Wednesday 4 March 2020

Dear Oxbridge

Ich bin schon weit über die Hälfte, als ich die Charakterisierung auf dem Buchumschlag lese. Es handle sich um einen Liebesbrief an England (so auch der Untertitel), um eine messerscharfe Analyse, die tragikomisch, liebevoll und wütend sei. Da ich das Alles ganz, ganz anders gelesen habe, beschliesse ich, ab sofort nie mehr einer Verlagspropaganda Beachtung zu schenken ...

Mit England und Englischem hat "Dear Oxbridge" zwar auch zu tun, doch hauptsächlich geht es darum, dass die Autorin ganz unbedingt in Oxford und Cambridge (Oxbridge) studieren wollte und das auch geschafft hat. Ein solches Unterfangen bringt es mit sich, dass man viel über das Denken, Fühlen und Handeln der jungen Fau (Nele Pollatschek ist 1988 in Berlin geboren) erfährt – sie ist sehr ambitioniert, arbeitet hart für ihre Ziele und hat einen guten Sinn für Humor. "Dear Oxbridge" ist informativ und liest sich anregend. Aber ein Liebesbrief ist etwas anderes, abgesehen vom letzten Kapitel, einem warmherzigen und engagierten.

Dass sie's nach Oxbridge geschafft hat, liegt nicht zuletzt daran (mit ihren Noten lag sie voll im Durchschnitt), dass sie nicht aufgegeben und sich angepasst hat. "Ich musste herausfinden, was eigentlich gefragt war." Für Karriere-Interessierte ist das ein empfehlenswerter Ansatz. 

Insbesondere die Ausführungen über die unterschiedliche Art des Studierens in Deutschland und England fand ich aufschlussreich. "Anstatt wie in Deutschland sehr wenig sehr tief zu tun, tut man sehr. sehr viel mit einer gewissen Oberflächlichkeit (…) Das Ideal des Oxbridge-Studium, speziell des geisteswissenschaftlichen, ist dann auch nicht korrektes wissenschaftliches Arbeiten und nicht mal Kenntnis des eigenen Faches, sondern die Fähigkeit, über fast jedes Thema gewinnbringend reden zu können."

"Wer in Oxbridge studiert, der lernt nicht primär, die Methoden eines Faches, sondern wie man in kürzester Zeit grosse Mengen an Daten so bearbeitet, dass man sich eloquent und innovativ über sie äussern kann." Und dies, so die Autorin, prädestiniere Oxbridge-Absolventen für eine Grosszahl von Berufen, insbesondere für Führungspositionen. Ich habe da so meine Zweifel, ob es an dieser Art der Ausbildung liegt (das Elite-Label, eine Zuschreibung, die wenig mit Fähigkeiten und mehr mit Privilegien zu tun hat, scheint mir wesentlicher), denn neben den Oxbridge-Absolventen glauben auch die Absolventen der französischen ENA (ich gehe davon aus, dass das französische Lernen ein anderes ist) für Führungspositionen ganz besonders geeignet zu sein. 

Höchst spannend fand ich die Aufklärungen über das englische Klassensystem ("Der Erhalt der Monarchie, der Erhalt von England, wie wir es kennen, hängt davon ab, dass es eine Familie gibt, die von sich selbst denkt, dass sie erblich bedingt einzigartig ist.") und insbesondere das Kapitel "They: Gendern auf Englisch", einer differenzierten Auseinandersetzung mit Sprache und Denken. Gefallen hat mir auch, dass Nele Pollatscheks Oxbridge-Begeisterung mit einer durchaus nüchternen Haltung einher geht. "... dass die Art Mensch, die nach Oxford geht, wahrscheinlich ein hohes Mass an Ehrgeiz hat, mit Niederlagen nur schlecht umgehen kann und wahrscheinlich am Hochstapler-Syndrom leidet …". 

"Dear Oxbridge" ist nicht nur gut geschrieben, es ist auch ein ausgesprochen lehrreiches und sehr unterhaltsames Buch  wunderbar amüsant sind etwa die Erfahrungen der Autorin mit dem englischen Verkehr und der Pünktlichkeit. Auch mit dem englischen Gesundheitssystem machte sie Bekanntschaft und wunderte sich darüber, wie anders die Engländer im Vergleich zu den Deutschen über Psychopharmaka denken. "Because drugs work", erhält sie zur Antwort, als sie fragt, warum so oft Antidepressiva verschrieben werden. Ihre Nachforschungen scheinen dies zu bestätigen. Ich selber bin zum Schluss gekommen: Ja, Antidepressiva wirken, aber nicht gegen Depressionen. Man lese James Davies' Cracked. Why Psychiatry is doing more harm than good.

PS: Ich habe auch einmal einen Abschluss an einer Institution mit exzellenter Reputation gemacht, der Cardiff School of Journalism, Media and Cultural Studies, die auf Wikipedia als "Oxbridge for journalism" bezeichnet wird, und war weit weniger beeindruckt von meiner Ausbildung als Nele Pollatschek von ihrer. Und so recht eigentlich fand ich den Unterricht an der Charles Darwin University im australischen Darwin, die (damals) meines Wissens über gar keine Reputation verfügte, mindestens so gut, wenn nicht besser.

Nele Pollatschek
Dear Oxbridge
Liebesbrief an England
Galiani Verlag Berlin 2020

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