Es
ist jedes Mal eine Freude, ein Buch der Verlagsbuchhandlung
Liebeskind in Händen zu halten, denn ein schön gestaltetes Buch
erfreut auch die Sinne. Mit anderen Worten: Olivier Rolins Baikal
– Amur
(liebeskind,
München 2018) ist ein Buch, das ich auch aus ästhetischen Gründen
gerne lese. Und umso mehr als mich dieser Reisebericht sofort in
seinen Bann zieht.
Fünftausend
Kilometer Bahnfahrt liegen vor ihm. Vieles an dieser Zugfahrt
erinnert an vergangene Zeiten und das macht ihren Charme aus.
„Langsam zieht die typische sibirische Landschaft vorbei, zutiefst
melancholisch, dazu das Stakkato der Räder über den
Schraubverbindungen der Schienen, und manchmal wird alles überdeckt
von einem der endlosen Güterzüge, die entgegenkommen (auch das
sieht man kaum noch, auch das erinnert an die Kindheit,).“ Starke
Bilder, mir ist, als sei ich vor Ort mit dabei.
Olivier Rolin
reist mit seinem Übersetzer und Freund Waleri, einer unerlässlichen
Hilfe in diesem riesigen Land, wo uns vertraute Worte wie ‚Land‘,
‚Provinz‘ oder ‚Region‘ nicht ‚funktionieren‘. „Der
Raum verlangt nach Worten, die wir nicht haben. Selbst der Begriff
‚Wald‘, bei dem man an Picknick und Pilzsammler denkt, ist keine
angemessene Bezeichnung für die unermessliche Weite der Taiga.“
Elfmal so gross wie Frankreich ist sie und man könnte die
Vereinigten Staaten einschliesslich Alaska und Westeuropa reinpacken
und hätte dann immer noch Platz.
Russland
ist kein „normales“ Land, die Menschen dort haben Katastrophen
erlebt, „von denen wir uns keine Vorstellung machen und die es uns
einfach nicht erlauben, sie nach unseren bequemen Gewissheiten zu
beurteilen.“ Gewöhnungsbedürftig sind auch die Hotels, in denen
die beiden Reisenden absteigen. „Es sind Luxus-Zimmer,
richtige Suiten. Aber nach sowjetischem Geschmack eingerichtet:
orangefarbener Teppichboden, gelbliches Sofa mit geometrischem
Muster, gelbliche Vorhänge, dunkelbraun furnierte Möbel, an der
Decke eine spärlich beleuchtete Glaskugeltraube als Lampe, ein
golden schillernder Bettüberwurf, Schwäne mit ihren Küken beim
Schwimmen schmücken die Wand (fast hätte ich geschrieben ‚beim
Stillen‘). Die riesigen Heizkörper stehen auf Ziegelsteinen, die
das Gewicht tragen, die Steckdosen sitzen schief und hängen so weit
aus der Wand, dass man sie, typisch sowjetisch, beim Ziehen des
Steckers vollends herausreisst.“
Dass
die Russen mit den Zuständen rundum zufrieden seien, lässt sich
schlecht behaupten. Doch auch wenn die Dinge selten so sind, wie sie
sein sollten – „In
Sewerobaikalsk führte beispielsweise eine Betontreppe von beiden
Seiten auf eine Fussgängerbrücke über die Bahngeleise, die unser
Hotel, das in der Nähe des Sees lag, vom Stadtzentrum trennte. Doch
keine der Stufen, und ich meine wirklich keine, hatte dieselben
Masse, weder in der Höhe noch in der Breite: Jede war gewissermassen
eine Originalschöpfung, wodurch die Treppen nachts für einen
Betrunkenen zu einer halsbrecherischen Herausforderung wurden (eine
Situation, in der ich mich, darauf lege ich Wert, nie befunden habe;
doch Betrunkene in der Nacht, die gibt es in Russland wie anderswo,
und vielleicht sogar ein wenig häufiger).“ –
, nicht
wenige trauern den sowjetischen Zeiten nach, denn alle hatten damals
Arbeit, es gab Schulen, Renten und jeder hatte ein Dach über dem
Kopf.
Wie jede Reise
so bietet auch diese eine Gelegenheit, sich mit Land und Leuten (und
mit sich selber) auseinanderzusetzen. Dabei macht Olivier Rolin vor
allem deutlich, dass unsere bequemen westlichen Wertvorstellungen
weit weg von der russischen Realität sind, wo es um einiges wilder
zu und her geht, als man sich das im Westen gewohnt ist. Und auch
wesentlich emotionaler, leidenschaftlicher.
Unterwegs zu
sein, bedeutet ja auch immer, auf andere Reisende zu treffen und sich
mit ihnen auszutauschen. Ein Norweger, der sechsundneunzig Länder
bereist hat, ohne ein Flugzeug zu nehmen, auf die Frage nach der
schlimmsten Zugstrecke: Dakar–Bamako. „Kein Bettzeug, vierhundert
Kakerlaken. Die schlimmsten Scheisshäuser, fügt er hinzu, gab es
von Livingstone nach Kapiri Mposhi in Sambia: kein Fenster, kein
Licht, nur ein Loch im Boden, den Türgriff musste man vom Schaffner
erbitten und bloss nicht die Taschenlampe vergessen.“ Übrigens:
die langsamen (ein Glück, wer will den bloss durchs Leben rasen?)
russischen Züge verfügen über einen Samowar und in den Liegewagen
gibt es gestärkte, tadellos weisse Bettwäsche.
Baikal
– Amur ist
auch eine Reise in die russische Vergangenheit. Eine der mir liebsten
Geschichten stammt von den drei heroischen Fliegerinnen Walentina
Grisodubowa, Polina Ossipenko und Marina Raskowa, die 1938 den
weiblichen Rekord im Fernflug brachen, über der unbewohnten Taiga
abstürzten –
und
überlebten.
Wiederholt
weist Rolin auch auf die Lager und Massengräber hin, die die
russische Landschaft unter ihrer Oberfläche birgt. Er tut seinen
Teil dazu, dass das System des Gulags, das „für Generationen die
Verrohung der Verhaltensweisen, die Achtlosigkeit gegenüber anderen
in die Menschen einpflanzte“, nicht aus dem Gedächtnis
verschwinden und um „einige Bilder dieser Geschichte aus der Nacht
unserer selbst gewählten Blindheit ans Licht zu bringen und zu
vergegenwärtigen.“
Fazit: Eine
lebensphilosophische Zeitreise, witzig, differenziert und engagiert