Wednesday 28 October 2020

Expedition Arktis

Keine Frage, der Forschungsdrang des Menschen ist grenzenlos, in so ziemlich jedem Sinne des Wortes. Was uns genau aus dem Haus und Richtung Mond und Mars treibt, wüsste ich nicht zu sagen, doch dass wir erkunden wollen, wo wir eigentlich leben, wie "unser" Planet ausschaut und unter was für Bedingungen Leben eigentlich möglich ist, ist naheliegend, wenn auch ziemlich weit entfernt vom gewohnten Alltag.

"Die grösste Forschungsreise aller Zeiten" lautet der Untertitel von "Expedition Arktis" der Fotografin Esther Horvath mit Texten von Sebastian Grote und Katharina Weiss-Tuider. Dokumentiert wird wie sich ein internationales Forscherteam in das Epizentrum des Klimawandels aufmachte, "um die Klimaprozesse der Zentralarktis im Jahresverlauf zu untersuchen." Markus Rex, der Leiter der MOSAIC-Expedition (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of the Arctic Climate) schreibt im Vorwort: "Wir brauchen solide wissenschaftliche Grundlagen, um die anstehenden politischen Entscheidungen zum Klimaschutz treffgenau und evidenzbasiert gestalten zu können (...) Nur so können unsere Gesellschaften auf fundierten Erkenntnissen beruhende Entscheidungen treffen."

"Die Vermessung einer schwindenden Welt" ist eine aufwendige Sache, die umfassenden Vorbereitungen fanden auf Spitzbergen statt, das auf halber Strecke zwischen Norwegen und dem Nordpol liegt und sich seit Anfang der 1990er-Jahre, als Markus Rex zum ersten Mal da war, sehr gewandelt hat: "Wir sind in diesen Jahren oft mit Skiern oder Schneemobilen auf dem Eis unterwegs gewesen. Wenn ich heute zur selben Jahreszeit an diesen Ort komme, stehe ich vor offenem Wasser."

Apropos Vorbereitungen: "Insgesamt 500 Tonnen Fracht wird die Expedition mitnehmen – von schwerem Gerät wie Pistenraupen bis hin zu einer Vielzahl an Schrauben." Die Dimensionen dieses Unternehmens erahnt man auch, wenn man die Fotos betrachtet, von denen viele bei Nacht gemacht wurden (die Polarnacht dauert sechs Monate)  – eine besondere Herausforderung, welche Esther Horvath überzeugend gemeistert hat. Was die Fotos nicht leisten können, vermitteln die aufschlussreichen Texte.

"... versetzt die Anziehungskraft des Erdtrabanten das Eis immer wieder in Bewegung. Durch ein plötzliches Krachen und Knarzen kündigt es sich oftmals an, gefolgt von Poltern und Bersten, auch Kreischen und Stöhnen. Wo gerade noch scheinbar massive Eisebenen ruhten, tun sich innerhalb weniger Minuten Risse auf, brechen Eisfelder und driften auseinander. Andernorts schieben sich unter der Macht des Vollmonds die Eismassen zu gewaltigen, meterhohen Presseisrücken zusammen. Minutenlang donnern diese Bewegungen des Eises durch die Dunkelheit, sie zerren und drücken auch am Rumpf der Polarstern und bringen das Schiff zum Dröhnen. Dann verfällt die Arktis wieder in eisige Stille – und eine von den Naturgewalten umgestaltete Welt liegt vor den Augen der Forscher und Forscherinnen."

"Expedition Arktis" ist Dokumentarfotografie vom Feinsten und das meint: Fotos und Text gehören zusammen, sie ergänzen sich. Neben den informativen Bildlegenden und den thematisch gegliederten Texten (etwa über die Nacht und über den Alltag) findet sich auch ein Gespräch mit der Fotografin in diesem eindrücklichen Band, worin sie unter anderem ausführt, wie sie beim Fotografieren vorgeht. "Bei jedem Bild habe ich zunächst eine Geschichte im Kopf. Dazu recherchiere ich vorher und spreche viel mit den Menschen. Ich weiss, wann ich warum auf den Auslöser drücke und was ich damit erzählen will."

Die mich am meisten beeindruckenden Aufnahmen zeigen die weiten Meereislandschaften, doch das Bild, das mir am stärksten eingefahren ist, stammt nicht von einer Fotokamera, sondern entstand in meinem Kopf, als ich Esther Horvaths Schilderung dieser Erfahrung gelesen habe, "... auf dem Meereis zu stehen und sich bewusst zu werden, dass unter uns ein mehrere Kilometer tiefer Ozean ist. Das ist ein unglaubliches Gefühl. Es lässt sch kaum beschreiben."

Ein grandioses Werk, das einen das Staunen lehrt!

Esther Horvath, Sebastian Grote, Katharina Weiss-Tuider
Expedition Arktis
Die grösste Forschungsreise aller Zeiten
Mit einem Vorwort von Markus Rex
Prestel, München-London-New York 2020

Wednesday 21 October 2020

Das Klischee des Engländers

Als ich noch jünger war, war das Klischee des Engländers – sofern es sich nicht gerade um den Sänger der Rolling Stones handelte – ein hagerer, dürrer Mensch mit Melone und Regenschirm, der sogenanntes Queen's English sprach und eine unerschütterliche Contenance an den Tag legte, die weltweit einzigartig war.

Der damalige Engländer war ein Produkt diverser Weltkriege und der harten Nachkriegszeit, während er heutzutage das Resultat einer modernen Überfluss- und Fast-Food-Gesellschaft ist, in der eine Diät aus Pommes frites, Chips, Speckschwarten und literweise Bier am Tag für eine kräftige, konstant übergewichtige Bevölkerung sorgt. Und von Contenance war keine Rede mehr, seit die ersten Fussballhooligans quer durch Europa reisten, Läden zu Kleinholz machten und in Springbrunnen pinkelten.

Mats Olsson: Demut

Wednesday 14 October 2020

Self Evident Truths

In the spirit of Richard Avedon, this book contains striking photographic portraits of 10,000 people from across the US, bringing readers face to face with LGBTQ America,” the press release lets me know. Patrisse Cullors, “the cofounder of several organizations including Dignity and Power Now, The Crenshaw Dairy Mart, and Black Lives Matter” characterises this book as “the largest collection of photographs of queer, trans and non-binary people – 10,000 beautiful images that capture us in all our complexity, our honesty, our raw selves.”

Well, I do not think that photographs can do what Patrisse Cullors claims they do. What she sees in them is what she brings to them. As far as I’m concerned photographs are inherently incapable of showing complexity, or honesty, or raw selves.

So what do I see in these photographs? Portraits of different people posing in a variety of ways against a black background. Some smile, some don’t, all try, I assume, to show themselves in what they consider a favourable pose. The vast majority of the pics are very small, some are presented in a larger format. Had I not been told that I’m looking at LGBTQ America I would have neither known nor guessed it; I would have simply seen fellow human beings.

For the full review, see here

Wednesday 7 October 2020

Framing "my" surroundings (2)




Santa Cruz do Sul, Janeiro 2019