Dieses
Buch gehört so recht eigentlich allein schon des Buchumschlags wegen
auf jeden Büchertisch. Autorin Kassia St Clair beschreibt es in
ihrem Vorwort als den "Versuch eines geschichtlichen Überblicks
verbunden mit einer Charakterstudie über die 73 Farbtöne, die mich
am meisten fasziniert haben." Dabei versammelt sie auf höchst
unterhaltsame Art und Weise ganz unterschiedliche Informationen, von
der Medizin zur Geografie, von Geschichtlichem zur Materialkunde. Der
Reiz dieses ganz wunderbaren Werkes beruht nicht zuletzt auf diesem
Mix von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Kuriosem und Anekdoten.
Wie
nehmen wir eigentlich Farben wahr? Von
dem elektromagnetischen Wellenspektrum, das uns umgibt, ist nur ein
kleiner Teil sichtbar. "Was wir
wirklich sehen, wenn wir etwa eine reife Tomate oder grüne Farbe
erblicken, ist Licht, das von der Oberfläche eines Objekts
reflektiert wird." So saugt etwa die Haut der Tomate den
Grossteil der kurzen und mittleren Wellenlängen auf, also Blautöne,
Violett, Grün, Gelb und Orange, die Rottöne jedoch nicht. Diese
treffen auf unsere Augen und werden vom Gehirn verarbeitet. "In
gewisser Weise ist also die Farbe, die wir an einem Objekt
wahrnehmen, genau die Farbe, die es nicht hat:
nämlich der Teil des Spektrums, der wegreflektiert wird."
Die
Welt der Farben klärt vielseitig auf. So lerne ich etwa,
dass die Netzhaut, welche sich an der Innenseite des Augapfels
befindet, voller lichtempfindlicher Sinneszellen ist. Davon sind etwa
120 Millionen, die Stäbchen genannt werden und zwischen hell und
dunkel unterscheiden, und etwa sechs Millionen sogenannte Zäpfchen,
die auf Farben reagieren. Auch erfahre ich, dass das Sprechen über
Farben voller Tücken ist. "Kinder, die mühelos ein Dreieck von
einem Viereck unterscheiden können, haben möglicherweise mit der
Unterscheidung von Rosa, Rot und Orange zu kämpfen." Wie immer
im Leben ist auch bei den Farben nichts so eindeutig wie wir
automatisch annehmen.
À
propos Orange: Der russische Maler Wassily Kandinski schrieb in "Über
das Geistige in der Kunst" Orange sei einem "von seinen
Kräften überzeugten Menschen ähnlich" und Kassia St Clair hat
keinen Zweifel, dass Orange ein gewisses Selbstvertrauen entwickelt.
Dann wird Orange aber auch verwendet, um auf mögliche Gefahr
aufmerksam zu machen. Zudem: "Die Blackbox eines Flugzeugs, die
die Fluginformationen aufzeichnet, ist ebenfalls orange, damit sie
bei einem Absturz schneller lokalisiert werden kann."
Rosa
für Mädchen, Blau für Jungs – so sieht man das überall. Würde
man meinen. Doch die klare Rosa-Mädchen/Blau-Jungen Zuordnung ist
erst Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden. Augenzwinkernd
kommentierte ein Artikel aus dem Jahre 1893 in der New York
Times: "Die Aussichten von Jungen sind so viel rosiger als
die von Mädchen, dass es genügt, die Mädchen babyblau zu kleiden,
um es auf das Leben als Frau vorzubereiten."
Dass
die Farbwahrnehmung auch vom Zeitgeist abhängig ist, zeigt sich
unter anderem beim Grün, das heutzutage oft mit umweltfreundlicher
Politik in Zusammenhang gebracht wird, von dem jedoch zu Shakespeares
Zeiten geglaubt wurde, es würde als Kostüm auf der Bühne getragen
Unglück bringen. Kassia St Clair berichtet auch von der
buddhistischen Fabel, gemäss welcher einem kleinen Jungen im Schlaf
eine Gottheit erscheint, die ihn anweist, seine Augen zu schliessen
und sich nicht Meeresgrün vorzustellen, damit sein grösster Wunsch
in Erfüllung gehe. "Die Geschichte hat zwei mögliche Ausgänge:
Bei dem einen gelingt es dem Jungen irgendwann, und er findet die
Erleuchtung; bei dem anderen wird er so von seinem permanenten
Scheitern zermürbt, dass ihm Leben und Verstand nach und nach
entgleiten."
Bei
Gold denke ich automatisch an ein Metall und nicht etwa an eine
Farbe, obwohl es das natürlich auch ist. Sie gilt gleichzeitig als
Farbe der Verehrung und als das Verehrte selbst, was auch auf seine
Knappheit zurückzuführen ist. "Obwohl überall auf der Welt
Goldminen gefunden wurden, hat der Goldrausch dazu geführt, dass sie
schnell ausgeschöpft wurden. Europa verfügt über vergleichsweise
wenig Goldvorkommen und war schon immer auf Gold aus Afrika und Asien
angewiesen." Dass es in Asien Gold gibt, war mir nicht bekannt.
Ich erinnere mich, auch gestaunt zu haben, als einige meiner
Englisch-Studenten im argentinischen Mendoza für eine
Goldschürffirma arbeiteten.
Es
ist die faszinierende und beeindruckende Bandbreite an
aufschlussreichem Wissen, die Kassia St Clair in Die Welt der
Farben sehr unterhaltsam ausbreitet, die mich ganz unbedingt
für dieses ungemein anregende Buch einnimmt.
Fazit:
Ein Geniestreich!
Kassia
St Clair
Die
Welt der Farben
Atlantik,
Hamburg 2019
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