Wednesday 28 April 2021

Die Gechichte der Universalgenies

Es sei dies ein Buch "über Einzelpersonen und kleine Gruppen, denen es ebenso um das grosse Ganze wie um Details ging und die sich oft um den Transfer oder die 'Übertragung' bestimmter Ideen und Praktiker von einer Disziplin zur anderen bemühten", schreibt Peter Burke in seinem Vorwort.

Mich haben Universalgelehrte immer schon fasziniert. Das hat auch damit zu tun, dass mir die einzelnen Disziplinen zu künstlich und willkürlich sind, ich mich mit Abgrenzungen schwer tue und nicht so recht erkennen kann, worin denn ihr Sinn bestehen könnte. Die Beschränkung auf Überschaubares? Die Möglichkeit, sich als Experte zu profilieren?

Doch was ist eigentlich ein Universalgelehrter? Ich verstehe darunter einen breit gebildeten, höchst neugierigen und überaus kreativen Menschen. Leonardo da Vinci kommt mir in den Sinn. Und James Lovelock. Und Goethe. Dazu zählen würde ich auch die als Astronominnen bekannt gewordenen Maria Mitchell und Mary Somerville. Doch was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem aussergewöhnlichen Menschen und einem Universalgenie?

Gemäss der "Polymath Discussion Group" ist ein Universalgelehrter jemand, "der sich für viele Themen interessiert und viel über sie erfahren will." Peter Burke konzentriert sich hingegen auf Akademiker mit enzyklopädischen Interessen oder, anders gesagt, auf Gelehrsamkeit. Und so kriegt meine Lektüre bereits den ersten Dämpfer, denn akademisches Wissen finde ich eigentlich nur akademisch, also nicht von praktischem Nutzen. Umso erstaunter bin ich dann, dass sich der Autor auch mit Aldous Huxley und Jorge Luis Borges auseinandersetzt. Der Grund? Sie haben auch nicht-belletristische Literatur hervorgebracht. Genauso wie Vladimir Nabokov und Umberto Eco.

"Das Buch konzentriert sich auf Europa und Nord- und Südamerika in der Zeit vom 15. bis zum 21. Jahrhundert." Wobei: Die Debatte über den Wert des Wissens ist seit den Griechen immer die gleiche geblieben: Breite versus Tiefe. Bei der zunehmend ausufernden Erfindung von immer neuen Disziplinen, die meines Erachtens weniger von der Sache als von der Jobbeschaffung geleitet werden, tritt die Neugierde für breites Wissen leider immer mehr in den Hintergrund. Und das ist einer der Gründe, weshalb sich die Lektüre dieses Werkes lohnt.

Giganten der Gelehrsamkeit ist kein Buch, das man von Anfang bis Ende durchliest, dazu ist das geballte Wissen, das da auf einen einprasselt zu umfangreich. Klar doch, ich spreche von mir (von wem auch sonst?). Zum ersten Mal so richtig hängen bleibe ich bei Leonardo, der ein denkbar untypischer Renaissance-Mensch war. Es mangelte ihm an humanistischer Bildung, er hatte vermutlich nie eine Schule besucht, auch Latein konnte er nur mit Schwierigkeiten lesen.

Giganten der Gelehrsamkeit bringt mir auch viele Frauen näher, von denen ich noch nie gehört hatte. Etwa die Französin Marie de Gourney, die 1584 Montaignes 'Essais' für sich entdeckte. "Deren Lektüre versetzte sie in einen solchen Erregungszustand, dass ihre Mutter sie mit Medikamenten ruhigstellen wollte. Später lernte sie Montaigne persönlich kennen, wurde eine Art Tochter für ihn ...". Natürlich nahm ich unverzüglich mein Reclam-Bändchen aus dem Regal.

Viele, die in diesem Buch erwähnt werden, waren mir gänzlich unbekannt. Und ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als ich vom deutschen Jesuit Athanasius Kircher las, er "studierte medizinische Chemie, beobachtete Eklipsen und versuchte, Codes zu dechiffrieren und die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern." Zudem: "Er schrieb in Latein, Italienisch, Spanisch, Deutsch, Holländisch, Griechisch, Hebräisch, Armenisch, Arabisch und Koptisch und konnte in vielen weiteren lesen." Ein Buch über China kam auch noch dazu, das von Leibniz bewundert wurde, der jedoch zu Kirchers ägyptischen Studien befand: "Er versteht nichts."

Wie alles andere auch, so unterliegen auch die Einschätzungen von Universalgelehrten dem stetigen Wandel, denn die allgemeine Weltsicht wandelt sich nun mal mit den jeweiligen neuen Einsichten sowie den Denkmoden, Giganten der Gelehrsamkeit zeigt das an konkreten Personen wie auch an Ausprägungen der Zeit wie etwa den Bibliotheken. "Plinius hatte Zugriff auf zweitausend Bücher, wohingegen im 9. Jahrhundert die Klosterbibliotheken von Reichenau und St. Gallen – seinerzeit bedeutende geistige Zentren – über jeweils nicht mehr als vierhundert Bücher verfügten."

Peter Burke lässt mich auch Vieles neu sehen. So war mir zwar Joseph Needham als Vermittler östlichen Denkens bekannt, doch hatte ich keine Ahnung, dass er auch Professor für Biochemie und für die 'Needham-Question' berühmt war: "Warum fand die Wissenschaftliche Revolution in Europa und nicht in China statt?" Auch wäre mir nie in den Sinn gekommen, Susan Sontag als Universalgelehrte zu sehen. Nicht bekannt war mir überdies, wie vielfältig Gregory Bateson, den ich hauptsächlich mit  Anthropologie und Systemtheorie in Verbindung bringe, unterwegs gewesen war. Und verblüfft konstatierte ich, dass Aldous Huxley und Jorge Luis Borges die 'Encyclopaedia Britannica' lasen und nicht etwa nur konsultierten.

Universalgelehrte sind Generalisten (und im besten Sinne des Wortes Amateure  sie liebten, was sie taten) und damit eine Bedrohung für die Spezialisten, die ihnen denn auch immer wieder Ungenauigkeiten und unzulässiges Pauschalisieren vorwerfen. Nur eben: Wer die grösseren Zusammenhänge nicht kennt, verpasst das Wesentliche. In den Worten von Isaac Barrow im 17. Jahrhundert: Die "Verbindung der Dinge untereinander und die Bedingtheit von Gedanken"..

Fazit: Ein sehr gelehrtes und überaus anregendes Werk.

Peter Burke
Giganten der Gelehrsamkeit
Die Geschichte der Universalgenies
Wagenbach, Berlin 2021

Wednesday 21 April 2021

Faltergestöber

Dass es exponentielles Wachstum gibt, ist mir erst in der Corona-Zeit wirklich bewusst geworden, obwohl ich das berühmte Seerosenbeispiel schon lange kannte. Dass sich die Weltbevölkerung in nur vierzig Jahren, von 1960 bis 2000 von drei auf sechs Milliarden verdoppelt hat, ist mir jedoch überhaupt nicht klar gewesen. "Im Jahrzehnt darauf kam eine weitere Milliarde hinzu und in den nächsten vier Jahrzehnten wird sie noch einmal um drei Milliarden wachsen", schreibt Michael McCarthy in Faltergestöber. Doch nicht nur die Bevölkerung, auch der Konsum explodiert. Das rechte Mass ist uns schon längst abhanden gekommen; Mehr-Mehr-Mehr ist unsere Devise. Wir sind alle süchtig und das meint nicht etwa 'auf der Suche', sondern krank (Sucht kommt von siech = krank).

Wir sind gerade dabei, unsere Lebensgrundlage, den Planeten Erde, zu zerstören. Wie können wir nur so blöd sein? Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass wir uns falsch sehen, denn uns fehlt die Einsicht, "dass Menschen nicht per se gut sind und sich nicht freiwillig ändern, wenn es gegen ihre egoistischen Motive geht. Da kann man genauso gut von Katzen verlangen, dass sie keine Vögel mehr jagen."

Nur eben: Dass alles mit allem verbunden ist, "dass einzelne Pflanzen- und Tierarten mit anderen lebenden Organismen, die allesamt nicht bloss miteinander, sondern auch mit ihrer Umgebung agieren", ist eine relativ neue Einsicht. Unser fragiles Ökosystem verlangt Rücksichtnahme, eine Eigenschaft also, mit der man im Raubtierkapitalismus nicht weit kommt. "In den Mainstream jedoch hat das Empfinden der Einheit mit der Biosphäre keinen Eingang gefunden. Er spielt bei den Entscheidungsträgern der modernen Welt und den Abermillionen, die sich nach ihnen richten, keine Rolle, sondern wird in anthropologische und spirituelle Nischen abgedrängt."

Faltergestöber ist ein zutiefst persönliches Buch, das auch die schwierigen familiären Umstände des Autors, die offen und gänzlich unprätentiös geschildert werden, nicht ausspart und damit deutlich macht. in was für einem komplexen und schwer zu durchschauenden Netzwerk unser Leben abläuft: Ganz viele Faktoren, die wir nicht bestimmen können, sind da am Werk. Doch da sind auch die, auf die wir Einfluss nehmen. Wie wir das tun, hängt von unserer Grundeinstellung ab.

Michael McCarthys Grundeinstellung ist die Liebe zur Natur. Und diese zu wecken ist das Ziel dieses Buches. Seine nüchterne und pragmatische Herangehensweise hat meine Sympathie. "Ich bin kein Wissenschaftler, weder Evolutionsbiologe noch Psychologe; ich will nichts beweisen, nicht logisch argumentieren, sondern schlicht sagen: Das habe ich erlebt, vielleicht kann es zum Verständnis beitragen." Wobei: Wie viele gebildete Engländer, stapelt er da schon ziemlich tief, denn schliesslich kommentiert er aussergewöhnlich kenntnisreich, was er beobachtet hat

Wir Menschen halten uns für Rationalisten, doch die Eigenbeurteilung, wir wir alle wissen, trifft selten zu. Auch wenn es unsere Eitelkeit kränken mag, unsere Instinkte prägen unser Verhalten weit mehr als unser Kopf. "Verallgemeinernd könnte man sagen, wir besässen, tief in unseren Genen verankert, eine starke, intuitive Bindung zu unserer Umwelt."

Das Problem ist: Die wenigsten nehmen diese Intuition wahr; unser Wirtschaftssystem verlangt Wachstum. Innert nur gerade 50 Jahren wurde die Hälfte der britischen Biodiversität vernichtet, grösstenteils durch die Landwirtschaft. Dass die Ressourcen begrenzt sind, kümmert uns nicht, da unser Denken nicht langfristig ausgerichtet, sondern von 'Nach mir die Sintflut' geprägt ist. Auch das angeblich in grossen Zeitspannen denkende China  richtet sich danach aus. "Nirgendwo auf der Welt wird die Zerstörung der Natur unerbittlicher und gründlicher betrieben als in der Volksrepublik, die vermutlich in Kürze zur grössten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen wird."

Faltergestöber handelt unter anderem von einer Flussmündung in Südkorea, die einem Prestigeprojekt weichen muss. Dafür  wird der Lebensraum von vielen Watvögeln zerstört. Als ich das lese, wird mir bewusst, wie selten mir klar ist (wie selten ich spüre, heisst das), dass die Erde nicht nur der Lebensraum von uns Menschen ist. Faltergestöber schärft mein Bewusstsein. Und das ist nötig. Apropos Flussmündung: "Kennen Sie etwa ein winziges Mündungslied? Über Berge und Flüsse, über Wälder und Wiesen und Seen gibt es Lieder in Hülle und Fülle. Aber über Mündungen? Nein." Ich bin mir gewiss, ich werde Flussmündungen künftig neu sehen.

Michael McCarthy versteht es ausgezeichnet, sein Staunen über die Welt zu vermitteln. Jedenfalls glaubte ich seine Glücksgefühle und, ja, seine Liebe zur Natur nachempfinden zu können. Nur wenn wir das Staunen wieder lernen, werden wir den Glauben an den Wert der Natur, die Ehrfurcht vor der Schöpfung erfahren. Faltergestöber regt vielfältig dazu an, es ist ein ganz wunderbares Buch!

Michael McCarthy
Faltergestöber
Vom Glück, das die Natur uns schenkt
Matthes & Seitz Berlin 2021

Sunday 18 April 2021

Cully, Vaud





Cully, Vaud. le 11 avril 2021

Wednesday 14 April 2021

Daisy Bates in der Wüste

Die Autorin Julia Blackburn, 1948 in London geboren, informiert mich der Verlag, "sucht in Tagebüchern, Briefen und vergilbten Fotografien nach dem wahren Leben der Daisy Bates", einer Irin, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Aborigines im australischen Outback lebte und bekannt für ihre Lügen war. "Vielleicht hatte Daisy Bates schon als kleines Kind damit begonnen, sich selbst ihre Geschichte und ihre Erinnerungen zu erfinden, und es später nicht mehr geschafft, diese Gewohnheit aufzugeben, oder einfach nicht bemerkt, dass dies nicht ganz die übliche Art war, der Welt Sinn zu verleihen", so Julia Blackburn.

Wir wissen, dass das Gedächtnis kreativ ist, können nicht immer mit Gewissheit sagen, ob und wie etwas stattgefunden hat oder ob wir es uns "nur" einbilden. Aus dieser Perspektive ist es nicht abwegig, das Leben einer zum Lügen neigenden Frau zu beschreiben. "Als alte Dame sitzt sie in ihrem Zelt und verschanzt sich hinter geschwätzigen Geschichten von all ihren Abenteuern, all den wichtigen Persönlichkeiten, die sie gekannt habe. Manches stimmt tatsächlich, aber das meiste nicht, und es ist ein kurioses Unterfangen, die Person, die sie war, von jener zu trennen, die sie gern gewesen wäre, die beiden auseinanderzureissen, sie aus ihrer Umklammerung zu lösen."

Nicht nur ein kurioses, sondern ein ziemlich unmögliches Unterfangen, würde ich sagen, denn für mein Dafürhalten ist bereits traditionelle Biografie-Arbeit weitestgehend Fiktion, umso mehr also muss dies beim Porträt einer Frau der Fall sein, von der so recht eigentlich nur ihr Äusseres bekannt ist. Was macht man also in so einer Situation? Julia Blackburn stellt sich vor, was sich wohl Daisy Bates vorgestellt haben mag. Geht das, sich in die Schuhe einer anderen Person zu versetzen? Ja, das geht. Und Julia Blackburn zeigt wie.

1905 liess sich Daisy Bates mit ihrem Zelt bei den Aborigines im Reservat von Maamba, östlich von Perth nieder. Mit einem staatlichen Stipendium ausgestattet will sie während zwei Jahren Sprache und Sitten der Menschen, die man aus den umliegenden Gebieten ins Reservat gebracht hatte, studieren. 

Dreissig Jahre verbringt sie insgesamt bei den Aborigines, macht anthropologische Aufzeichnungen, die sie später einmal ordnen will. "Ich überliess es den Aborigines zu entscheiden, wo ich mein Zelt aufstellen sollte und wann es Zeit sein würde, wieder weiterzuziehen. Ich mochte diese Ungewissheit irgendwie; es gefiel mir, nicht zu wissen, was sich meinen Augen als Nächstes darbieten würde."

In Jeegala Creek, östlich von Eucla, findet ein vierzehntägiger Tanz verbunden mit einer Initiationszeremonie statt, bei der ihr von  Aborigines gesagt wird, sie sei in der Alten Zeit ein Mann gewesen, "ein Stammesältester, und nun sei ich weder Mann noch Frau. Ich war ein übernatürliches Wesen jenseits der Geschlechtergrenze." Doch auch die Briten sehen sie als eine der ihren – 1934 verlieh man ihr den CBE, den Commander of the British Empire.

Man muss seine Komfortzone verlassen, um andere als die gewohnten Erfahrungen zu machen. Je unvertrauter die Umgebung, desto besser. Und die Wüste eignet sich ganz besonders. "Der Himmel ist  blau und flach, flach und blau und knochentrocken (...) Der heutige Tag ist so heiss und lautlos wie der gestrige. Ich habe nicht einmal den Morgenzug vorbeifahren hören; vielleicht ist er zusammengebrochen unter dieser Hitze."

Da Daisy Bates widersprüchliche Berichte über ihr Leben hinterlassen habe, schreibt Julia Blackburn im Nachwort, habe sie sich ihren eigenen Weg durch das verfügbare Material bahnen müssen. Daisy Bates in der Wüste, so schliess ich daraus, ist also ebenso sehr ein Buch über Julia Blackburn. "Seltsam, wie man die Taschen voller Erinnerungen hat, von denen man gar nichts weiss, bis sie plötzlich hervorbrechen und das Gehirn überfluten mit Bildern aus längst vergangenen Zeiten."

Julia Blackburn
Daisy Bates in der Wüste
Unionsverlag, Zürich 2021

Wednesday 7 April 2021

Women Street Photographers

When thinking of street photography, Vivian Maier comes to mind, and Lisa Kahane. And then, all of a sudden, I ask myself: What the hell is a street photographer? Do they photograph only streets? Do they photograph only what can be seen when standing on a street? Melissa Breyer quotes in her introduction the Encyclopedia Britannica that descibes street photography as „a genre of photography that records everyday life in a public place ... Street photographers do not necessarily have a social purpose in mind, but they prefer to isolate and capture moments which otherwise might go unnoticed.“

Difficult to imagine a definition more vague ... Melissa Breyer dryly comments: „While the discourse over what comprises street photography may endure into eternity, the body of work by Staten Island resident Alice Austen could serve as a model for the genre itself.“ And while I do agree for she „took photos of anything and everyone that interested her“, I also believe her approach to be a good recipe for any kind of photography – and so I decide to simply look at the photographs in this tome and see what they do to me.

But before embarking on this visual adventure, I feel like quoting Melissa Breyer again who decrribes what gave birth to photography:„..a French inventor by the name of Nicéphore Niépce was looking for a way to make images without having to draw them.“ I've no idea whether this really was Niépce's motivation (I always wonder what makes people think they know the motivation of others – I cannot even figure out my own), but I love the story and so I like to think it was his motivation.

For the full review, see here