Wednesday 26 August 2020

Der Augenblick der Fotografie

"Am Anfang meines Interesses an der Fotografie stand nicht das Machen und Betrachten von Bildern, sondern das Lesen über sie", beginnt Geoff Dyer seine Einleitung zu diesem Band mit Essays von John Berger. Mir ging es genau gleich, auch wenn es in meinem Falle nicht die Texte von Susan Sontag, Roland Barthes und John Berger waren, sondern diejenigen von John Szarkowski, Janet Malcolm und John Berger, dessen Ways of Seeing mein Verhältnis zur Fotografie wesentlich geprägt hat.

Die in diesem Band versammelten Essays machen mich aufmerksamer, wacher, schärfen mein Bewusstsein. Nicht nur in Bezug auf die Fotografie, sondern in Bezug auf die Erscheinungsformen des Lebens insgesamt. So zeigt Bergers Beschreibung der Bombardierung Nordvietnams, dass Worte manchmal stärkere Bilder zu erzeugen vermögen als Fotografien.

"Unter anderem Sieben-Tonnen-Superbomben, die, jede einzelne, ein Gebiet von ca. 8000 Quadratmetern dem Erdboden gleichmachen. Mit ihnen zusammen auch kleine Splitterbomben. Eine ist mit Plastiksplittern geladen, die Röntgenstrahlen nicht mehr feststellen können, wenn sie sich durchs Fleisch gebohrt und im Körper festgesetzt haben. Eine andere wird Spinne genannt: ein kleiner, granatenförmiger Sprengkörper mit fast unsichtbaren, dreissig Zentimeter langen Fühlern, die ihn bei Berührung hochgehen lassen. Diese Bomben, die überall dort abgeworfen werden, wo grössere Explosionen stattgefunden haben, sollen Überlebende zerreissen, die herbeilaufen, um entstandene Brände zu löschen oder Verwundeten zu helfen."

John Berger (1926-2017) war ein neugieriger und überaus aufmerksamer Zeitgenosse, kein Theoretiker, sondern ein unabhängiger Geist und scharfer Denker, der immer wieder aufzeigt, wie das Sehen und das Fotografieren sich unterscheiden. "Die Kamera rettet bestimmte Erscheinungsbilder vor der sonst unvermeidlichen Überlagerung durch weitere Erscheinungsbilder."

Den Fotografen Jean Mohr. mit dem er oft zusammengearbeitet hat. charakterisiert er als Mensch, für den die Welt eine ständige, grosse Überraschung gewesen sei. "Oft auf erschreckende, manchmal auch wunderbare Weise. Die Fotos, die Jean sein Leben lang machte, sind das Resultat einer Wachheit, die von diesem Sich-Überraschen-Lassen herrührt." Das gilt genauso für Berger selbst.

Einer der Augenöffner in diesem Band findet sich unter dem Titel 'Geschichten': "Wenn es eine spezifische fotografische Erzählform gibt, kommt sie dann nicht der des Films nahe? Überraschenderweise sind Fotografien das Gegenteil von Filmen. Fotografien sind retrospektiv und werden auch so angenommen: Filme sind antizipatorisch. Vor einer Fotografie fragt man danach, was da war. Im Kino wartet man darauf, was als Nächstes folgt. Alle Filme sind, in diesem Sinne, Abenteuer: Sie gehen voran, sie kommen an. Die Bezeichnung flashback ist ein Eingeständnis dieser unerbittlichen Ungeduld des Films, der vorankommen will."

Auf einen anderen Augenöffner stiess ich im Gespräch, das Berger mit Sebastião Salgado führte. In vielen seiner Bilder sei der Himmel sehr wichtig, doch nicht im Sinne der Ästhetik, bemerkt er zu Salgado "Der Himmel ist in bestimmten Momenten die einzige Instanz, an die man sich wenden kann. Wer im Himmel hört ihnen zu? Vielleicht Gott. Vielleicht die Toten. Vielleicht sogar die Geschichte." Nun ja, rhetorische Frage lassen sich nun einmal schlecht beantworten, doch ich gucke mir künftig Salgados Himmel mit neuem Augen an.

Fazit: Ein wacher Geist, der einen das Sehen lehrt.

John Berger
Der Augenblick der Fotografie
Essays
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2020

Wednesday 19 August 2020

Südlich vom Ende der Welt

Ein genialerer Titel als Südlich vom Ende der Welt ist schwer vorstellbar, nicht zuletzt, weil er auch als Hinweis gelten mag, dass unsere gängigen Ordnungsvorstellungen, so hilfreich sie oft sind, ihre Grenzen haben. Doch worum geht's?

Die 1988 in Klagenfurt geborene Allgemeinmedizinerin Carmen Possnig hat ein Jahr in der Antarktis verbracht, "Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50° hat". Sie hat dort zusammen mit anderen erforscht, wie sich der Mensch Extrembedingungen anpasst. "Seit ihrer Rückkehr beschäftigt sie sich im Rahmen ihres Promotionsprojekts an der Universität Innsbruck mit Weltraummedizin." So viel Weltneugier begeistert mich geradezu!

Sie muss massenhaft Tests über sich ergehen lassen, bevor sie schliesslich von der ESA, der Europäischen Weltraumorganisation, rekrutiert wird. "Über drei Stunden lang befragt mich der Psychologe zu meiner Motivation,, meinen Kindheitserinnerungen und meiner Beziehung zu der Cousine dritten Grades meiner Oma."

Die Forschungsstation Concordia gehört zu insgesamt 40 Forschungsstationen in der Antarktis. Doch weshalb betreibt man da eigentlich Forschung für die Weltraummedizin? Weil man keine Station auf dem Mond oder dem Mars hat, muss man eben auf möglichst vergleichbare Szenarien zurückgreifen. Und da Concordia sich "ein bisschen wie eine Station auf einem anderen Planeten" anfühlt, eignet sie sich dafür.

Die junge Ärztin, die sich "für alles, was die Menschheit dem Mars näher bringt" begeistert, erhält in München, Köln und St. Etienne (auch kulturelle) Einführungen in ihre künftige Arbeit. "An unseren ersten Konversationen beteilige ich mich lediglich mit einem ratlosen Lächeln und verwirrtem Gesichtsausdruck."

Bereits der Hinflug liest sich wie eine spannende Abenteuergeschichte. "In der Ferne taucht aus dem Morgennebel ein graues Ungetüm auf. Mehr Drache als Flugzeug, vier grosse Propeller, ein dicker Bauch: eine C-130 Hercules (...) Das Ohropax benötigen wir dringend. Unterhaltungen sind während des Fluges unmöglich, der Drache dröhnt, stöhnt, vibriert und wackelt vor sich hin."

Die humorbegabte Carmen Possnig schildert das Leben auf der 3233 Meter über Meer gelegenen Station höchst anschaulich. Sie berichtet unter anderem von der anfänglichen Schlaflosigkeit sowie Anflügen von Höhenkrankheit, der wilden Gerüchteküche, dem Fehlen von Fernsehen und schnellem Internet und davon, dass sich die ersten Schritte auf dem Schnee ganz anders anfühlen als zu Hause. "Meine Stiefel bringen ein trocken-quietschendes Geräusch hervor."

Das Potential für Konflikte ist in beengten Verhältnissen naturgemäss gross. Dass die Crews auf antarktischen Stationen hauptsächlich aus Männern und einem kleinen Anteil an Frauen bestehen, ist für ein gedeihliches Zusammenleben auch nicht gerade ideal. Dazu kommt, dass "die meisten Franzosen kein Italienisch, die meisten Italiener kein Französisch und viele von ihnen nur wenig Englisch sprechen." Schon etwas eigenartig, dass das bei allen Tests keine Rolle spielte.

Südlich vom Ende der Welt schildert nicht nur die Situation vor Ort, wo alle unter einem Schlafdefizit und den dazugehörigen Konzentrationsproblemen leiden, sondern erzählt auch von den Südpolexpeditionen von Robert Falcon Scott, Roald Amundsen und Ernest Shackleton.

Als sie nach einem Jahr, das sie mangels geeigneterer Worte mit "sehr kalt" und "unglaublich schön" zusammenfasst, macht sie auf dem Rückflug auch Halt auf der drei Flugstunden entfernten amerikanischen McMurdo Station, wo für jeden Schritt ausserhalb der Stadtgrenzen ein Kurs absolviert oder ein Zertifikat gemacht werden muss. "Ich bin erstaunt, dass ich den Winter in Concordia ohne derartige Hinweisschilder überleben konnte und dass ich hier ohne Zertifikat duschen darf."

Fazit: Lehrreich, unterhaltsam und inspirierend.

Carmen Possnig
Südlich vom Ende der Welt
Wo die Nacht 4 Monate dauert
und ein warmer Tag minus 50° hat
Ludwig Verlag, München 2020

Wednesday 12 August 2020

Wie Bilder Wahlkampf machen

Die Autorinnen dieses Bandes forschen und lehren als Politikwissenschaftlerinnen an der Universität Wien. Wie Bilder Wahlkampf machen ist ein akademisches Buch und das meint, dass auch das Allerbanalste referenziert wird. Selbst eine Aussage wie dass Wahlkämpfe und Bilder zusammengehören, kommt ohne Quellenangabe nicht aus!

"Das Buch setzt sich mit rezenten politik- und kommunikationswissenschaftlichen Forschungen zur Bildverwendung in der politischen Kommunikation sowie mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Bildanalyse auseinander und wendet diese erstmals auf den österreichischen Kontext an", lese ich auf dem Buchumschlag. Als an akademischen Debatten Uninteressierter und mit der österreichischen Politik Unvertrauter  interessiert mich an diesem Band allein, ob der Titel hält, was er verspricht.

Zehn Funktionen politischer Bilder haben die Autorinnen ausgemacht: Implizite Argumentation, Agenda Setting, Dramatisierung, Emotionalisierung. Imagebildung, Identifikation, Dokumentation, Symbolisierung, Transport und Mehrdeutigkeit. Sie erwähnen auch, dass sich diese "ergänzen und auch überlagern können."

Je weiter ich mit der Lektüre vorankomme, je klarer wird mir, dass ich mir unter dem Titel etwas anderes vorgestellt habe als die beiden Autorinnen. Ich hatte gehofft, mir werde aufgezeigt, wie man den Einfluss von Bildern messen kann, das Buch handelt hingegen davon, was andere (meist) Akademiker zu Visuellem Storytelling, Visueller Selbstinszenierung, Image Management etc. publiziert haben. 

Positiv formuliert: Wie Bilder Wahlkampf machen gibt einen gut geschriebenen Überblick zum Thema Bilder und Politik. Dass der Text sich angesichts der zahlreichen Definitionen (die Anker im akademischen Meer) ausgesprochen flüssig liest, ist bemerkenswert.

Dieser Bestandesaufnahme, die auch eine grosse Fleissarbeit ist, fehlt jedoch das kritische Hinterfragen. So wird etwa in Kapitel 4, "Mit Bildern Geschichten erzählen: Visuelles Storytelling im Wahlkampf" ausführlich auf verschiedene Storytelling-Arten eingegangen, jedoch ohne dass das Storytelling an sich kritisch beleuchtet wird (wie etwa hier). 

Besonders aufschlussreich fand ich die Ausführungen über Michelle Obamas Gemüsegarten (gutes Storytelling!) sowie die Schilderungen der mich nicht überraschenden Selbstinszenierungsfähigkeiten von 
Alexandria Ocasio-Cortez.

Ein Satz wie "Bilder können Menschen zu 'Affektgemeinschaften' verbinden" ("können" ist so vage, dass es schon fast keine Aussage ist) weist auf das Dilemma dieser Studie hin: Der Absenz von klaren, eindeutigen und verbindlichen Aussagen. Das ist eben so, wenn man sich bemüht, wissenschaftlich zu arbeiten - mehr als "educated guesses" sind nicht zu haben und diese lasse ich mir gerne gefallen, wenn sie so unprätentiös daherkommen wie in diesem Werk.

Petra Bernhardt
Karin Liebhart
Wie Bilder Wahlkampf machen
mandelbaum verlag, Wien 2020 

Wednesday 5 August 2020

Framing Bordeaux (1)





Taken with a Samsung Galaxy A6 in June 2019.