Dass es exponentielles Wachstum gibt, ist mir erst in der Corona-Zeit wirklich bewusst geworden, obwohl ich das berühmte Seerosenbeispiel schon lange kannte. Dass sich die Weltbevölkerung in nur vierzig Jahren, von 1960 bis 2000 von drei auf sechs Milliarden verdoppelt hat, ist mir jedoch überhaupt nicht klar gewesen. "Im Jahrzehnt darauf kam eine weitere Milliarde hinzu und in den nächsten vier Jahrzehnten wird sie noch einmal um drei Milliarden wachsen", schreibt Michael McCarthy in Faltergestöber. Doch nicht nur die Bevölkerung, auch der Konsum explodiert. Das rechte Mass ist uns schon längst abhanden gekommen; Mehr-Mehr-Mehr ist unsere Devise. Wir sind alle süchtig und das meint nicht etwa 'auf der Suche', sondern krank (Sucht kommt von siech = krank).
Wir sind gerade dabei, unsere Lebensgrundlage, den Planeten Erde, zu zerstören. Wie können wir nur so blöd sein? Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass wir uns falsch sehen, denn uns fehlt die Einsicht, "dass Menschen nicht per se gut sind und sich nicht freiwillig ändern, wenn es gegen ihre egoistischen Motive geht. Da kann man genauso gut von Katzen verlangen, dass sie keine Vögel mehr jagen."
Nur eben: Dass alles mit allem verbunden ist, "dass einzelne Pflanzen- und Tierarten mit anderen lebenden Organismen, die allesamt nicht bloss miteinander, sondern auch mit ihrer Umgebung agieren", ist eine relativ neue Einsicht. Unser fragiles Ökosystem verlangt Rücksichtnahme, eine Eigenschaft also, mit der man im Raubtierkapitalismus nicht weit kommt. "In den Mainstream jedoch hat das Empfinden der Einheit mit der Biosphäre keinen Eingang gefunden. Er spielt bei den Entscheidungsträgern der modernen Welt und den Abermillionen, die sich nach ihnen richten, keine Rolle, sondern wird in anthropologische und spirituelle Nischen abgedrängt."
Faltergestöber ist ein zutiefst persönliches
Buch, das auch die schwierigen familiären Umstände des Autors, die offen und gänzlich unprätentiös geschildert werden, nicht ausspart und damit deutlich macht. in was für einem komplexen und schwer zu durchschauenden Netzwerk unser Leben abläuft: Ganz viele Faktoren, die wir nicht bestimmen können, sind da am Werk. Doch da sind auch die, auf die wir Einfluss nehmen. Wie wir das tun, hängt von unserer Grundeinstellung ab.
Michael McCarthys Grundeinstellung ist die Liebe zur Natur. Und diese zu wecken ist das Ziel dieses Buches. Seine nüchterne und pragmatische Herangehensweise hat meine Sympathie. "Ich bin kein Wissenschaftler, weder Evolutionsbiologe noch Psychologe; ich will nichts beweisen, nicht logisch argumentieren, sondern schlicht sagen: Das habe ich erlebt, vielleicht kann es zum Verständnis beitragen." Wobei: Wie viele gebildete Engländer, stapelt er da schon ziemlich tief, denn schliesslich kommentiert er aussergewöhnlich kenntnisreich, was er beobachtet hat
Wir Menschen halten uns für Rationalisten, doch die Eigenbeurteilung, wir wir alle wissen, trifft selten zu. Auch wenn es unsere Eitelkeit kränken mag, unsere Instinkte prägen unser Verhalten weit mehr als unser Kopf. "Verallgemeinernd könnte man sagen, wir besässen, tief in unseren Genen verankert, eine starke, intuitive Bindung zu unserer Umwelt."
Das Problem ist: Die wenigsten nehmen diese Intuition wahr; unser Wirtschaftssystem verlangt Wachstum. Innert nur gerade 50 Jahren wurde die Hälfte der britischen Biodiversität vernichtet, grösstenteils durch die Landwirtschaft. Dass die Ressourcen begrenzt sind, kümmert uns nicht, da unser Denken nicht langfristig ausgerichtet, sondern von 'Nach mir die Sintflut' geprägt ist. Auch das angeblich in grossen Zeitspannen denkende China richtet sich danach aus. "Nirgendwo auf der Welt wird die Zerstörung der Natur unerbittlicher und gründlicher betrieben als in der Volksrepublik, die vermutlich in Kürze zur grössten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen wird."
Faltergestöber handelt unter anderem von einer Flussmündung in Südkorea, die einem Prestigeprojekt weichen muss. Dafür wird der Lebensraum von vielen Watvögeln zerstört. Als ich das lese, wird mir bewusst, wie selten mir klar ist (wie selten ich spüre, heisst das), dass die Erde nicht nur der Lebensraum von uns Menschen ist. Faltergestöber schärft mein Bewusstsein. Und das ist nötig. Apropos Flussmündung: "Kennen Sie etwa ein winziges Mündungslied? Über Berge und Flüsse, über Wälder und Wiesen und Seen gibt es Lieder in Hülle und Fülle. Aber über Mündungen? Nein." Ich bin mir gewiss, ich werde Flussmündungen künftig neu sehen.
Michael McCarthy versteht es ausgezeichnet, sein Staunen über die Welt zu vermitteln. Jedenfalls glaubte ich seine Glücksgefühle und, ja, seine Liebe zur Natur nachempfinden zu können. Nur wenn wir das Staunen wieder lernen, werden wir den Glauben an den Wert der Natur, die Ehrfurcht vor der Schöpfung erfahren. Faltergestöber regt vielfältig dazu an, es ist ein ganz wunderbares Buch!
Michael McCarthy
Faltergestöber
Vom Glück, das die Natur uns schenkt
Matthes & Seitz Berlin 2021
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