Wednesday 18 March 2020

Die Welt der Farben

Dieses Buch gehört so recht eigentlich allein schon des Buchumschlags wegen auf jeden Büchertisch. Autorin Kassia St Clair beschreibt es in ihrem Vorwort als den "Versuch eines geschichtlichen Überblicks verbunden mit einer Charakterstudie über die 73 Farbtöne, die mich am meisten fasziniert haben." Dabei versammelt sie auf höchst unterhaltsame Art und Weise ganz unterschiedliche Informationen, von der Medizin zur Geografie, von Geschichtlichem zur Materialkunde. Der Reiz dieses ganz wunderbaren Werkes beruht nicht zuletzt auf diesem Mix von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Kuriosem und Anekdoten.

Wie nehmen wir eigentlich Farben wahr? Von dem elektromagnetischen Wellenspektrum, das uns umgibt, ist nur ein kleiner Teil sichtbar. "Was wir wirklich sehen, wenn wir etwa eine reife Tomate oder grüne Farbe erblicken, ist Licht, das von der Oberfläche eines Objekts reflektiert wird." So saugt etwa die Haut der Tomate den Grossteil der kurzen und mittleren Wellenlängen auf, also Blautöne, Violett, Grün, Gelb und Orange, die Rottöne jedoch nicht. Diese treffen auf unsere Augen und werden vom Gehirn verarbeitet. "In gewisser Weise ist also die Farbe, die wir an einem Objekt wahrnehmen, genau die Farbe, die es nicht hat: nämlich der Teil des Spektrums, der wegreflektiert wird."

Die Welt der Farben klärt vielseitig auf. So lerne ich etwa, dass die Netzhaut, welche sich an der Innenseite des Augapfels befindet, voller lichtempfindlicher Sinneszellen ist. Davon sind etwa 120 Millionen, die Stäbchen genannt werden und zwischen hell und dunkel unterscheiden, und etwa sechs Millionen sogenannte Zäpfchen, die auf Farben reagieren. Auch erfahre ich, dass das Sprechen über Farben voller Tücken ist. "Kinder, die mühelos ein Dreieck von einem Viereck unterscheiden können, haben möglicherweise mit der Unterscheidung von Rosa, Rot und Orange zu kämpfen." Wie immer im Leben ist auch bei den Farben nichts so eindeutig wie wir automatisch annehmen.

À propos Orange: Der russische Maler Wassily Kandinski schrieb in "Über das Geistige in der Kunst" Orange sei einem "von seinen Kräften überzeugten Menschen ähnlich" und Kassia St Clair hat keinen Zweifel, dass Orange ein gewisses Selbstvertrauen entwickelt. Dann wird Orange aber auch verwendet, um auf mögliche Gefahr aufmerksam zu machen. Zudem: "Die Blackbox eines Flugzeugs, die die Fluginformationen aufzeichnet, ist ebenfalls orange, damit sie bei einem Absturz schneller lokalisiert werden kann."

Rosa für Mädchen, Blau für Jungs – so sieht man das überall. Würde man meinen. Doch die klare Rosa-Mädchen/Blau-Jungen Zuordnung ist erst Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden. Augenzwinkernd kommentierte ein Artikel aus dem Jahre 1893 in der New York Times: "Die Aussichten von Jungen sind so viel rosiger als die von Mädchen, dass es genügt, die Mädchen babyblau zu kleiden, um es auf das Leben als Frau vorzubereiten."

Dass die Farbwahrnehmung auch vom Zeitgeist abhängig ist, zeigt sich unter anderem beim Grün, das heutzutage oft mit umweltfreundlicher Politik in Zusammenhang gebracht wird, von dem jedoch zu Shakespeares Zeiten geglaubt wurde, es würde als Kostüm auf der Bühne getragen Unglück bringen. Kassia St Clair berichtet auch von der buddhistischen Fabel, gemäss welcher einem kleinen Jungen im Schlaf eine Gottheit erscheint, die ihn anweist, seine Augen zu schliessen und sich nicht Meeresgrün vorzustellen, damit sein grösster Wunsch in Erfüllung gehe. "Die Geschichte hat zwei mögliche Ausgänge: Bei dem einen gelingt es dem Jungen irgendwann, und er findet die Erleuchtung; bei dem anderen wird er so von seinem permanenten Scheitern zermürbt, dass ihm Leben und Verstand nach und nach entgleiten."

Bei Gold denke ich automatisch an ein Metall und nicht etwa an eine Farbe, obwohl es das natürlich auch ist. Sie gilt gleichzeitig als Farbe der Verehrung und als das Verehrte selbst, was auch auf seine Knappheit zurückzuführen ist. "Obwohl überall auf der Welt Goldminen gefunden wurden, hat der Goldrausch dazu geführt, dass sie schnell ausgeschöpft wurden. Europa verfügt über vergleichsweise wenig Goldvorkommen und war schon immer auf Gold aus Afrika und Asien angewiesen." Dass es in Asien Gold gibt, war mir nicht bekannt. Ich erinnere mich, auch gestaunt zu haben, als einige meiner Englisch-Studenten im argentinischen Mendoza für eine Goldschürffirma arbeiteten.

Es ist die faszinierende und beeindruckende Bandbreite an aufschlussreichem Wissen, die Kassia St Clair in Die Welt der Farben sehr unterhaltsam ausbreitet, die mich ganz unbedingt für dieses ungemein anregende Buch einnimmt.

Fazit: Ein Geniestreich!

Kassia St Clair
Die Welt der Farben
Atlantik, Hamburg 2019

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