Wednesday 29 June 2022

Siegfried Kuhn. Pressefotograf 1959-1995

Er wusste, was er wollte, manipulierte auch, machte Dinge, die heute nicht mehr möglich wären, doch es ging ihm um die Sache, nicht um sich, und das ist selten, total selten. Mit diesen Worten (ich zitiere aus dem Gedächtnis) des Herausgebers Markus Schürpf im Kopf betrachte ich die Bilder in diesem Buch. Mit Wohlwollen also, denn mir gefällt, wenn es jemandem um die Sache und nicht, wie es heutzutage 'normal' scheint, dauernd und so recht eigentlich ausschliesslich um sich selbst geht.

Siegfried Kuhn hat 2005 mit der Arbeit an diesem Band begonnen und landete nach zahlreichen Absagen 2017 im Fotobüro Bern, wie ich von Markus Schürpf erfuhr. Um die 5000 Aufnahmen wurden digitalisiert, Texte zusammengestellt; 911 Fotos gelangten dann schlussendlich ins Buch. Eine Herkulesarbeit, die viel Kreativität erfordert und weder im Alleingang bewältigt werden kann noch soll. Die zahlreichen Mitarbeiter an diesem eindrücklichen Band finden sich im Impressum aufgeführt.

Dieses über 400 Seiten dicke Werk ist nicht so sehr ein Buch über die Arbeiten des 1931 geborenen Siegfried Kuhn und seiner Frau Maja (wobei es das selbstverständlich auch ist), sondern vor allem ein Schweizer Geschichtsbuch durch die Augen der Verantwortlichen des Verlagshauses Ringier, das bekannt dafür ist, sogenannt volksnahe Politiker prominent zu machen. Es ist dies ein Blickwinkel, der sich davon leiten lässt, was gekauft werden könnte. Mit anderen Worten: Die Schweiz, wie sie gesehen werden soll.

Doch Siegfried Kuhn war nicht nur ein Ringier-Angestellter, sondern auch ein eigenwilliger und kreativer Mann, der schon als Bub (seine Eltern führten in Lyss ein Fotogeschäft) von der Fotografie begeistert war und davon "träumte als Reporter zu arbeiten und die Welt zu erobern." Nicht wenige seiner frühen Arbeiten machten mich schmunzeln. Zum Beispiel darüber, dass es ihm gelang, "aus dem Moment heraus eine spezielle Situation zu arrangieren" (einen Händedruck zwischen Sophia Loren und der Radgrösse Fausto Coppi) oder über diese schöne Ironie (von der ich allerdings nicht weiss, ob sie intendiert war): "Einmal war ich dabei, als der Zürcher Regierungsrat Hans Meierhans die neue Blindlandepiste einweihte."

Medien bilden die Welt nicht ab, sondern kreieren eine Medienwelt, die wesentlich der Stabilisierung der Gesellschaft dient, weshalb denn auch ganz viel über Sport und das Militär, diese Organisationen des sozialen Zusammenhalts, berichtet wird. Dass die höheren Armeemitglieder ins Bild gesetzt wurden wie das 1981 im "Gelben Heft" geschah, wirkt heute wie Folklore. Am Rande: Bilder zu lesen, bedeutet immer auch, sich zu fragen, was einem nicht gezeigt wird.

Das meint beileibe nicht, dass in diesem Band eine reine Schönwetterschweiz zu finden ist, denn da werden nicht nur Prominente abgelichtet, sondern auch viele andere, die auf die eine oder andere Art speziell sind. Etwa der 1911 geborene Jakob Ingold, der in einem selbst erbauten Wohnhaus ohne Strom und Wasser am Ufer des Burgäschisees lebt. Oder der Bauer Brülisauer, dem Siegfried Kuhn mehr als eine Stunde hinterher lief, "bis sich der richtige Moment ergab und sich das Bild so präsentierte, wie ich es im Kopf hatte." Treffender kann man (Foto)Journalismus kaum beschreiben.

Wie das bei Pressefotos so ist: Viele sind Schnappschüsse, bei denen weniger die Kunst des Einrahmens im Vordergrund steht, sondern dass man zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Als Brigitte Bardot und Gunter Sachs in Gstaad auf der Strasse unterwegs waren, zum Beispiel. Die bösen Blicke des Letzteren trieben dann den Fotografen in die Flucht, wie er berichtete. Fotografisch besonders interessant finde ich die inszenierten Aufnahmen. Etwa vom Schweizer Skispringer Hans Schmid oder vom Hornussen. Bei beiden ist eine Serie und nicht nur ein Einzelbild zu sehen, was dazu beiträgt, dass man das Gefühl hat, vor Ort mit dabei zu sein.

Fotografien wirken, weil sie Gefühle transportieren. Er lügt wie ein Augenzeuge, sagt ein russisches Sprichwort, und das meint unter anderem: Wir sehen in Bildern, was wir sehen wollen. Unser Sehen ist individuell sehr verschieden und hängt wesentlich davon ab, mit welchem Vorwissen bzw. mit welcher Einstellung wir ein Bild betrachten. Als einer, der viele Jahre im Ausland verbracht und noch nie viel Interesse am öffentlich zelebrierten Geschehen in der Schweiz hatte, wirken viele der Aufnahmen in diesem Band exotisch und unwirklich auf mich – was mir zusagt.

Nicht bewusst war mir auch, dass das Sich-zur-Schau-Stellen der Politiker (der eine zeigt sich auf den Knien beim Gärtnern, der andere macht einen Kopfstand, noch ein anderer hält – allerdings wenig begeistert, Siegfried Kuhn hatte ihn überrumpelt  ein Schweizerfähnchen in der Hand) schon damals gang und gäbe war, und einige von der öffentlichen Zuneigung offenbar gar nicht genug kriegen konnten. Für mich ist das allerdings eher Werbung mit der unsäglichen Tendenz zum Personenkult (eine Journalistenkrankheit) als Fotojournalismus (die Grenze war schon damals fliessend, heute ist sie fast gar nicht mehr auszumachen).

Im Gegensatz zu den Fotografen, die ihre Arbeit als Kunst verstehen, die selbsterklärend sein soll, ist für die Pressefotografie kennzeichnend, dass sie ein Zusammenspiel von Bild und Text ist. Die Geschichten, die Siegfried Kuhn zu den Bildern erzählt, tragen nicht nur dazu bei, dass man weiss, was man vor sich hat, sie liefern auch immer wieder nützliche und interessante Hintergrundinformationen. So etwa zu einer Aufnahme von einer Geiselnahme in der polnischen Botschaft in Bern, wo fälschlicherweise Reto Hügin als Fotograf angegeben war. "Dabei verbrachte er besagten Moment schlafend in einem Berner Hotel."

Es kann gar nicht genug betont werden, weshalb ich mich denn auch wiederhole: Siegfried Kuhn ging es um die Sache und nicht um sich selber. Damit ist er eine Ausnahme unter den Fotografen. Überdies macht er auch immer wieder klar, dass seine Arbeit zusammen mit seiner Frau Maja entstanden ist. ("Immer erschienen ihre Bilder unter meinem Namen, ohne dass jemand auch nur das Geringste bemerkt oder bemängelt hätte."). Die beiden waren ein Team, dieses Buch ist auch ein Dokument ihres gemeinsamen Schaffens.

Fazit: Eine überaus faszinierende Zeitreise, reich an spannenden Details; ein beeindruckendes Porträt, das der Vielfalt der Schweiz ein gelungenes Denkmal setzt.  

Siegfried Kuhn
Pressefotograf 1959-1995
Scheidegger & Spiess, Zürich 2022

Wednesday 22 June 2022

Second Nature

This is a most fascinating and irritating tome. I feel at the same time drawn to these pics and appaled by what I deem the absurdity of this endeavour to (sort of) naturalise technology. Moreover, to call this work Second Nature I do find quite a stretch. Nevertheless, I'm fond of the aesthetic pleasure these photographs evoke. As regards the motivaton, I'm less enchanted.
There are two essays that accompany these pics. I wasn't too sure what to make of the title "Transcending Nature: Antennafication of Humans and Trees" by Ziad Mahayni but it surely made me laugh out loud. How come? Well, to start with, we still do only understand a very small part of nature, so how could we possibly transform what we are not even capable of grasping? Secondly, I'm at a complete loss as to what "antennafication of humans" could possibly mean. Are we turning into antennas? I for one would definitely not be interested. As always, what we see in a picture we bring to it.

The second essay "Fake Foliage and Faux-cades: The contextual authenticity of disguised infrastructure", despite its rather pretentious title, is the typical academic piece that goes back to history in order to explain phenomena that did not exist back then. Amy Clarke takes a different view: "Much of the infrastructure we now hide had its origins in the nineteenth century, and it was initially celebrated rather than disguised." It is an interesting and informative read.
My own take on these pics: I see these cell phone towers as yet another attempt of not wanting to confront the reality that we've created. We can't really stand ourselves and what we have created respectively and so we prefer to rather not see it. Hence we hide it, beautify it or make it look exotic. No question, these cell phone towers do look intriguing, I find them marvellous and distinctly unreal.

Last but not least, this is a tome that to me is an invitation to ponder fundamental questions, And, that is exactly what the two essays that complement the pictures do. Also, I think the framing excellent. Richard Rorty came to mind: "Existence with all its horrors is endurable only as an aesthetic fact."

Işık Kaya & Thomas Georg Blank

Second Nature
Kehrer, Heidelberg 2022

Wednesday 15 June 2022

GENUA La Superba

Martin, der in Ligurien, in der Nähe von Genua, viel Zeit verbringt, hat mir von diesem Buch geschwärmt und auch erzählt, die Autorin verbringe ihre Zeit zwischen Haldenstein und Genua. Da ich selber solche Hin-und-Her-Phasen kenne – einst zwischen Bangkok und Sargans, heutzutage zwischen Santa Cruz do Sul und Sargans – , stelle ich mir vor, die Autorin sei von Genua so angefressen wie ich von meinen eigenen Wahlwohnorten.

Ich kenne die Stadt nicht, habe nur letzthin auf der Hinfahrt nach Cinque Terre die Gegend um den Bahnhof erkundet. Auch Prisca Roth, die Autorin von Genua – La Superbabeginnt mit dem Bahnhofsplatz – wobei: nicht ganz, zuerst zitiert sie Italo Calvino, doch da ich zu ihm keinen Bezug habe, überspringe ich das – und nimmt einen dann gleichsam an der Hand, erläutert, was man sieht, geht unweigerlich (sie ist Historikerin) zurück in die Geschichte – es ist lehrreich, was man erfährt, unaufgeregt vorgetragen, in einem mir sympathischen Ton. 

Schon bald merke ich, dass das kein Buch ist, das man so liest wie etwa eine Erzählung oder einen Roman. Vielmehr ist es ein Werk, das sich als Führer durch die Stadt eignet. Man muss, was hier beschrieben wird, vor Augen haben, um die dazugehörigen Informationen zu schätzen. Jedenfalls stelle ich mir das so vor. Und obwohl ich noch nie mit einem Reiseführer durch eine Stadt gestreift bin, kann ich mir das mit Genua – La Superba gut vorstellen. Und so nehme ich mir vor, nächstens für ein paar Tage hinzufahren.

Wobei: Dieses Buch ist so anschaulich geschrieben und zudem mit zahlreichen Bildern und Illustrationen versehen, dass es auch zuhause gelesen werden kann, besonders dann, wenn man sich einzelne Kapitel herausgreift – jedenfalls ist es mir so ergangen. Speziell "Genua: Das Meer der Schweiz. Von Hotelköniginnen und Bahnpionieren, Zuckerbäckern und Prostituierten – Eine Hommage an Genuas Migrationsgeschichte" hat es mir angetan. Auch natürlich, weil da Franz Josef Bucher und Josef Durrer porträtiert werden, die sich die Konzession für den Bau der Righi-Bahn in Genua sicherten. Der Einschub über "Die Rig(h)i am Mittelmeer" macht mein Herz vor Freude hüpfen, so wunderbar sachlich, unprätentiös und treffend ist er geschrieben – wie überhaupt dieses Buch. Franz Josef Bucher scheint übrigens mehr der PR-Mann gewesen zu sein (ausser subito! kannte er kein Italienisch), Josef Durrer musste dessen Versprechen dann umsetzen.

"Genua ist eine weltoffene, multiethnische Stadt. Durch ihre Position als Hafenstadt ist sie besonders von der Immigration aus den Entwicklungs- und Schwellenländern betroffen." Das bedeutet auch illegale Einwanderung sowie Prostitution, die "nicht wie andernorts hauptsächlich nachts, sondern tagsüber ausgeübt wird." Übrigens: Die Prostitution ist in Italien kein Vergehen, strafbar ist jedoch, sich an den Prostituierten finanziell zu bereichern. "Dies sind in erster Linie die Hausbesitzer, die ihre Lokale an die Prostituierten vermieten."

Von Friedrich Glauser lese ich, der sich 1938 im Stadtteil Nervi aufhielt, von Margaritta Fanconi-Klainguti, die nicht nur im Engadin, sondern auch in Nervi ein Hotel erwarb, von beschwerlichen Reisen (vor der Eröffnung der Gotthardbahn im Jahr 1882 musste man mit 28 Stunden Reisezeit rechnen), die durch eine direkte Zugverbindung von Nervi nach Zürich obsolet wurden. Zarli Carigiet, Ernest Hemingway und Henri Guisan waren Gäste im Hotel Savoia der Familie Beeler.

Genua – La Superba ist eine Schatztruhe voller faszinierender Geschichten. Zum Beispiel der von Anna Josepha Paulina Scheuber, geboren 1864 in Büren, Nidwalden, die als 14Jährige, ohne ihren Eltern Bescheid zu sagen, nach Nervi reiste, sich dort als Hilfsköchin in einer Fremdenpension verdingte, von einem betuchten Ehepaar nach Buenos Aires mitgenommen wird, im Alter von 24 nach Nervi zurückkehrt und dort die "Villa Pagoda" ersteigert und daraus ein renommiertes Hotel macht. Soweit ein paar Eckpunkte, die ganze Geschichte verläuft um einiges dramatischer.

Zudem ist Genua – La Superba ein überaus clever gestaltetes Buch, nicht nur der Typografie und Bilderanordnung wegen. Bereits ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt einem nicht nur die beeindruckende Vielfalt der behandelten Themen, sie macht einem deutlich (klar doch, ich rede von mir, halte mich jedoch diesbezüglich nicht für eine Ausnahme), dass man es mit einer fantasievollen Autorin zu tun hat, die neugierig zu machen versteht. Ein paar willkürlich ausgewählte Titel mögen dies illustrieren: Sant'Anna: der schiefste Platz und die älteste Apotheke; Im Namen Gottes und des Profits; Maultierpfade mit Meerblick; Petit-Versailles mit Küche in Genua; Eine Bergwanderung auf Genuas Balkon.

Das Buch schliesst mit einem Serviceteil, der unter anderem auch darüber informiert, dass es eine Direktverbindung Zürich-Genua gibt, einen Barbiersalon, der unter Denkmalschutz steht und in Betrieb ist, sowie die begehrtesten Buchhandlungen aufführt. Und was ist die beste Reisezeit? Auch das erfahren Sie in diesem wirklich tollen Buch.

Prisca Roth
GENUA - La Superba
Streifzüge durch die Kulturstadt
Hier & Jetzt, Zürich 2022

Wednesday 8 June 2022

Alles ist visualisierbar

Ist wirklich alles visualisierbar, wie der Titel dieses Buches behauptet? Ist es nicht. Visualisierbar ist nur, was wir uns vorstellen können. Nur eben: Alles ist visualisierbar ist kein philosophisches oder erkenntnistheoretisches Werk, sondern eine praktische Anleitung wie man besser und klarer Informationen vermitteln kann. 

Die Autorin Mägi Brändle unterrichtete Sprache und Kommunikation an der Berner Fachhochschule und betreibt ein eigenes Büro https://visualisierbar.ch/. Weder zeichnet sie, seit sie ein Kind war, noch hat sie eine gestalterische Ausbildung absolviert. "Das soll Ihnen als Ansporn dienen. Alles, was Sie in diesem Buch sehen, ist durch Freude am Üben, Beobachten und Ausprobieren entstanden." Eine ganz wunderbare Lebensphilosophie, die Therapien überflüssig macht!

Unser Gehirn könne Bilder tausendfach schneller verarbeiten als Text, lese ich. Und frage mich: Wie kann man das bloss messen? Auch dass wir uns an Bilder besser erinnern als an Texte, behauptet die Autorin. Auch hier ist mir nicht klar, was die messbare Grundlage für eine solche Behauptung sein könnte. Doch wie dem auch sei, gewiss ist, dass wir uns in Bildern erinnern. Und genauso gewiss ist, dass Worte Bilder in unserem Kopf hervorrufen können. Lesen Sie den Satz: Weinflecken auf einem Tischtuch. Unweigerlich werden in Ihrem Kopf Bilder entstehen.

Text und Bild funktionieren am besten zusammen. Vorausgesetzt, wir beschäftigen uns aktiv mit dem Textinhalt. "Ohne Aktivierung döst unser Gehirn in Ruhe weiter." So isses! Auch weil Bilder oft mehrdeutig sind, ist es sinnvoll Text und Bild zu kombinieren. "Sobald nämlich darunter steht, was genau gemeint ist, sehen das erstaunlicherweise auch alle." In den Worten von Goethe: Wir können nur er-kennen nur was wir kennen.

Alles ist visualisierbar ist gegliedert in "Wie: Vorgehen Schritt um Schritt, "Womit: Material" sowie "Wann & Wo: Einsatzmöglichkeiten." Ich habe gestaunt wie variantenreich etwa die Typografie eingesetzt werden kann. Und war positiv überrascht wie zum Beispiel Sätze, die sich mir nicht unmittelbar erschlossen – "Damit Ihre Handschrift möglichst leserlich ist, sollten Sie darauf achten, dass die Innenräume der Buchstaben, die sogenannten Punzen, möglichst sichtbar und geschlossen sind." – , mir nach einem Blick auf die dazugegebene Illustration sofort klar waren. 

Die vielen Beispiele, die Mägi Brändle anführt, lösen bei mir geradezu eine Lawine von Aha-Effekten aus. Das liegt daran, dass mir vor Augen geführt wird, was mir erläutert wird. Dazu kommen Sätze, die für mich weit über das Gestalterische hinausgehen und so recht eigentlich Lebensanleitungen sind. "Bei Grossbuchstaben ist die Tendenz kleiner, die Buchstaben zusammenzuhängen und schnell zu schreiben. Und E n t s c h l e u n i g u n g ist beim leserlich Scheiben wie gesagt eine gute Sache." Entschleunigung ist darüber hinaus eine höchst nützliche Übung, um etwas von seinem Leben mitzukriegen.

Fasziniert hat mich unter anderem wie unterschiedlich Pfeile, die als Strukturelemente überaus nützlich sind, dargestellt werden können. Und wie sinnvoll es ist anstatt zum Handy zum Notizbuch zu greifen. Auch musste ich immer mal wieder spontan heraus lachen. "Hände sind beim Visualisieren eine echte Knacknuss. Die gute Nachricht: Wir können sie einfach weglassen. Drücken Sie einer Person einfach einen Stift, ein Buch oder ein Tablet in die Hand, ohne dass diese explizit dargestellt werden."

Alles ist visualisierbar ist ein Augenöffner. Was natürlich auch daran liegt, dass ich mir über Gestaltung und Design noch nie gross Gedanken gemacht habe. So wusste ich zum Beispiel nicht, was ein Textcontainer ist. "Container sind Rahmen um einen Text herum." So weit, so gut. Wirklich spannend ist jedoch wie vielfältig ein solcher gestaltet und angeordnet werden kann. Auch habe ich mir noch nie Gedanken dazu gemacht, wie man Gesichter visualisieren kann. Hier nur soviel: Sehr, sehr verschieden. Und mit relativ geringem Aufwand. Doch darauf kommen muss man ... und da erweist sich dieses Buch als wahre Fundgrube.

Fazit: Sehr nützlich & sehr zu empfehlen!

Mägi Brändle
Alles ist visualisierbar
Nehmen Sie den Stift selbst in die Hand
hep Verlag, Bern 2022

Wednesday 1 June 2022

Robinson Crusoe

Daniel Defoes Robinson Crusoe gehört zu den Büchern, deren Geschichte man in seiner Jugend gehört hat (klar doch, ich rede von mir), und woran man sich vage erinnert (der Held strandet auf einer Insel, wo er zusammen mit einem Eingeborenen namens Freitag, sich zum Überlebenskünstler mausert --- oder so ähnlich). Als ich jetzt im Alter zu diesem Werk greife bin ich immer mal wieder überrascht ob der differenzierten Schilderung dieses zweifelnden und getriebenen Robinson, der sich seinem Schicksal, das er immer mal wieder ganz unterschiedlich interpretiert, ausgeliefert fühlt und damit nicht wenig hadert.

Seine Eltern wollen ihn zu einem Juristen machen, er selber will zur See, fühlt sich dazu getrieben. Während heftiger Stürme besinnt er sich anders, will er zurück nach Hause, doch kaum hat sich die See beruhigt, wollen seine Gefühle nichts mehr davon wissen. Dass die Vernunft uns leitet ist ein Mythos, Robinson ist dies bewusst.

Als während eines heftigen Sturms das Schiff zu Bruch geht, ist er der einzige Überlebende, den es auf eine unbewohnte Insel verschlagen hat. "Nachdem sich mein Herz so an meiner Rettung geweidet hatte, begann ich mich umzuschauen, an was für einem Ort ich eigentlich wäre und was zunächst zu tun sei. Da entfiel mir der Mut bald wieder, und ich fand, dass dies in Wahrheit eine Rettung furchtbarer Art war; denn ich war durchnässt, hatte keine andern Kleider, noch irgendetwas zu essen und zu trinken zu meiner Labsal und sah kein anderes Schicksal vor mir, als Hungers zu sterben oder von wilden Tieren zerrissen zu werden." Soviel zum Traum vom Leben auf einer einsamen Insel.

Diese düsteren Aussichten lassen ihn zur Überzeugung kommen, Gott habe ihm dieses Schicksal bestimmt. Als er die vom Schiff gerettete Bibel aufschlägt, waren dies die ersten Worte, auf die seine Augen fielen: "Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen." Und genau das tut er dann auch.

Als er sich eingerichtet hat, beginnt er die Insel zu erkunden und muss feststellen, dass es wesentlich bessere Plätze gegeben hätte, um sich niederzulassen, als den Ort, an dem er sich zu bleiben entschlossen hat  doch umziehen will er nicht. So ist der Mensch: Hat er sich einmal entschieden, ist er nur mehr schwer davon abzubringen

Robinson Crusoe ist so recht eigentlich ein philosophisches Buch, jedenfalls lese ich es so, das sich mit der Art Fragen auseinandersetzt, denen der Mensch, sofern er denn nicht dazu gezwungen ist, tunlichst aus dem Weg geht. Doch auf einer Insel ist das schwierig, kann man nicht ausweichen: Was mache ich jetzt eigentlich mit dem Leben, in das ich ungefragt hineingeworfen worden bin? Und da die möglichen Antworten darauf ausgesprochen verwirrend sein können, verlegt er sich auf Praktisches: Wie schütze ich mich? Wie ernähre ich mich?

Doch immer wieder holen ihn die Schicksalfragen ein. "Jetzt begann ich, die Worte "Rufe mich an, so will ich dich erretten" in einem anderen Sinne zu begreifen, als ich vorher getan. Damals dachte ich bei  Errettung immer nur an meine Erlösung aus der Gefangenschaft; denn obgleich ich Raum genug hatte, war die Insel ein Gefängnis für mich, und zwar im schlimmsten Sinne der Welt. Aber jetzt lernte ich, es in anderem Sinne zu nehmen. Jetzt sah ich auf mein vergangenes Leben in solchem Grauen, meine Sünden erschienen mir so schrecklich, dass meine Seele nichts anderes bei Gott suchte als Erlösung von der Last meiner Schuld, die mich erdrückte." Dass er sich von sich weg und seine Gedanken auf höhere Dinge richtet, hat Erstaunliches zur Folge: "Ich fand einen Trost in mir selber, von dem ich bisher nichts gewusst."

Eines Tages sieht er plötzlich Wilde auf der Insel. Und einige Zeit später Wilde, die in Kanoes gekommen waren, und zwar mit Gefangenen, die sie nun zu verspeisen beabsichtigten. Robinson gelingt es, einen der beiden, Freitag, zu befreien. Wie's weiter geht will ich hier nicht verraten ...

Robinson Crusoe erzählt die Geschichte einer persönlichen Transformation, die Hans Reisiger in seinem Nachwort so charakterisiert: "Die innere Wandlung Robinson Crusoes vom gedanken- und gottlosen Seefahrer zum frommen Haushalter seiner Seele und humanen 'Wildenbekehrer', vom blind lebensgierigen jungen Trotzkopf zum reifen, seiner Verantwortung vor Gott bewussten Mann gibt der Erzählung erst die rechte Kraft."

Robinson Crusoe bedient sich des Abenteuerromans um sich mit den Grundfragen der menschlichen Existenz ("Blosses Stillesitzen und Wünschen konnte nichts helfen. Aber die Not machte mich erfinderisch.") auseinanderzusetzen. Das Leben als Abenteuer zu begreifen gehört zu den wesentlichen Lehren dieses zeitlosen Werkes.

Daniel Defoe
Robinson Crusoe
Penguin Edition, München 2022