Wednesday, 14 April 2021

Daisy Bates in der Wüste

Die Autorin Julia Blackburn, 1948 in London geboren, informiert mich der Verlag, "sucht in Tagebüchern, Briefen und vergilbten Fotografien nach dem wahren Leben der Daisy Bates", einer Irin, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Aborigines im australischen Outback lebte und bekannt für ihre Lügen war. "Vielleicht hatte Daisy Bates schon als kleines Kind damit begonnen, sich selbst ihre Geschichte und ihre Erinnerungen zu erfinden, und es später nicht mehr geschafft, diese Gewohnheit aufzugeben, oder einfach nicht bemerkt, dass dies nicht ganz die übliche Art war, der Welt Sinn zu verleihen", so Julia Blackburn.

Wir wissen, dass das Gedächtnis kreativ ist, können nicht immer mit Gewissheit sagen, ob und wie etwas stattgefunden hat oder ob wir es uns "nur" einbilden. Aus dieser Perspektive ist es nicht abwegig, das Leben einer zum Lügen neigenden Frau zu beschreiben. "Als alte Dame sitzt sie in ihrem Zelt und verschanzt sich hinter geschwätzigen Geschichten von all ihren Abenteuern, all den wichtigen Persönlichkeiten, die sie gekannt habe. Manches stimmt tatsächlich, aber das meiste nicht, und es ist ein kurioses Unterfangen, die Person, die sie war, von jener zu trennen, die sie gern gewesen wäre, die beiden auseinanderzureissen, sie aus ihrer Umklammerung zu lösen."

Nicht nur ein kurioses, sondern ein ziemlich unmögliches Unterfangen, würde ich sagen, denn für mein Dafürhalten ist bereits traditionelle Biografie-Arbeit weitestgehend Fiktion, umso mehr also muss dies beim Porträt einer Frau der Fall sein, von der so recht eigentlich nur ihr Äusseres bekannt ist. Was macht man also in so einer Situation? Julia Blackburn stellt sich vor, was sich wohl Daisy Bates vorgestellt haben mag. Geht das, sich in die Schuhe einer anderen Person zu versetzen? Ja, das geht. Und Julia Blackburn zeigt wie.

1905 liess sich Daisy Bates mit ihrem Zelt bei den Aborigines im Reservat von Maamba, östlich von Perth nieder. Mit einem staatlichen Stipendium ausgestattet will sie während zwei Jahren Sprache und Sitten der Menschen, die man aus den umliegenden Gebieten ins Reservat gebracht hatte, studieren. 

Dreissig Jahre verbringt sie insgesamt bei den Aborigines, macht anthropologische Aufzeichnungen, die sie später einmal ordnen will. "Ich überliess es den Aborigines zu entscheiden, wo ich mein Zelt aufstellen sollte und wann es Zeit sein würde, wieder weiterzuziehen. Ich mochte diese Ungewissheit irgendwie; es gefiel mir, nicht zu wissen, was sich meinen Augen als Nächstes darbieten würde."

In Jeegala Creek, östlich von Eucla, findet ein vierzehntägiger Tanz verbunden mit einer Initiationszeremonie statt, bei der ihr von  Aborigines gesagt wird, sie sei in der Alten Zeit ein Mann gewesen, "ein Stammesältester, und nun sei ich weder Mann noch Frau. Ich war ein übernatürliches Wesen jenseits der Geschlechtergrenze." Doch auch die Briten sehen sie als eine der ihren – 1934 verlieh man ihr den CBE, den Commander of the British Empire.

Man muss seine Komfortzone verlassen, um andere als die gewohnten Erfahrungen zu machen. Je unvertrauter die Umgebung, desto besser. Und die Wüste eignet sich ganz besonders. "Der Himmel ist  blau und flach, flach und blau und knochentrocken (...) Der heutige Tag ist so heiss und lautlos wie der gestrige. Ich habe nicht einmal den Morgenzug vorbeifahren hören; vielleicht ist er zusammengebrochen unter dieser Hitze."

Da Daisy Bates widersprüchliche Berichte über ihr Leben hinterlassen habe, schreibt Julia Blackburn im Nachwort, habe sie sich ihren eigenen Weg durch das verfügbare Material bahnen müssen. Daisy Bates in der Wüste, so schliess ich daraus, ist also ebenso sehr ein Buch über Julia Blackburn. "Seltsam, wie man die Taschen voller Erinnerungen hat, von denen man gar nichts weiss, bis sie plötzlich hervorbrechen und das Gehirn überfluten mit Bildern aus längst vergangenen Zeiten."

Julia Blackburn
Daisy Bates in der Wüste
Unionsverlag, Zürich 2021

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