Wednesday, 10 June 2020

Die Welt der Stoffe

Immer mal wieder bin ich höchst verblüfft, dass ich über ganz viele Dinge noch gar nie nachgedacht habe. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass einige von ihnen allgegenwärtig sind und man selten sieht, was vor der eigenen Nase liegt. Klar doch, ich spreche von mir. Stoffe, zum Beispiel. Kleider, Bettlaken, Sofas, Handtücher, die Planen eines Zeltes, die gepolsterten Sitze im Zug. "All das besteht aus Stoff, gewebt, gefilzt oder gestrickt", schreibt Kassia St Clair, die Autorin des ganz wunderbaren Die Welt der Farben, in Die Welt der Stoffe, das 13 sehr unterschiedliche Geschichten enthält, welche die weitreichende Bedeutung von Stoffen verdeutlichen.

Von den Anfängen des Webens, vom Ein- und Auswickeln ägyptischer Mumien und der Seide im alten China, schreibt sie. Aber auch von der dunklen Vergangenheit der Viskose sowie Anzügen für den Weltraum. Und von den Wollsegeln der Wikinger. Hier nur soviel: "Die Geschichte der Entstehung der Wikingersegel beginnt – wie die meisten Geschichten über Wolle – mit Schafen."

À propos dunkle Vergangenheit der Viskose: Die Viskose ist eine künstlich hergestellte Faser aus Zellulose, die mit Natronlauge und Kohlenstoffdisulfid behandelt wird. Letzteres hatte schlimme Nebenwirkungen auf Körper und Psyche. "In West-Java wurde halbfertiger Viskosemüll um Dörfer herum gefunden, die in der Nähe einer grossen Viskosefabrik lagen. Und Firmen, die Marken wie Zara, H&M, Marks & Spencer, Levi's, Tesco und Eileen Fisher belieferten, wurden dabei ertappt, wie sie nachts illegal Fabrikabfall in Flüsse geleitet und damit zur Verseuchung und Vergiftung des Grundwassers beigetragen haben."

Die Welt der Stoffe machte mich auch immer wieder staunen. Etwa darüber, wie raffiniert die alten Ägypter die Gräber für ihre Priester und Herrscher der ersten Dynastien schützten. "Sie sind gespickt mit falschen Türen, Geheimgängen  und von grossen Felsbrocken versiegelten Türen." Oder dass ein in Budapest geborener Jude namens Aurel Stein eine der wichtigsten archäologischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts machte, als er im Nordosten Chinas auf eine Bibliothek mit über 10'000 Dokumenten, Kunstwerken und Seidenstoffen stiess."Zur Sammlung zählte das Diamant-Sutra, eine Ausgabe der Predigten von Buddha und das älteste gedruckte Buch."

Kassia St Clair ist eine ausserordentlich begabte Autorin, die nicht nur gut zu erzählen weiss, sondern auch allerhand Wissenswertes zusammengetragen hat, das sie spannend und unterhaltsam darzustellen versteht. So lerne ich unter anderem, dass der aus der Baumwolle gefertigte Stoff, "womöglich das erste globale Handelsgut" war. Oder dass bereits im alten Ägypten (ca. 2649-2150 v.Chr.) Flachs angebaut und aus diesem Leinen hergestellt wurde.

Es findet sich übrigens auch ein Glossar in diesem schön gestalteten und mit originellen Illustrationen versehenen Werk, dem unter anderem zu entnehmen ist, dass es sich bei Bastfasern um "zähe, flexible innere Fasern von Pflanzen wie Flachs" handelt, und mit Spinnen das "Fasern verdrehen, um Faden herzustellen" gemeint ist. 

Fazit: Intelligente Aufklärung vom Feinsten!

Kassia St Clair
Die Welt der Stoffe
Hoffmann und Campe, Hamburg 2020

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