Und so ähnlich geht es mir mit den Bildern in diesem Band: Ich sehe eine Schweiz, die ich so nicht kenne. Klar, einiges schon, doch ganz vieles eben nicht. Selbst bei Aufnahmen, auf denen ich viel Vertrautes sehe, entdecke ich immer wieder Verblüffendes, Neues und Unerwartetes.

Fotos zu betrachten, bedeutet, die Welt mit den Augen eines anderen zu sehen; eine Welt zu entdecken, die man bisher nicht kannte. "Schau, was ich gerade gesehen habe", wird ein Fotograf ausrufen, oder "Schau, was mir meine Augen gerade gezeigt haben", eine Fotografin. Dabei spielt das Geschlecht, so scheint mir, weniger eine Rolle als die Persönlichkeit.

Fotografien zeigen uns nicht die Welt, wie sie ist, sondern einen point of view, wie er zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich gewesen ist. So zeigt mir Richard von Tscharner ein Acquacalda (Seiten 128/129), das ich nicht nur sehr eigen und originell finde (ich war auch schon vor Ort), sondern das bei mir Gefühle der Zuneigung auslöst. Warum? Nun ja, meine Gefühle fragen mich nicht nach meiner Meinung, manchmal sind sie so und manchmal anders. Doch als ich Zeit mit diesen beiden Acquacalda-Fotos verbrachte, wirkten sie so, wie ich sie gerade beschrieben habe.

Gute Naturfotografien zu betrachten verleitet einen auch immer zu fragen: Ist die Aufnahme so toll oder ist es das Abgebildete? Natürlich ist es beides, auch wenn die Kreativität der Natur derjenigen der Menschen bei weitem überlegen ist. Nur eben: Die meisten würden die kreative Natur ohne aufmerksame und geduldige Fotografen häufig gar nicht sehen.

Teufelsbrücke - Schöllenenschlucht

Bei einigen Bildern (wie etwa dem obigen von der Teufelsbrücke) wusste ich sofort, was ich vor Augen hatte, bei anderen wusste ich es nicht und fand es auch gar nicht nötig, es zu wissen, und bei noch anderen, wunderte ich mich, was ich da eigentlich vor Augen hatte. Wie bei vielen Fotografen sind auch bei Richard von Tscharner die Bildlegenden wenig aussagekräftig (Grimselpass {BE}, in Richtung Oberaar) und gelegentlich überflüssig (Mann allein auf einer Bergstrasse unterwegs). Wer mehr wissen will, muss zum Buchende vorblättern, wo er ab und zu aufschlussreiche Informationen darüber findet, wann und unter welchen Umständen eine Aufnahme zustande gekommen ist.

Eine Bildlegende ist mir aufgestossen. Da lese ich über einen Mann und eine Frau (vermutlich Asiaten), auf dem Nufenenpass von hinten beim Fotografien aufgenommen: "In sieben Tagen durch die Schweiz ...".  Weder erfährt man, ob der Fotograf die beiden kennt oder ob er mit ihnen gesprochen hat oder ob er einfach Vermutungen äussert. Andere Legenden sind ziemlich fantasielos, etwa ein Bild das Wolken prominent zeigt mit "Auf wolkigen Höhen" zu betiteln (auch weil auf vielen Aufnahmen Wolken zu sehen sind). 

Zu den für mich beeindruckendsten Bildern gehört der Staudamm Santa Maria am Lukmanierpass. "Unterhalb des erst 1968 fertiggestellten Staudamms Santa Maria, finden unzählige Ziegen nahrhaftes und frisches Weidegrass", informiert der Text dazu am Buchende. Ich war selber schon einige Mal auf dem Lukmanier, habe dort auch fotografiert, doch das absolut grandiose Bild, das Richard von Tscharner gesehen und gemacht hat, habe ich selber dort nicht gesehen.

Eine Zeitreise in die heutige Schweiz verspricht der Untertitel und das ist dieses Buch in der Tat, nicht zuletzt, weil im ersten Teil auch historische Aufnahmen zu finden sind, die bei mir den Eindruck von Ewigkeit hinterliessen. Auch diesbezüglich vermögen uns Fotografien zu täuschen, denn schliesslich wissen wir, dass alles in ständiger Veränderung begriffen ist.

Fazit: Eine eindrückliche, höchst willkommene visuelle (und damit emotionale) Horizonterweiterung, die einem eine gleichsam mythische Schweiz vor Augen führt, die sich einem nur erschliesst, wenn man sich Zeit dafür nimmt.

Richard von Tscharner
Land der Pässe
Eine Zeitreise in die heutige Schweiz
Scheidegger & Spiess, Zürich 2023

Wednesday, 11 October 2023

Peter Mathis: Berge

Meine Reaktion beim ersten Durchblättern: Magisch! Gefolgt von dem Gedanken: Einige der Bilder sehen ähnlich aus, wie Bilder meiner Handy-Kamera, und das meint: Nicht so, wie es mein Auge wahrnimmt. Nun gut, was man mit blossem Auge und was man durch eine Kameralinse sieht, ist immer etwas anderes. Doch das ist noch einmal eine andere Geschichte. Hier will ich dies sagen: Mir scheint, die Kamera des Peter Mathis macht aus dem, was sich vor der Kamera befunden hat, etwas Anderes, Neues. Diese Fotos bilden die Realität nicht ab, diese Fotos schaffen sie.

Natürlich kann ich das nicht mit Sicherheit behaupten, denn weder kenne ich Peter Mathis, noch ist mir die Art und Weise, wie er fotografiert, geläufig. Ein klein wenig weiss ich hingegen schon, weil er beschreibt, worum es ihm beim Fotografieren geht. "Ich mache das Bild genau so, wie ich es mir vorgestellt habe." Er fotografiert also das Bild in seinem Kopf.

Fotos bilden die Welt nicht ab, wie viele glauben, sie kreieren eine eigene, eine fotografierte. Das ist uns selten bewusst, da uns die fotografierte Welt real erscheint. Nur eben: Sie ist es nicht, denn sie reduziert eine dreidimensionale Realität auf zwei Dimensionen, zudem fehlen der fotografierten Welt sowohl die Geräusche als auch die Gerüche.

Die Bergwelt des Peter Mathis macht mich staunen, sie erfüllt mich mit Ehrfurcht. Der Gedanke an Kunst, die der Verfasser des Geleitwortes, Malte Roeper, mit diesen Aufnahmen verbindet, stellt sie bei mir hingegen nicht ein. Für mich sind Fotografen keine Künstler, auch wenn ich die Bilder, die sie machen, manchmal als Kunstwerke gelten lassen würde. Im Falle der Berg- und der Landschaftsfotografie ist jedoch für mich die Natur die Künstlerin; das Verdienst des Fotografen ist, dass er uns darauf aufmerksam macht.

Die Aufnahmen in diesem prachtvollen Band erfolgten in verschiedenen Teilen der Welt, bei einigen hat Peter Mathis beschrieben, unter was für Umständen und Wetterbedingungen sie entstanden sind. Mit diesen Informationen im Kopf betrachte ich die Bilder noch einmal anders als beim ersten Mal, als ich ohne Vorwissen die Fotos einfach auf mich habe wirken lassen. Jetzt glaube ich auch die Kälte, den Regen und den Wind wahrzunehmen.

Besonders angetan haben es mir die von Wolken umhüllten Gipfel. Und natürlich der Salar de Uyuni im bolivianischen Altiplano. Und dann das Matterhorn, das ich so noch nie gesehen habe. Und ... doch, Halt, Stopp, bevor ich hier noch alle anderen erwähne ...

Bücher haben bekanntlich ihre Zeit. Für Fotos gilt das genau so. Jedenfalls wirkten diese Aufnahmen bei jedem Betrachten wieder anders und neu, was natürlich auch von meinen Stimmungen abhängt. Was diese Bilder bei mir auch auslösen: Diese majestätische Natur ist so viel grösser als wir Menschen es sind, so viel beständiger und so viel unbegreiflicher.

Peter Mathis
Berge
Prestel, München°London°New York 2023

Wednesday, 4 October 2023

Das Buch der Abenteuer

Der erste Eindruck: Sehr schön gestaltet, im Schuber, was ich generell edel finde. Ein richtiges Buch also, ein Schmuckstück, weit mehr als nur ein simpler Gebrauchsgegenstand, und mit einem erhellenden Nachwort von Alexander Pechmann versehen, der die Autorin so charakterisiert: "Eine Frau, die sich nicht damit begnügte, eine von der Gesellschaft diktierte Rolle anzunehmen, sondern ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen gestaltete und eine Literatur schrieb, die sich an ihren persönlichen Idealen orientierte."

Elinor Mordaunt ist das Pseudonym der 1872 in Cotgrave, Nottinghamshire geborenen und 1942 in Oxford verstorbenen Evelyn May Clowes, die bereits nach wenigen Zeilen meine Sympathie hat, weil sie da unter anderem die Notwendigkeit preist, arbeiten zu müssen, um zu leben. Ein Lob des Müssens, so selten wie hellsichtig!

Eine unruhige, neugierige, aufmerksame und gescheite Frau ist diese Elinor Mordaunt, die sich zuhause, umringt von ihren Büchern, glücklich und zufrieden fühlt, auch wenn es sie ständig nach dem Neuen und Unbekannten drängt, über das sie unter anderem sagt: "Unterwegs ist man nie wirklich glücklich, es ist die Erinnerung, die glücklich macht."

Das Buch der Abenteuer ist ein höchst unterhaltsames Buch, bei dem allerdings eine meiner Grundüberzeugungen – dass es universelle Werte gebe  stark ins Wanken kommt. "Auf den Kiriwina-Inseln – wo ich einige glückliche und unvergessliche Wochen als Königin herrschte – hielt man es irgendwie für unanständig, seine toten Verwandten von Würmern auffressen zu lassen, wo man doch diesen letzten Dienst ebenso gut selber leisten könnte, und noch dazu mit Gewinn; auf den Fidschis hingegen hielt man es sogar in den wildesten Zeiten des Kannibalismus für überaus unsittlich, seine Verwandten aufzutischen, selbst die angeheirateten."

Andere Länder, andere Sitten, heisst es bekanntlich. In Marseille, "ein Zauberort, ein Schmelztiegel des Fremdartigen, des Schönen und der Schurkerei. Das Tor zum Orient; der Orient selbst, nicht in grellen Ölfarben gemalt, sondern in unendlich sanften Pastelltönen, die andeuten und locken, lächeln, anzüglich grinsen, drohen, verzaubern", versuchte sie ein Frachtschiff zu erreichen, was jedoch gar nicht so einfach war, auch weil alle, die sie fragte, behaupteten, sie wüssten ganz genau, wo dieses Schiff auslief, obwohl sie keine Ahnung hatten.

Dass man in der Fremde Erfahrungen macht, die man zuhause, obwohl sie auch dort möglich wären, selten einmal macht, erlebte sie ebenfalls in Marseille, wo sie einen Friseur aufsuchte, der ihr mit einem Duftwasser auf der Spitze seines Zeigefingers über ihre Wimpern strich, so dass sich diese nach oben bogen. "Da bin ich nun eine Frau mittleren Alters und habe mir noch nie die Wimpern formen lassen; ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass man meine Wimpern formen kann. Allzu viele Dinge werden einem erst viel zu spät im Leben bewusst."

Reisen bedeutet ja nicht zuletzt, Vergleiche mit dem Vertrauten und Gewohnten anzustellen. An Bord des Frachtschiffs auf dem Weg nach Guadeloupe stellte sie fest: "Es wird unaufhörlich geredet, gelacht und laut disputiert, niemand scheint zu murren, und ich glaube, dass andere Nationen ihrer schlechten Laune, die bei uns zur Verbitterung führt, Luft machen, indem sie laut schreien und wild gestikulieren, ohne dass etwas passiert."

Wer Panama besucht, wird auch den Kanal aufsuchen, deren eine Seite damals zur Republik Panama gehörte und 'nass' war, und deren andere Seite zur United States Canal Zone gehörte und 'trocken' war. Wie Elinor Mordaunt die beiden Seiten beschreibt, sagt einem mehr über die Amis bzw. die Panameños als viele noch so gescheite Bücher. Das liegt daran, dass sie es versteht, die Wirklichkeit gleichsam sinnlich erfahrbar zu machen

Elinor Mordaunt führt ihre Reise über die Karibik und Französisch-Polynesien nach Samoa, Tonga, Fidschi und schliesslich hach Sydney. Dabei lehrt sie einen das Staunen. So notiert sie über das Grün Tahitis: "Ich bin nun alt genug, um gelernt zu haben, nicht viel zu erwarten, und daher hätte ich niemals etwas erwarten können, das jegliche Erwartung im strahlenden Glanz der späten Nachmittagssonne übertrifft." Den Regen in Navua charakterisiert sie so: "Es regnete die ganze Nacht, als wäre direkt über uns einem Wassertank der Boden weggebrochen ...".

Es ist Elinor Mordaunts Lebensneugier, die dieses Buch auszeichnet. Und ihr Abenteuergeist, von dem sie schreibt: "Er hat nichts mit der Seele zu tun, die zur Religion gehört; obwohl es sich auch um eine Religion handelt, nämlich die derjenigen, die unablässig nach den schönsten und stärksten Erlebnissen suchen." Und natürlich ihr englischer Humor – es liegt lange zurück, dass mich ein Buch so zum Lachen gebracht hat.

Fazit: Vergnüglich und instruktiv.

Elinor Mordaunt
Das Buch der Abenteuer
mareverlag, Hamburg 2023

Wednesday, 27 September 2023

Fotografie im Journalismus

Wer glaubt, der Mensch sei ein vernunftgesteuertes Wesen, irrt gewaltig. Unter anderem lässt sich das auch an der Fotografie im Journalismus zeigen, wo der Bildanteil zunimmt, die Zahl der Bildredakteure abnimmt und festangestellte Fotografen in Redaktionen immer seltener werden. Absurder geht kaum, doch der Grund ist offensichtlich: Die Kosten. So recht eigentlich besteht der Irrsinn unserer Zeit darin, dass den meisten das Kostenargument einleuchtet. Und dass kaum jemand Zweifel daran hat, dass interessengeleitetes Geschäftsgebaren sinnvoll ist. Denkbar wäre natürlich auch, dass man sich der Sache verpflichtet orientiert und dabei Anstand und Moral nicht vergisst.

Der Fotojournalismus zeichnet sich dadurch aus, dass Foto und Text zusammengehören, was meint: aufeinander Bezug nehmen, sich ergänzen. Das zumindest ist das Ideal. In der Praxis sehe ich ihn selten, dort herrscht die Fotografie im Journalismus vor. Eine Unterscheidung, auf die Felix Koltermann zu Recht Wert legt.

"Von Oktober 2019 bis Oktober 2022 habe ich am Studiengang 'Visual Journalism and Documentary Photography' an der Hochschule Hannover ein Post-Doc-Forschungsprojekt über bildredaktionelle Praktiken im digitalen Zeitungsjournalismus geleitet", schreibt Felix Koltermann in seiner Einleitung zu Fotografie im Journalismus, das zum Ziel hatte, "zu verstehen, wie in den Redaktionen die Arbeit am Bild vonstatten geht und wie das publizierte Ergebnis dazu in Beziehung steht." Die in diesem Band vorgelegten Ergebnisse stammen hauptsächlich aus Interviews, Ortsbesuchen sowie von Bildkritiken. Ich will hier auf die Interviews etwas näher eingehen.

Es kommen insgesamt "zehn Personen zu Wort, die auf die eine oder andere Art und Weise Teil des Prozesses journalistischer Bildkommunikation sind. Die Gespräche drehen sich um die Frage, wie und an welcher Stelle die Einzelnen an diesem Prozess partizipieren und was deren Sicht auf zeitgenössische Fragen der Bildpublizistik ist." Dabei erfährt man unter anderem, dass heutzutage so recht eigentlich alles von den Kosten getrieben wird – was vermutlich niemanden wundert.

Zu den Fragen, die mich speziell interessierten, gehörte: "Was zeichnet gute Bildredakteur*innen aus?" Die Antworten darauf fand ich jedoch wenig ergiebig bzw. arg pauschal. Interesse am Weltgeschehen wie auch am Bild, vielfältige Erfahrungen und so weiter. Dazu gehört natürlich auch die Fähigkeit, das jeweils passende Bild zu finden, doch was dieses ausmacht, hat sich mir nicht erschlossen. 

Qualifiziert sollten die Bildredakteure sein, lese ich immer wieder. Ein Hochschullehrer spricht sich für Qualitätsjournalismus aus, doch abgesehen davon, dass er die New York Times erwähnt (die dem Florida-Golfer fast täglich eine Plattform gibt, wie übrigens auch Fox News), erläutert er nicht, was darunter zu verstehen ist – und Autor Koltermann fragt auch nicht nach. Zugegeben, Qualität zu definieren ist nicht einfach, doch man hätte diese ja auch mit konkreten Beispielen illustrieren können.

Konkret wird hingegen der Vorsitzende der Fachgruppe Bildjournalismus des bayerischen Journalisten-Verbandes, Thomas Geiger, der die fehlende Authentizität mit einem Artikel aus der Lokalzeitung illustriert, der "mit einem Adobe-Stockfoto mit asiatischen Kindern und einer asiatischen Lehrerin" bebildert war. Eine solche Praxis ist nicht nur hirnlos, sondern auch gefährlich, denn, so Sabine Pallaske, Vorsitzende der Mittelstandsgemeinschaft Fotomarketing: "Die Beliebigkeit von Agentur- und Symbolbildern trägt zu Beliebigkeit der Medien bei."

Besonders aufschlussreich fand ich das Gespräch mit der Bildredakteurin Maritta Iseler zum Thema "Schlagworte müssen das Bild auffindbar machen", das Autor Koltermann mit der schönen Bemerkung einleitet: "Es klingt paradox, aber ohne Text findet man keine Bilder". Die Datenbanksuche, so lerne ich, muss von Überlegungen zu Sinn und Zweck geleitet sein. "Wie soll ein Thema bebildert sein? Was will ich auslösen, was will ich damit sagen?" Wichtig ist unter anderem, dass die Verschlagwortung korrekt ist, auch unter ethischen Gesichtspunkten. Nicht nur der Kontext, sondern auch die Bildlegenden geben vor, wie ein Bild gelesen werden soll.

Fotografie im Journalismus regt dazu an, sich mit Pressebildern auseinanderzusetzen. Das ist vor allem deswegen vonnöten, da wir mittlerweile in Bildern geradezu ersaufen. Das Resultat ist: Wir lassen uns von Gefühlen dominieren, denn Bilder lösen zuallererst Gefühle aus. Sich den Bildern nicht einfach auszuliefern, verlangt, sich auch des eigenen Verstandes zu bedienen. Dazu liefert dieses Buch nützliche Beiträge.

PS: Bei der Lektüre ist mir auch immer wieder mein Thesis-Supervisor an der School of Media, Journalism and Cultural Studies der Universität Cardiff, Daniel Meadows, durch den Kopf gegangen, der auf meine Frage, ob ein Bildredakteur eigentlich technische Kenntnisse brauche, meinte, der seiner Meinung nach beste britische Bildredakteur könne bei einer Kamera kaum vorne und hinten unterscheiden. Was er jedoch habe, sei ein gutes Auge. Und natürlich auch alles andere, was einen guten Journalisten letztlich ausmacht: Neugier sowie die Fähigkeit, zu denken.

Felix Koltermann
Fotografie im Journalismus
Bildredaktionelle Praktiken in Print- und Online-Medien
Herbert von Halem Verlag, Köln 2023

Wednesday, 20 September 2023

Vernetzt heisst angreifbar

Dass wir überwacht werden, wissen wir; dass wir es den Überwachern leicht machen, ja, ihnen sogar behilflich sind, uns überwachen zu können, wissen wir auch. Irgendwie. Doch wirklich wissen tun wir es nicht, jedenfalls bin ich mir dessen nur selten bewusst. Und Konsequenzen hat es kaum. Zugegeben, ich rede von mir. Und so war ich denn auch höchst erstaunt, als ich las, was Mikko Hyppönen über Spam berichtete.

Meine Ausgangslage: Spam wird ignoriert. Auf keinen Fall soll auf eine Spam-Nachricht reagiert werden. Mikko Hyppönen und ein ihm bekannter Journalist beschlossen hingegen eine Reihe von Testkäufen zu machen. Sie würden in den Spam-Nachrichten beworbene Produkte kaufen und abwarten, was geschah. "Wir wollten auch testen, ob die für die Spam-Käufe benutzte Kreditkarte missbraucht würde und ob die E-Mail-Adresse auf anderen Spam-Listen landen würde."

Das Resultat überraschte die beiden (und mich sowieso): Sie bekamen, wofür sie bezahlt hatten. Die Kreditkarten gerieten, trotz Sicherheitsmängel auf der Spam-Internetseite, nicht in falsche Hände. Auch erhielten sie keine weiteren Spam-Nachrichten an die von ihnen angegebene E-Mail-Adresse.  

In den Anfängen des Internets tauchte auch Brain.A, das erste PC-Virus der Welt auf. Zum 25jährigen Jubiläum von Brain.A kontaktierte Mikko die Autoren des Brain-Virus und fragte an, ob sie sich treffen könnten. Ja, das sei möglich, erhielt er zur Antwort und machte sich nach Lahore, Pakistan auf, wo die drei Autoren lebten und arbeiteten. Die sehr gelungene Schilderung dieser Reise und dieser Begegnung allein, lohnt dieses Buchs.

Der Faktor Mensch, also wir alle mit unseren Voreingenommenheiten, die sich an dem orientieren, was wir kennen bzw. zu kennen glauben, treibt gelegentlich eigenartige Blüten. So wissen wir zwar, dass es keine gute Idee ist, für alle Dienste dasselbe Passwort zu benutzen – und tun es trotzdem. Und: "Ganz egal, wie oft du deinen Nutzern sagst, sie sollen nicht jeden E-Mail-Anhang öffnen, sie tun es typischerweise trotzdem." Weshalb denn auch Mikko Hyppönen rät, sich an sein Gesetz, das Hyppönen-Gesetz zu halten:  "Wenn es smart ist, ist es angreifbar." Oder: "Was vernetzt ist, ist angreifbar."

Mikko Hyppönen schreibt in diesem Buch von seinen 30jährigen Erfahrungen im Bereich der Informationssicherheit. Von den Anfängen des Internets über die Geschichte der Malwares bis zu Kryptowährungen und Cyberwaffen. Auch an Zukunftsvorhersagen wagt er sich – und er warnt.

 "Strafverfolgungsbehörden nutzen immer stärker Big Data, um vorherzusagen, wo und wann eine Straftat begangen werden wird. Das richtige Abwägen von Daten ist ein erhebliches Problem für alle KI-Systeme und führt zu eindeutigen Fällen von algorithmischem Rassismus. Die Systeme sagen oft voraus, dass Mitglieder von Minderheiten am ehesten Schwerverbrecher sind, wie der Strategic Subject Algorithm gezeigt hat, den das Chicago Police Department seit Jahren testet."

Viele von uns verbringen heutzutage fast mehr Zeit online als offline; ein Leben ohne Google ist für die meisten unvorstellbar.  *Google wird zwar häufig als Suchmaschine betrachtet, ist aber in Wirklichkeit die grösste Werbeagentur der Welt." Mit einem Gedächtnis, das nicht vergisst.

"In den Anfängen des Internets warnten Eltern ihre Kinder davor, das zu glauben, was sie dort sahen. Heute, wo das Internet zum Alltag gehört, scheinen Kinder Lügen im Internet viel besser zu erkennen als ihre Eltern." Was vernetzt ist, ist angreifbar ist reich an solch nützlicher Aufklärung.

Mikko Hyppönen
Was vernetzt ist, ist angreifbar
Wie Geheimdienste und Kriminelle uns im Netzt infiltrieren
Wiley, Weinheim 2023

Wednesday, 13 September 2023

Die Erinnerungsfotografen

Der erste Eindruck: Das ist ein klassisch japanisch schön gestaltetes Buch, das Cover und die rosa Schnittverzierung haben mich unmittelbar angesprochen.

Worum geht's? Herr Hirasaka betreibt ein Fotostudio an der Schwelle zum Jenseits, im Grenzbereich zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten. Hier zählen nur die Erinnerungen.

Hatsue ist zweiundneunzig und soll nun zweiundneunzig Fotos auswählen und anhand dieser zurück auf ihr Leben schauen. Eine faszinierende Idee, denn was anderes ist unser vergangenes Leben als eine Erinnerung? Und was könnte sie besser auslösen als ein Foto?

Neben Hatsue, die in jungen Jahren als Kinderbetreuerin gearbeitet hat, treten noch zwei weitere Personen auf: Herr Shohei Waniguchi, ein Yakuza, der mit einem Schwert erstochen, und Mitsuru, ein Mädchen, das von seinen Eltern missbraucht und zu Tode geprügelt worden war.

In dem Zwischenreich, in das die drei eintreten, können sie Erfahrungen machen, die ihnen in ihrem vorherigen Leben verwehrt waren. So wagte es einst niemand, Waniguchi zu nahe zu kommen, jetzt aber spazierten diese Leute einfach durch ihn hindurch. Mich erinnerte das auch an Hanno Kühnerts Roman Handbuch für Verstorbene, worin die Toten nach wie vor unter uns weilen, allerdings unsichtbar und mit nur einem Zehntel ihres ehemaligen Gewichts. Hirasaki erklärt: "Wenn Sie so wollen, sind wir beide jetzt nur noch Seelen. Wir sind nun substanzlose Wesen."

So faszinierend ich die Vorstellung einer solchen Zwischenwelt finde, mein Interesse an diesem Buch gilt der Fotografie. Und so habe ich zuerst einmal gestutzt, denn unter Erinnerungsfotografen konnte ich mir nicht wirklich viel vorstellen. Was, zum Beispiel, soll sie von Fotografen unterscheiden? Und überhaupt: Fotos dienen doch generell der Erinnerung.

Überaus spannend wird Mitsurus fotografische Herangehensweise geschildert. "Sie richtete die Kamera darauf. Das musste eine Mistel sein. Drei Vögel zogen in einer Reihe über den strahlend blauen Himmel. Mitsuru schaute ihnen nach. Sie hielt inne und lauschte ihren Rufen. die scharf durch die klare Luft hallten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass um sie herum ganz unbemerkt und bescheiden die ersten Wildkirschen blühten. Wieder setzte sie die Kamera an. Sie wollte es einfangen, das weiche, diffuse Leuchten der Sakurablüten im blauen Morgenhimmel. Sie betätigte den Auslöser, klick."

Die Schilderung zieht mich auch deshalb an, weil es das Fotografieren als das zeigt, was es selten ist, aber eben auch sein kann. Ein Aufmerksamwerden für den Augenblick. Meistens ist das Fotografieren etwas ganz anderes. Der Fotograf weiss, was er will und macht sich dann auf die Suche nach dem Bild, das er bereits im Kopf hat. Mitsurus Fotografieren ist das genaue Gegenteil: Sie lässt sich von dem leiten, was auf ihrem Weg liegt.

In diesem Buch geht es jedoch weniger um Fotos, sondern um die Möglichkeit, in die Vergangenheit zu reisen und das Foto, das seine Besucher ausgewählt haben, noch einmal neu aufzunehmen. Ihnen wird also erlaubt, etwas anderes zu sehen, als sie damals gesehen haben. Mit anderen Worten: Ein Foto zeigt immer etwas, das im selben Moment auch ganz anders gesehen werden kann.

Sanaka Hiiragi
Die Erinnerunsgfotografen
Hoffmann und Campe, Hamburg 2023

Wednesday, 6 September 2023

Die Konsensfabrik

Mir ist dieses Buch aus der Zeit meines Master-Studiums an der School of Journalism, Media, and Cultural Studies an der Universität Cardiff, 1999 war das, bekannt, doch was erinnere ich eigentlich? Grob gesagt: Dass zur Aufgabe der Massenmedien zentral gehört, die herrschenden Verhältnisse zu stabilisieren. Und das ist, wenn man es recht bedenkt, auch ganz logisch, denn worum es dem Menschen primär zu tun ist, ist Stabilität.

Dieses Master-Studium richtete sich übrigens an mid-career journalists und andere in den Medien Tätige, die lernen wollten, wie die Medien funktionierten. Der Blick von aussen war also gefragt und dieser fehlt denen, welche die Medien bedienen, zumeist. Dasselbe gilt übrigens für Lehrer, die meist ganz andere Ziele haben als die Schule als Institution, deren wichtigste Aufgabe es ist, die jungen Menschen mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut zu machen. Das ist meines Erachtens, entgegen den idealistischen Vorstellungen von Vierter Gewalt etc., auch die zentrale Aufgabe der Medien.

Die Konsensfabrik ist ein Klassiker und wird von drei Herausgebern verantwortet, die eine hilfreiche Einführung beigesteuert haben, die natürlich  was wären Akademiker ohne Begriffsbestimmungen! – auch eine Begriffserklärung für Propaganda liefert (was Herman und Chomsky unterlassen haben), gemäss welcher Public Relations, Öffentlichkeitsarbeit oder Strategische Kommunikation nichts anderes als Propaganda seien. Natürlich sagen sie es komplizierter, doch darauf läuft es in etwa heraus, schliesslich bedeutet propagare nichts anderes als verbreiten.

Wer sich einmal die Leute genauer ansieht, die bei den Medien Karriere machen, und sich dabei vor Augen hält, dass diese ihren Job vor allem der Eigenschaft verdanken, dass sie so denken und handeln wie alle anderen auch (und damit keine Gefahr für die herrschende Ordnung darstellen), der weiss, dass diese Leute das System verinnerlicht haben. Treffend halten die Herausgeber fest: 
"Die Autoren postulieren also nicht ein intentional propagandistisches Verhalten von Journalisten, sondern zeigen bestimmte Logiken und Zwänge auf, die für journalistisches Schaffen den Rahmen setzen und handlungsleitend sind." Das gilt nicht nur für Journalisten, das gilt für alle in einem (irgendeinem) System Tätigen.

Die Einführung weist übrigens auch darauf hin, dass vor allem wirtschaftliche Ungleichheiten sowie neoliberale Fantasien "politische Ohnmachts- und Entfremdungsgefühle erzeugen", was natürlich von den Massenmedien tunlichst nicht thematisiert wird, da sie die gesellschaftliche Stabilität gefährden könnten. Chomsky und Waterstone haben in Konsequenzen des Kapitalismus ausgeführt, dass diese Stabilität immer vor allem denen dient, die am meisten davon profitieren.

"Die Massenmedien fungieren als ein System zur Kommunikation von Botschaften und Symbolen an die Bevölkerung als Ganzes. Sie sollen belustigen, unterhalten und informieren sowie den Einzelnen die Werte, Meinungen und Verhaltensweisen vermitteln, die sie in die institutionellen Strukturen der Gesamtgesellschaft integrieren. In einer Welt, in der der Reichtum bei Wenigen konzentriert ist und in der gravierende Interessenskonflikte zwischen den Klassen bestehen, können sie diese Rolle nur durch systematische Propaganda ausfüllen."

Womit, jedenfalls für mich, so recht eigentlich alles gesagt wäre. Herman und Chomsky sehen das anders und bemühen 700 Seiten, um diesen Grundgedanken anhand konkreter Beispiele auszuführen. Von "den Wahlen" in El Salvador, Guatemala und Nicaragua in den 1980ern sowie der Rolle, die die Medien dabei spielten, lesen wir, und ich wundere mich, wie man glauben kann, man könne Wahlen in fremden Ländern beurteilen. Ich war selber bei den ersten gemischtrassigen Wahlen in Südafrika vor Ort und hatte den Eindruck, dass die Berichterstattung und meine eigene Erfahrung nicht einmal ansatzweise etwas miteinander zu tun hatten. Womit ich keineswegs sagen will, meine Version sei die richtige, sondern dass die Medien nur am Rande die Aufgabe haben, zu informieren. Mundus vult decipi, die Welt will betrogen sein, wussten schon die alten Römer.

Die Konsensfabrik ist weit entfernt davon eine Verschwörungstheorie zu sein, denn es sind die systeminhärenten Zwänge, die den Konsens garantieren, schliesslich weiss jeder Journalist, dass es eine bestimmte Art und Weise gibt, eine Geschichte zu erzählen, und er weiss auch, dass er mit gewissen Geschichten gar nicht erst aufzukreuzen braucht. Die Selbstzensur übertrifft jede andere Zensur. Dazu kommt – auch das ist ein allgemein menschliches Phänomen – , dass den meisten Journalisten gar nicht klar ist, dass sie die herrschende Ideologie verinnerlicht haben (sonst hätten sie ihren Job gar nicht bekommen) und die Welt aufgrund ihrer Konditionierungen beurteilen. Eindrücklich zeigen die Autoren dies etwa an der Berichterstattung über Laos und Kambodscha.

Journalismus, so eine seiner Definitionen, sei nichts anderes als die lautstarke Begleitung von Ereignissen, die auch ohne diese stattfinden würden. Daran haben mich die Schilderungen in Die Konsensfabrik immer wieder erinnert, denn weit davon entfernt (obwohl es gelegentlich vorkommt) eine korrigierende Macht zu sein, dienen die Medien (wie alle anderen Institutionen auch) den monetären Interessen, die alle anderen dominieren. Propagiert wird, sei es von den Schulen, den Supermärkten oder den Medien, was der herrschenden Ordnung (und damit den Geld-Interessen) dient.

Man kann sich natürlich fragen, welche Relevanz dieses Werk in Zeiten einer gänzlich veränderten Medienlandschaft noch haben kann. Nun ja, an den Machtstrukturen hat sich nichts geändert, die von Eigeninteressen geleitete Politik ist uns nach wie vor selbstverständlich, die Selbstzensur wird auch immer noch als Verhaltensideal gelehrt, und die Medien lenken in der Hauptsache unverändert davon ab, womit wir uns wirklich beschäftigen sollten. Nicht mit dem Mafioso aus Queens, sondern mit dem Klimawandel, wie besonders Chomsky nicht müde wird zu betonen.

Fazit: Grundsätzlich und wesentlich.

Edward S. Herman
Noam Chomsky
Die Konsensfabrik
Die politische Ökonomie der Massenmedien
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2023

Wednesday, 30 August 2023

The Nature of Personalities

 In school we learn about all these events, historical trends, stuff like that. But what we don’t learn – and probably can’t ever know – is the true nature of personalities. I mean we can read biographies – and if we’re lucky, personal letters – but the real interplay between individuals, the chemistry of aggression and submissiveness, pride and shame, sexual attraction – we can’t ever know that. That’s why it was so shocking to the country when they proved that Thomas Jefferson had children by his black slave. Suddenly he was no longer a granite figure on Mount Rushmore. He was just like us, you know? Feet of clay. We tell ourselves that we know everyone is human, but then we act as if we expect something else.

Greg Iles: Turning Angel