Sunday, 6 July 2025

Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Mein liebster Satz von Clarice Lispector ist Liberdade é pouco. O que eu desejo ainda não tem nome. Wo ich ihn her habe, weiss ich nicht mehr, doch er prägt mein Bild dieser 1920 als Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine geborenen und im ärmlichen Nordosten Brasiliens aufgewachsenen Frau, die Jura studierte, als Lehrerin und Journalistin arbeitete und als Diplomatengattin nicht gerade glücklich auch in Bern lebte. Ein Freigeist war sie und auch ein komplizierter Mensch. „Von Krankheit und Tablettenkonsum gezeichnet, starb Lispector 1977 mit nur 56 Jahren in Rio de Janeiro“, heisst es im Klappentext, ganz so, als ob Tablettenkonsum keine Krankheit wäre.

Auf sie gestossen bin ich in Brasilien, wo ich mich regelmässig einige Monate im Jahr aufhalte und das ich, um es mit Stefan Zweig zu sagen, für „Ein Land der Zukunft“ halte, weil da vieles, jedenfalls in meiner Wahrnehmung, nicht vom Gewicht der Geschichte erdrückt wird, sondern neu entstehen kann. So kommt mir auch das Schreiben von Clarice Lispector vor: Ich habe solche Texte bisher nicht gelesen, solche Gedanken bisher nicht so ausgedrückt getroffen; das ist neu, ungewohnt und bereichernd für mich; diese Frau versteht es, intelligent zu fühlen.
Der Titel, Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau, könnte besser kaum vermitteln, was ich als wesentliche Aspekte des Wesens (und nicht etwa nur des Schreibens) dieser Autorin empfinde. Diese Ausgabe in zwei Bänden (der zweite erscheint im Herbst 2020) versammelt alle Erzählungen Clarice Lispectors.

Die erste, die sich übrigens wie ein Krimi liest, handelt von einem trunkenen Tagtraum, in dem die von ihrem Mann verlassene Frau letztendlich über ihren Mann triumphiert. Auch in der zweiten – mit dem Titel ‚Obsession‘ – ist die Hauptperson eine Frau, die in sehr eigenen Sphären unterwegs ist. „Ein dichter Schleier trennte mich von der Welt und, ohne dass ich es gewusst hätte, entfernte mich ein Abgrund von mir selbst.“ Sie lernt Daniel kennen, der vor allem um sich selbst kreist und sich krank fühlt, „fern von allen anderen, fern auch von dem idealen Menschen, der ein gelassenes und tierhaftes Wesen sein sollte, ein Wesen von leichter, behaglicher Intelligenz. Diesem Menschen, zu dem er sich niemals aufschwingen würde, den er unweigerlich verachtete, mit dem Hochmut derer, die leiden.“

Die Hellsichtigkeit, die aus diesen Sätzen spricht, macht mich staunen. Umso mehr, als sie aus jungen Jahren, aus der Zeit des Jurastudiums der Autorin stammen. Von Daniel lernt die Protagonistin auch: „ein Tag ohne Tränen ist ein Tag, an dem das Herz verhärtet ist, nicht etwa einer, an dem das Herz glücklich wäre … da das Geheimnis des Lebens Leiden ist. Diese Wahrheit liegt in allen Dingen.“ Und diese Wahrheit liess sie plötzlich erwachen. „Jetzt wurde ich neu geboren.“

Es versteht sich, so einfach ist es dann doch nicht, wenn man in einer Obsession gefangen ist. Sie schreibt ihm, ohne Antwort zu bekommen. Sie erforscht sich aufmerksam: „Mit vagen Worten bezeichnete ich die Qual, als könnte ich sie dadurch von mir fernhalten.“ Immer wieder erlebt sie grössere Einsichten, doch diese helfen, wenn überhaupt, erst viel später. Eindrücklicher habe ich selten über Abhängigkeit und Leiden gelesen.

Clever und witzig, schreibt diese Frau. In „Ich und Jimmy“ charakterisiert sie die Mutter der Protagonistin, die vor der Heirat freiheitlich denkend und eine Rakete gewesen war, was ihr die Ehe und ihr Mann jedoch austrieben. „Sie hat schon noch eigene Ideen, aber die lassen sich schnell zusammenfassen: Eine Frau soll stets ihrem Mann folgen, so wie die Nebensache der Hauptsache folgt (der Vergleich ist von mir, Ergebnis der Vorlesungen meines Jurastudiums).“

Eine wohltuende Leichtigkeit durchzieht dieses Schreiben, bei dem es immer wieder Sätze und Gedanken gibt, die mich staunen machen, auch weil sie Wahrheiten aussprechen, die mir überhaupt nicht bewusst gewesen sind. Etwa in „Geschichte, die abbricht“, in der die junge Frau an einem Sommertag die Fenster sperrangelweit aufreisst und ihr ist, als käme der Garten ins Zimmer herein, sie die Natur in jeder Faser spürt und dann notiert: „Ich wandte mich wieder nach drinnen, berührt von der Ruhe des Moments.“ Genial, dieses „die Ruhe des Moments“ – eine mich beglückende Erkenntnis.

Zu meinen Favoriten gehört „Eine Henne“, eine Geschichte, die mich nicht nur lachen machte, sondern geradezu Lebensfreude in mir entfachte, so originell und witzig, so fantasievoll und nüchtern, so empathisch und fantastisch ist sie – und so beginnt: „Sie war ein Sonntagshuhn. Noch am Leben, weil es erst neun Uhr morgens war.“ Doch dann fliegt sie davon. „Der Hausherr, eingedenk der zweifachen Notwendigkeit, hin und wieder Sport zu treiben und heute zu Mittag zu speisen, schlüpfte strahlend in Badeshorts und schickte sich an, dem Weg der Henne zu folgen.“ Wie’s ausgeht, soll hier natürlich nicht verraten werden …

Es sind vor allem einzelne Sätze und Halb-Sätze, die mich packen und innehalten lassen. Etwa dieser: „… neigte sich doch dazu, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die sinnlos waren, wenn auch unterhaltsam.“ Dann aber auch Szenen wie diese hier: Sie will einen schwierigen, distanzierten Mann für sich gewinnen und fragt: „Wo sollte man ansetzen, wenn er sich kannte?“, doch dann hat sie eine Idee: „Aufgeregt setzte ich mich im Bett auf, und mir schoss durch den Kopf: ‚Das kam zu schnell, um gut zu sein; sei nicht gleich so begeistert; leg dich hin, mach die Augen zu und warte, dass Ruhe einkehrt.‘ Stattdessen stand ich auf und begann barfuss, um Mira nicht zu wecken, im Zimmer auf und ab zu gehen, wie ein Geschäftsmann, der auf Nachrichten von der Börse wartet. Doch ich hatte immer stärker das Gefühl, die Lösung gefunden zu haben.“ Wunderbar kindlich, berührend naiv und sehr, sehr smart – eine Kombination, die ich schlicht genial finde.



Clarice Lispector
Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau
Sämtliche Erzählungen I
Penguin Verlag, München 2019

Wednesday, 2 July 2025

On socially inclined photographers

In times when (some) photographers hold celebrity status, it is useful to be reminded that a good photograph does not solely depend on the photographer’s ability to choose the right subject, location and light, but also on the chemistry and the collaboration, between photographer and subject (…) Despite my deep sympathy for socially inclined photographers, when the people portrayed feel ashamed of their portraits, there clearly is something wrong with this kind of photography.”

Hans Durrer

Sunday, 29 June 2025

"My"Japan (5)





Taken with my mobile phone in April / May 2019.

Wednesday, 25 June 2025

Vom Staat zur Marke

Unsere Wettbewerbsmentaliät verschont keinen Bereich unserer Gesellschaft, auch der akademische Betrieb ist in hohem Masse davon betroffen. Universitätsprofessuren sind begehrt, die Konkurrenz ist gross, die Fähigkeit, sich durch neue Themensetzungen zu profilieren, ist unabdingbar. Letzterer ist auch dieses Buch zu verdanken, und ich ärgere mich nicht wenig, dass mich der dem Marketing geschuldete Titel dazu verleitet hat, mich damit auseinanderzusetzen, denn der Erkenntniswert ist gering.

Dass Staaten für sich werben, um damit an Einfluss zu gewinnen, ist nichts Neues. "Dabei sind Staat und Nation keinesfalls dasselbe." Spätestens bei diesem Satz weiss ich, dass ich das gängige  akademische Buch vor mir habe, das sich wesentlich in Definitionen, Abgrenzungen und Differenzierungen erschöpft. "Die historische Flugbahn und ideologische Struktur eines Landes spielen eine entscheidende Rolle bei dem Bemühen um seine Imagekontrolle. " Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand bezweifelt, denn die Aussage ist allgemein genug, um sich der Zustimmung aller sicher zu sein.

Die Autorin Jessica Gienow-Hecht, seit 2019 Professorin und Leiterin der Abteilung Geschichte am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin, gibt keineswegs vor, eine bahnbrechende Entdeckung gemacht zu haben und stellt erfreulich nüchtern fest: ""Dieses Buch hat eine einfache Kernbotschaft, die ich im Verlauf immer wieder darlegen und anhand von Beobachtungen überprüfen werde. Sie lautet: Seit dem Ersten Weltkrieg hat sich die Nation zu einem Markenprodukt entwickelt, das bis zum Fall des eisernen Vorhangs von staatlichen Regierungen erheblich 'bespielt' wurde."

Vom Staat zur Marke ist klar strukturiert, die einzelnen Kapitel werden jeweils am Kapitelende zusammengefasst, allerdings war mir das Ganze zu akademisch in dem Sinne, dass das "Es kommt drauf an-Stereotyp" (das selbstverständlich seine Richtigkeit hat) dominierte. "Natürlich unterschieden sich Botschaften, Zielgruppen und Erwartungen im Einzelnen abhängig von Land und Regierungsform." 

Nichtsdestotrotz: Vom Staat zur Marke ist reich an konkreten Beispielen. Man lese etwa die detaillierten Ausführungen zu den Bemühungen der Region Katalonien, sich international zu positionieren, wozu auch die Repressalien des spanischen Staates beitragen. Letzteres macht auch deutlich, dass die Wahrnehmung einer Nation vor allem davon bestimmt wird, wie diese öffentlich auftritt. so sind etwa die Unterschiede zwischen Russland, China und den Emiraten eklatant.

Es sind die vielen überaus illustrativen Beispiele von gelungenem Nation Branding, die Vom Staat zur Marke lohnen, wie etwa die Trauerfeier für die Queen im September 2022, die gleichzeitig allerbeste Werbung für das britische Königshaus war. Die detailreiche Schilderung dieses Megaevents zeigt auch sehr schön auf, dass es die Details sind, die zählen. Übrigens: Das gelungenste Negativ-Branding weltweit kommt gegenwärtig von der Regierung der USA, das die Branding-Spezialisten natürlich positiv zu wenden trachten, indem sie das Verhalten des impulsiven Chaoten an der Spitze als strategic ambiguity zu labeln versucht.

"Die Herausforderung für Zivilgesellschaft und Regierungen besteht darin, gemeinsam und selbstbewusst ein authentisches und liberales, attraktives und vor allen Dingen widerstandsfähiges Markenprofil zu entwickeln und zu kommunizieren. " Allerdings könnte das so oder ähnlich auch in jedem demokratischen Parteiprogramm stehen. Und das ist mir dann doch zu wenig.

Jessica Gienow-Hecht
Vom Staat zur Marke
Die Geschichte des Nation Branding
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 22 June 2025

Zur Hölle mit dem Krieg!

Was mich zuallererst für diese Schrift einnimmt, ist die Tatsache, dass sowohl der Autor wie auch der Verfasser des Vorworts, Militärs sind. Smedley D. Butler war General des US-Marine-Corps, Erich Vad war Brigadegeneral der Bundeswehr. Sie kennen also das Kriegsgeschäft aus eigener Erfahrung. Ganz im Gegensatz zu den Kriegsbefürwortern und Kriegsgegnern, die die Talkshows bevölkern, von Medienleuten interviewt werden und auch ungefragt ihre Ansichten in die Gegend posaunen.

Zur Hölle mit dem Krieg! ist Ausdruck eines engagierten Geistes, der weder Zeit noch Energie für den üblichen Unsinn aufwenden mag, mit dem wir politisch und medial zugemüllt werden. Stattdessen nimmt er diejenigen ins Visier, die vom Krieg profitieren. Dass diese Leute sich selber raushalten, überrascht nicht; dass andere für sie zu sterben bereit sind, hingegen schon. Mit "'Durchhalten' sagte der Marschall und froh", betitelte Ernst Müller-Meiningen jr. 1957 einen seiner Artikel in Das Jahr Tausendundeins. Eine deutsche Wende?

Zur Hölle mit dem Krieg! erschien 1935; sein Autor ist kein Gegner des Militärs. Auch ist er nicht so naiv zu glauben, dass der Krieg der Vergangenheit angehören könnte. Ihm geht es darum, den Profit aus dem Krieg herauszunehmen; diejenigen über den Krieg entscheiden zu lassen, die ihn auch führen müssen; sowie den Einsatz der Streitkräfte auf die Landesverteidigung zu beschränken.

Das ist einleuchtend, vernünftig und hat wohl genau deswegen keine grosse Chance, Realität zu werden. Insbesondere seine Idee einer begrenzten Volksabstimmung, "ob der Krieg überhaupt erklärt werden soll. Ein Volksbeschluss nicht aller Wähler, sondern nur derjenigen, die zum Kämpfen und Sterben herangezogen werden, wäre nötig." überzeugt. Und wäre so recht eigentlich auch für andere Abstimmungen in Erwägung zu ziehen. Das wäre dann für einmal eine andere Demokratie als die des Geldes.

"Wer erzielt die Gewinne?" und "Wer bezahlt die Rechnungen?" lauten zwei der Titel in dieser Schrift. Und ich wundere mich wieder einmal, dass dies keine Fragen sind, die in öffentlichen bzw. medial inszenierten Debatten thematisiert werden. Aus gutem Grund, so ist zu vermuten, denn dann würden  Parolen wie "Krieg, um Kriege zu beenden" und "Krieg, um die Demokratie sicher zu machen" als das erkannt, was sie sind: Ablenkung, Vernebelung, Propaganda.

Möge Zur Hölle mit dem Krieg! ganz viele Menschen erreichen, damit wir nicht weiter auf die Instrumente der Massenpsychologie, die zum Ziel haben, uns zu willenlosen Befehlsempfängern zu machen, reinfallen. Denn nicht nur der Krieg dient dem Profit, wie Smedley D. Butler betont: "Für einige wenige bringt dieses Geschäft wie auch der Schmuggel und andere Unterweltgeschäfte, schöne Gewinne ein – aber die Kosten werden immer auf das Volk abgewälzt, das nicht davon profitiert."

Zur Hölle mit dem Krieg! ist ein überzeugend argumentiertes, an Fakten orientiertes Plädoyer gegen das Geschäfte-Machen mit dem Krieg.

Smedley D. Butler
Zur Hölle mit dem Krieg!
Herausgegeben von Erich Vad
Fiftyfifty Verlag, Köln 2025

Wednesday, 18 June 2025

Hiroshima

Den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki waren flächendeckende Brandbombenangriffe auf Tokio vorangegangen. "Bei den etwas mehr als fünf Monate dauernden Bombardements kamen nach offiziellen Statistiken insgesamt 269 187 Menschen ums Leben." Und dies obwohl die vorherrschende Meinung der amerikanischen Luftstreitkräfte in Sachen Flächenbombardement von Städten weder als moralisch vertretbar, noch als strategisch sinnvoll angesehen wurde. Wie kam es also 1945 zu einer solchen Radikalisierung der Kriegsstrategie? Und wie kam es zu den fragwürdigen moralischen Relativierungen, die darauf abzielten einen rücksichtslosen totalen Krieg zu rechtfertigen?

Natürlich kann man das letztlich nicht wissen, doch man kann wohlbegründete Vermutungen anstellen. Und genau dies tut Richard Overy, detailreich und differenziert. Einfache Erklärungen gibt es nicht, stellt er fest; die Kehrtwende, die sowohl zu den Flächenbombardements und zu den Abwürfen der Atombomben geführt haben, hat vielfältige Ursachen, nicht zuletzt der Druck, Resultate zu liefern, unter dem die Luftstreitkräfte standen.

"Der am häufigsten angeführte Grund für dieses Verhalten war der Ehrgeiz der Army Air Force, einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über Japan zu leisten, um mit den Anstrengungen der US Army in Südostasien und der US Navy im gesamten Pazifikraum mithalten zu können." Dazu kam die Rache an dem Feind. 

Da Rache nicht zu den edlen Gefühlen gerechnet wird, musste ein anderer Grund her, einer, der die Japaner abwertete und entmenschlichte. Sie wurden kollektiv wie Tiere angesehen, als Affen, Ungeziefer oder Insekten. Der Autor zitiert amerikanische Generale mit Worten, die (wie immer) mehr über sie selber, als über ihre Feinde aussagen. 

Die zweijährige Seeblockade der US Navy hatte Japan von den lebenswichtigen Rohstoff- und Öllieferungen abgeschnitten, die Zerstörungen und sozialen Umbrüche, die von den konventionellen Bombenangriffen verursacht wurden, führten jedoch nicht zur Kapitulation.

Niemals hätte man Tokio mit Bodentruppen angegriffen, das Risiko verwundet oder getötet zu werden, war viel zu gross. Geduld hatte man auch nicht. Und so entschied man sich, zu tun, was man heute noch tut: Grösstmöglichen Schaden anrichten, ohne dabei selber Schaden zu nehmen. Das funktioniert am ehesten, wenn man den Feind nicht mehr als Menschen wahrnimmt

 Richard Overy schildert aufwühlend, was  Bombenexplosion auf dem Boden anrichteten. Ein Feuersturm raffte alles hinweg, 92 Prozent der Gebäude der Stadt waren zerstört. "Die Verletzten und Toten konnten nicht fortgebracht werden, da es an Zügen und Fahrzeugen fehlte." Viele der Überlebenden machten nach Kriegsende die Erfahrung, dass sie ausgegrenzt wurden, denn die wenigsten wollten an den Krieg erinnert werden. Hiroshima zeigt auch eindrücklich, wie unterschiedlich in Japan und Amerika mit dem Abwurf der Atombombe umgegangen wurde.

"Die Entrüstung über den Überraschungsangriff auf Pearl Harbour beherrschte die Meinungen der Amerikaner über den japanischen Feind." Dass die Abwürfe der Atombomben eine Gräueltat war, wussten auch die Amerikaner, und so beeilte sich das amerikanische Militär, zu betonen, dass man Ziele angegriffen habe, die, in der Worten der Militärs, "ausreichend militärischer Natur waren, um nach den Regeln der zivilisierten Kriegsführung einen Angriff zu rechtfertigen." Unabhängige Berichterstattung wurde zensuriert, insbesondere über die Auswirkung der Strahlungen durfte nicht berichtet werden.

Hiroshima ist ein eindrückliches Werk, das uns vor allem vor Augen führt, dass der Mensch weder zivilisiert noch eine erfreuliche Spezies ist. Sein Talent zum Selbstbetrug ist sein grösstes. So behauptete Präsident Truman, der Abwurf der Atombombe über Hiroshima sei in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht erfolgt. Und: "Auf dem Stützpunkt segnete der Militärpfarrer die Crew vor dem Einsatz und bat Gott für sie um Kraft." !!! Man fasst es nicht, glaubte damals, so etwas sei nicht mehr möglich, doch der Mensch ist wie er ist, und solange er nicht ein anderer wird, wird sich niemals etwas ändern.

Überaus aufschlussreich (und desillusionierend) sind die juristischen Versuche, Bombenangriffe auf Zivilisten zu ächten. Definitionen, Interpretationen, Rechtfertigungen zuhauf. Die Haager Luftkriegsregeln, das Kriegsvölkerrecht, die Genfer Konventionen inklusive der Zusatzprotokolle – niemand hält sich dran. Die Hoffnung von Oppenheimer and anderen, "die Erfahrung einer einzigen Atombombenexplosion würde ausreichen, um eine Welt ohne Kriege zu schaffen", hat sich als Illusion erwiesen.

Richard Overy 
Hiroshima
Wie die Atombombe möglich wurde
Rowohlt Berlin 2025

Sunday, 15 June 2025

Schmutzige Geschäfte im Niemandsland

Was wirklich auf der Welt los ist, erfahren wir nicht aus öffentlichen Debatten über Migration oder Neutralität, sondern aus gelegentlichen Blicken hinter die Kulissen. Dabei wird auch deutlich, dass vieles durchaus bekannt ist bzw. sein könnte, auch wenn es selten im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht. Dies versucht Schmutzige Geschäfte im Niemandsland zu korrigieren.

Atossa Araxia Abrahamian beginnt Schmutzige Geschäfte im Niemandsland mit dem Versuch, Genf, die Stadt ihrer Kindheit, zu beschreiben. Neben der offenkundigen Internationalität ("Fast die Hälfte der Genfer Bevölkerung stammt ursprünglich nicht aus der Schweiz.") ist da noch etwas anderes im Gange. etwas Unsichtbares. Sie legt dar wie ihre "Heimatstadt Genf und ihre Nation, die Schweiz, durch die Menschen, Kriege und Gesetze, die sie prägten, das Fundament für die heutige Welt geprägt haben. Sie werden entdecken, wie das Schweizer Modell andere Staaten dazu inspirierte  ..". Die Gründe dafür sucht sie in der Geschichte. Es ist dies der allgemein gängige Ansatz, der leider das wirklich Wesentliche (Was ist es, dass die Schweiz zu einer so erfolgreichen Hehler-Nation hat werden lassen?) aussen vor lässt, auch wenn er durchaus Interessantes zu Tage fördert.

Dass diese kleine Stadt und dieses kleine Land, von dessen Territorium sechzig Prozent nicht bewohnbar sind, zu einem derart mächtigen Offshore-Finanzplatz werden konnten, verwundert und befremdet.

Die Schweizer sind ein ausgesprochen geschäftstüchtiges Volk. Die Autorin zitiert dazu Jean Ziegler: "Sie verkauften ihre Landsleute als Söldner an ausländische Regierungen." Ziegler sieht die Schweiz als Ermöglicher des Kapitalismus hinter den Kulissen. Ein Ausfluss des Calvinismus? Auf jeden Fall wird dieses Land von einem sehr speziellen Geist regiert, zu dem eine ziemlich einzigartige Heimlichtuerei sowie das Fehlen eines Unrechtbewusstseins gehört.

Atossa Araxia Abrahamian lebt heute in New York, beschreibt also aus der Distanz "die Macht über die 41 000 Quadratkilometer und darüber hinaus", die in der Mitte Europas liegt. Mit dem Söldnerwesen wurde die gesellschaftliche Stabilität (aufrührerischen jungen Männern verschaffte man einen Arbeitsplatz und hielt sie fern des Heimatlandes) geschaffen, die die Schweiz auch heute noch auszeichnet. Dazu kam der Nationalcharakter, der sich durch die Fähigkeit, Regeln aufzustellen und Gesetze zu erlassen (26 Staaten mit je eigener Verwaltung, Regierung, Parlament für verhältnismässig wenige Leute) von anderen Staaten unterscheidet.

Doch nicht nur von der Schweiz ist die Rede, sondern auch von Singapur, Luxemburg, La Réunion mit seiner Exportproduktionszone, den Offshore-Asyllagern auf Manus und Nauru, Boten und Spitzbergen. Ob dabei globale Unternehmen und Superreiche Regierungen austricksen, wie der Untertitel behauptet, finde ich jedoch fraglich; mein Eindruck ist, dass diese Exterritorialität, geschaffen mit juristischen Tricks, von den Regierenden durchaus gewollt ist.

"Kapitalisten, unentwegt auf der Jagd nach Profit, betrachten Offshore-Rechtsräume als ihr Niemandsland." Damit ist im wesentlichen umrissen, wovon dieses Werk handelt. An anderer Stelle formuliert die Autorin es so. "Wenn Regeln die Reichen begünstigen, brauchen die Reichen nicht gegen die Regeln zu verstossen."

Der Untertitel dieses Werkes, Wie globale Unternehmen und Superreiche unsere Regierungen austricksen, mag Verschwörungstheorien nahelegen, doch weit gefehlt. Wie kommt es eigentlich, dass es Zollfreigebiete gibt? Diese sind eine juristische Fiktion, denn Zollfreilager sind ausgedachte Orte mit ausgedachten Regeln. "Die juristische Person ist in den USA das am meisten verbreitete Beispiel einer Rechtsfiktion: Wir wissen, dass Unternehmen keine Personen sind, und doch geniessen sie im politischen Leben und vor Gerichte den Status einer 'Person'".

So recht eigentlich ist ganz vieles, was die globale Wirtschaft möglich macht, eine juristische Konstruktion, man könnte auch sagen, eine Anomalie. So unterstehen etwas Botschaften, Freihäfen, Steueroasen, Containerschiffe, arktische Archipele und tropische Stadtstaaten keiner nationalen Gerichtsbarkeit. "Allein in den Vereinigten Staaten gibt es 193 aktive 'Freihandelszonen', die von den Zollvorschriften befreit sind." Da all dies legal ist, müsste so recht eigentlich der Begriff Rechtsstaat eine Korrektur erfahren.

Schmutzige Geschäfte im Niemandsland ist eine detailreiche, gut geschriebene, mitunter etwas langfädige Aufklärung über ein eigentliches Paralleluniversum für Wohlhabende, eine juristische Fiktion sondergleichen, die auch deswegen möglich ist, weil sich selten jemand darüber Gedanken macht. Zum Aufschlussreichsten an diesem Werk gehören die Ausführungen zum Weltraumgesetz, das Atossa Araxia Abrahamian so kommentiert: "Das Ansinnen, die Gesetze der Menschen auf ein so weitläufiges, so unergründliches und so zeitloses Reich anzuwenden, ist so fruchtlos und egozentrisch, dass auch nur der Mensch darauf kommen konnte. Aber bei Gott, genau das haben wir getan."

Atossa Araxia Abrahamian
Schmutzige Geschäfte im Niemandsland
Wie globale Unternehmen und Superreiche
unsere Regierungen austricksen
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025