Wednesday, 10 December 2025

Schwarzlicht

In jüngeren Jahren, als ich mir von Büchern sinngebende Einsichten versprach, pflegte ich mir wichtige Sätze anzustreichen – und da ich fast alles wichtig fand, nahmen die Unterstreichungen gelegentlich ganze Seiten ein. Daran musste ich denken, als ich María Gainzas Schwarzlicht zur Hand nahm, denn bereits die ersten Seiten begeisterten mich derart, dass ich drauf und dran war, praktisch jeden einzelnen Satz zu unterstreichen.

Hier einige ganz willkürlich ausgewählte Beispiele:

„Sie trug eine zitronengelbe Bluse und ein zerknittertes stahlgraues Kostüm. Sie machte einen gewöhnlichen, ja geradezu etwas lächerlichen Eindruck, doch ihr Äusseres war, wie ich nach einiger Zeit feststellen sollte, ihrer Geisteshaltung genau entgegengesetzt.“ Soviel zu all den Trotteln, die vom ersten Eindruck auf eine Person schliessen.

„Auch wenn sie selten davon sprach, schien sie einer älteren Zivilisation zu entstammen, die es nicht nötig hatte, alles in Worte zu fassen.“ Wie wohltuend, denkt es so in mir.

„Ich war jung, wusste wenig, und was ich wusste, verstand ich kaum, dafür jedoch weckte nahezu alles rasendes Interesse bei mir.“ Treffender kann ich meine eigene Jugend nicht beschreiben!

Die Kunstkritikerin María, die in der Welt der Kunst eine Zeitlang „ein gewisses Prestige erlangt hatte, das sich der Illusion verdankte, eine empfindsame Prosa sei Ausdruck einer ehrbaren Gesinnung, am Stil erkenne man den Charakter“, ist eigentlich nicht darauf aus, sich zu etablieren, als sie bei der Taxierungsabteilung des Banco Ciudad eine neue Stelle antritt.

Ihre Chefin, Enriqueta Macedo, führt sie in die Welt der gefälschten Kunstwerke ein. Enriqueta hatte die Fälschungen der Bande der melancholischen Fälscher („Ihre Mitglieder, die davon lebten, dass sie die Reichen übers Ohr hauten, fühlten sich wie durch ein brüderliches Band verbunden.“), ansässig in Buenos Aires, im Stadtteil Belgrano, während vierzig Jahren für echt erklärt. Im Namen der Kunst und nicht etwa des Geldes wegen. „Falsch waren ihrer Ansicht nach bloss Werke von zweifelhafter Qualität.“

Es geht in diesem glänzend geschriebenen Roman nicht nur um die darstellende Kunst („Ein Sammler kauft keine Kunst, er kauft die gesellschaftliche Bestätigung seiner Investition.“), sondern auch, und vor allem, um die Lebenskunst. „Obwohl es vordergründig immer um Malerei ging, schienen ihre Ratschläge sich in Wirklichkeit auf die Kunst des Lebens zu beziehen.“

Als Enriqueta stirbt, wird María Kunstkritikerin bei einer Zeitung. Als sie den Job verliert, macht sie sich auf die Suche nach der legendären Kunstfälscherin Negra. „… frage ich mich manchmal, ob das Fälschen nicht das einzig wirklich grosse Kunstwerk des 20. Jahrhundert darstellt.“

Schwarzlicht ist ausgesprochen reich an Lebensweisheiten, zu denen auch gehört: „Wie die Grossmutter einer Freundin immer sagte: ‚Nur weil dir schon mal was Schlimmes passiert ist, heisst das nicht, dass dir danach nichts Schlimmes mehr passieren kann.’“ Ob die Erkenntnisse, die etwa Proust („Jeder Mensch kann auf sieben genaue Kopien seiner selbst zählen.“) und anderen bekannten Autoren zugeschrieben werden, erfunden sind oder nicht, ist bei einem Werk, das sich der Fälschung widmet, schwer abzuschätzen – ich jedenfalls habe mich entschieden, sie als wahr zu betrachten.

Immer mal wieder muss/darf ich Tränen lachen. „Ohne sie war ich wie eine Kuh ohne Weide …“. Fühle ich mich nachdenklich gestimmt. „Vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie ‚die glücklichste Zeit des Lebens‘, eine Feststellung, die einen ganz schön traurig machen kann.“ Weiss ich mich mit Wesentlichem konfrontiert. „Doch wie Bach, der darum bat, ihn niemals bewaffnet ausser Haus gehen zu lassen – er fürchtete, ihn könne plötzlich Mordlust befallen – , hielt ich mich von allen Verlockungen fern.“

Schwarzlicht ist gescheit, witzig und lebensklug. Und überdies vielfältig lehrreich. Eine Perle!

María Gainza
Schwarzlicht
Roman
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2023

Sunday, 7 December 2025

Shutdown

Corona hat mich aufgeweckt und wieder neugierig gemacht. Diesmal auf Wissenschaft, für die ich mich nie gross interessiert habe. Zur Zeit jedoch finde ich all das, was mich einst begeisterte, von den Medien zur Fotografie zur Linguistik und zum Interkulturellen, ziemlich fade, Medizin und Biologie hingegen total spannend.

Für Leute wie mich, die bislang nie darüber nachgedacht haben, was eigentlich ein Virus ist – klar, von einer Viruserkrankung und einem Computer-Virus hatte ich schon gehört – , ist „Shutdown“ ein überaus nützliches Aufklärungsbuch, an dem eigentlich nur irritiert, dass es mit dem Doktortitel der Autorin hausieren geht, was für mich in aller Regel eher ein Indiz mangelnder Kompetenz ist (in diesem Falle scheint das nicht so, der Text überzeugt).

Die Autorin studierte Biologie und forschte mit Viren. Und sie versteht es, das ungeheuer breite Thema Pandemie leserfreundlich darzustellen. Das zeigt sich bereits im Prolog, der den grösseren Zusammenhang klarmacht, in dem unsere gegenwärtige Situation gesehen werden muss. „Der Mensch befeuert nicht nur den Klimawandel, sondern zerstört Natur und Umwelt in einer Dimension, die kein Ökosystem mehr verkraften kann. Viren, die bislang in einer harmonischen Symbiose mit ihrem tierischen Wirt zusammenleben, geraten unter Druck und suchen sich einen neuen Lebensraum oder zerstören den Angreifer: die Menschheit.“

À propos Zusammenhang: Dieses Buch macht mir auch bewusst, wie fahrlässig ich in den letzten Jahren auf dieser Welt (Afrika, Asien und Südamerika) unterwegs gewesen bin. Von der fehlenden Malaria Prophilaxe bis zum sorglosen Verzehr von was auch immer, ungeachtet der Faustregel „Cook it, boil it, peel it or forget it“, die ich vor Jahren noch befolgt habe, jedoch schon lange nicht mehr praktiziere. Auch in dieser Hinsicht ist „Shutdown“ ein Weckruf.

Bis vor Kurzem wusste ich nicht, dass in und auf unserem Körper Billionen von Bakterien (Lebewesen) und noch viel mehr Viren (keine Lebewesen, sie können sich nicht selbständig ernähren und vermehren) leben. Zusammen bilden sie unsere körpereigene Mikrobenarmee, der es jedoch nicht immer gelingt, Eindringlinge unschädlich zu machen.

Doch nicht nur die Zoonose ist eine weitgehend unterschätze Gefahr, auch das Wettrüsten im Bereich der biologischen Waffen wird von der breiteren Bevölkerung kaum zur Kenntnis genommen. „Laut Sunday Times gab es bereits um die Jahrtausendwende weltweit 450 Laboratorien, die mit biowaffenfähigen Krankheitserregern herumexperimentieren und zum Teil auch handeln.“ Gemäss gegenwärtigem Wissensstand stammt Covid-19 nicht aus dem Labor, die Wahrscheinlichkeit, dass das nächste Virus von dort kommt, ist jedoch viel grösser als ich gedacht hätte, was auch daran liegt, dass ich bislang nicht wirklich darüber nachgedacht habe.

Neben den biologischen Infos liefert „Shutdown“ auch viel nützliches Politwissen. Wir waren nämlich auch deswegen nicht auf Corona vorbereitet, weil Grundlagenforschung schon lange ein kümmerliches Dasein geführt hat, da sie nicht in unsere Zeit, die dem schnellen Geld verpflichtet ist, passt. „Ein breites Grundlagenwissen über Corona-Viren hätte eine Pandemie vielleicht verhindern können.“ Die Aktivitäten der Gates-Foundation sieht Ina Knobloch kritisch. „Zumindest Bill Gates und seine Stiftung scheinen immer gut vorbereitet zu sein. Zahlreiche Firmen, an denen er zum grossen Teil beteiligt ist, haben ein Rat-Race um Impfstoffe gegen das neue Corona-Virus begonnen – und die Aktien schiessen nach oben, während die meisten anderen Kurse sich im freien Fall befinden.“

Dass Ina Knobloch sich immer auch persönlich einbringt (im Gegensatz zu diesen Journalismus-Primadonnen, die vorgeben, der Objektivität verpflichtet zu sein und dabei ausser Acht lassen, dass sich persönlich zu zeigen, zu einer wahrhaft objektiven Darstellung dazugehört), gefällt mir ganz besonders an diesem Buch. Man lese etwa ihre Erfahrungen mit der Vampirfledermaus

Keine einzige Regierung, mit Ausnahme von Taiwan, Hong Kong und Südkorea (so mein Wissensstand), hat angemessen auf Corona reagiert. Die Politik tat, was sie immer tut – sie praktiziert das Durchwursteln. Politiker täten gut daran, von der Wissenschaft zu lernen: Genau Hinschauen, Fehler unverzüglich korrigieren, weiter forschen, besser werden. Das bleibt natürlich eine Illusion, denn die Politik orientiert sich nicht an der Wirklichkeit, sie bildet sich ein, diese gemäss den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen gestalten zu können. Sie wären gut beraten, sich bei Charles Darwin kundig zu machen, der hat nämlich gelehrt, dass nicht die Gescheitesten und auch nicht die Cleversten überleben, sondern die, welche sich am besten anzupassen wissen. An die Natur, nicht an die eigenen Vorstellungen!

So recht eigentlich müsste es doch mittlerweile allen klar sein, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Man denke an die verheerenden Waldbrände in Kalifornien, Australien und Amazonien. An die sintflutartigen Regenfälle in Indonesien, Ostafrika und Brasilien. An das Massensterben im Tierreich – erinnert man sich noch an die 40 000 toten Krabben, die an die Küste von Grossbritannien gespült wurden, an die 2 Millionen tote Fische, die an der Ostküste der USA angeschwemmt wurden? Ina Knobloch weist noch auf etliche weitere Fälle aus den letzten Jahren hin und mir wird bewusst, dass man all dies nicht vergessen darf und handeln muss, bevor es zu spät ist.

Fazit: Engagiert, lehrreich und aufrüttelnd.

Dr. Ina Knobloch
Shutdown
Von der Corona-Krise zur Jahrhundert-Pandemie
Droemer, München 2020

Wednesday, 3 December 2025

Auf verlorenem Posten

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"Ich wandle in der Finsternis.
Doch mich leitet der Duft des Ginsters"
So beginnt Nicolás Gómez Dávilas "Auf verlorenem Posten". Und ich bin begeistert. Es sollte nicht die einzige Erkenntnis in diesem Band voller Erkenntnisse bleiben, die mich für das eigenständige Denken des Autors einnimmt. Einige davon will ich hier vorstellen:

"Wer sich mit widersprüchlichen Evidenzen nicht abfindet, wird sich letztlich in schlüssige Täuschungen verrennen."

"Bereits die schonendste Wahrheit erscheint dem modernen Menschen eine Zumutung."

"Ich glaube mehr an das Lächeln als an den Zorn Gottes."

"Nicht die Botschaft eines Buches, sondern sein Klima ist es, das uns einlädt, in ihm zu hausen."

"Der wahre Künstler arbeitet mit der Mentalität eines Handwerkers."

"Die Originalität ist nicht etwas, wonach man sucht, sondern etwas, das man findet."

Ich habe diese Einsichten/Erkenntnisse ganz willkürlich ausgewählt, hätte mich genauso gut auch für andere entscheiden können, die 250 Druckseiten geben Anregung zu ungemein Vielem. Gefragt habe ich mich nur, wie man ein solches Buch (das ausschliesslich aus Fragmenten wie den oben erwähnten besteht) eigentlich lesen soll beziehungsweise kann. Der Aufsatz von Francisco Pizano de Brigard ("Die Schlüssel des Nicolás Gómez Dávila"), der am Ende des Buches zu finden ist, versucht Auskunft zu geben: Dávilas Scholien oder Glossen seien so kurz in der Form wie in der Aussage, erfahre ich da, und so recht eigentlich nur ganz zu verstehen, wenn man ihren Ursprung in den griechischen und lateinischen Klassikern vor dem geistigen Auge habe. "Für Don Nicolás, wie es für jeden denkenden Menschen immer der Fall war, bleibt in diesem Diskurs das Echo der Vergangenheit immer spürbar. Dies bedeutet, dass kein Problem wirklich neu, keine Frage ohne Präzedenzfall ist und keine Erfahrung uns völlig überraschen kann."

Nun ja, ich bin weder mit den griechischen noch mit den lateinischen Klassikern vertraut, halte die Vorstellung, dass das Lesen dieser im Original einen zu einem kultivierten Menschen mache, für elitären Schwachsinn und stimme trotzdem zu, "dass kein Problem wirklich neu, keine Frage ohne Präzedenzfall ist und keine Erfahrung uns völlig überraschen kann."

Man kann ein Buch aus ganz verschiedenen Gründen schätzen. Weil es spannend zu lesen ist, weil es einen unterhält, weil es interessant ist, es einem zu neuen Einsichten verhilft. Sind diese Einsichten nicht nur interessant, sondern auch noch hilfreich - und viele der Einsichten in diesem Werk von Nicolás Gómez Dávila sind es - dann ist mir ein Buch lieb und teuer. Hier einige weitere Beispiele:

"Wer weiss, dass ihm das Leben nichts schuldig ist, nimmt eine korrekte Haltung gegenüber den Dingen ein."

"Zu hören, wie auf dumme Weise kritisiert wird, was wir verachten, regt uns dazu an, es zu verteidigen."

"Das wissenschaftliche Denken klärt die Intelligenz, doch es wäscht sie dabei aus."

"Die Einsamkeit ist heutzutage etwas derart Beängstigendes, dass alle die Hitze des Konflikts vorziehen."

Nicolás Gómez Dávila
AUF VERLORENEM POSTEN
Neue Scholien zu einem inbegriffenen Text
Karolinger, Wien 1992

Sunday, 30 November 2025

In einem Käfig voller Lügen

 “… mad at the Chinese for lying so much.”
(Maxine Hong Kingston. The Woman Warrior).

Im Bus nach Quanzhou haben Chris und Johanne gesehen wie der Billetkontrolleur von drei jungen Männern durchs Feld gejagt und schliesslich blutig geschlagen wurde.

Im Winter hat sich ein Mann aufs Universitätsgelände geflüchtet, wo er von einem aufgebrachten Mob fast gelyncht worden ist. Er hatte ein Motorrad gestohlen.

Im Nebengebäude ist im letzten Semester eine chinesische Lehrerin von ihrem früheren Freund mit dem Messer angegriffen und verletzt worden.

Vor ein paar Tagen musste Lynn ins Spital nach Quanzhou eingeliefert werden. Er war ein paar Mal bewusstlos zusammengebrochen, hatte hohes Fieber, sein Hals war angeschwollen und ganz rot, er konnte nicht mehr essen.

Chris hatte am selben Tag mit Lynn zu Mittag gegessen. Dabei äusserte Lynn, er habe Angst, er hoffe, er komme hier gesund raus. Die tun dir nichts, hatte ihn Chris beruhigt. Fünf Stunden später traten die ersten Symptome auf.

Möglicherweise eine Vergiftung, sagt Chris.

Lynn glaubt, die Administration habe es auf ihn abgesehen, wolle ihm zurückzahlen, dass er sich hier nicht konform verhalten habe. Er sei übers Wochenende nicht hier gewesen, es hätte jemand also ohne weiteres in sein Appartement rein und da was ins Trinkwasser geben können.

Da Lynn schon mal einen Schüler in die Ecke stehen und nicht wenige durchfallen lässt, vermute ich eher einen Racheakt eines Schülers.

Weder Chris und Johanne, weder Lynn noch ich selber kennen den offiziellen Befund des Spitals, wir halten uns damit auch gar nicht auf. Wir zählen nicht darauf, dass uns hier jemand die Wahrheit sagt.

Zusammen mit anderen Ausländern – insgesamt 26 aus verschiedenen Ländern – unterrichten wir an einer Schule, die sich Universität nennt, jedoch eine solche nur dem Namen nach ist, in der Nähe von Quanzhou, einer 7-Millionen-Stadt in der Provinz Fukkien, in Chinas Süden.

Das Gelände ist mit Toren und Wachen gesichert, die Beziehungen zwischen der Polizei und der Universität, sagt der Vice President, exzellent. So gut, dass unsere hier ausgestellten Arbeitsvisa mit einem falschen Ablaufdatum versehen sind – ein allfälliges Abhauen soll uns teuer zu stehen kommen.

Wir stehen unter dauernder Beobachtung, werden bewacht. Um die vierzig Polizisten in Zivil sollen auf dem Gelände aktiv sein, vielleicht sind es aber auch bis zu hundertzwanzig. Nach ein paar Wochen beginnt man jedem Gerücht zu trauen.

Unterhalte ich mich auf der Strasse mit einem der anderen ausländischen Lehrer, kommt es oft vor, dass ein Chinese sich unserem Schritt anpasst und neben uns her geht. Wir wissen, dass sie unser Gespräch belauschen. Mit Kollegen, die Französisch sprechen, wechsle ich dann die Sprache.

Wer die Frau wohl ist? wundert sich Nisha, die Information Management Systems unterrichtet, als wir sehen, wie sich Sunny, die jeden Montag bei mir putzt, auf ihr Motorrad setzt. Für eine Putzfrau ist die viel zu gut gekleidet, fügt Nisha hinzu.

In jeder Klasse gibt es Schüler, deren Aufgabe es ist, dem Vice President über das Tun und Lassen des Lehrers zu berichten. Natürlich sind wir Lehrer davon nicht in Kenntnis gesetzt worden, wir erfahren davon von Lehrern, die schon im letzten Semester hier waren.

Die Studenten haben es alle, mangelnder Leistungen wegen, nicht in eine reguläre Universität geschafft. Die Studiengebühren sind hoch, damit werden die Diplome bezahlt.

In einer Kultur, wo der Schein alles gilt, wird dieser eben gekauft. Als der sehr reiche Eigentümer der Schule mit dem sehr einflussreichen Mann, der für die Vergabe der Einstufungen zuständig ist, zusammensass und um die Bezeichnung ‘Universität’ nachsuchte, meinte der einflussreiche Mann wegwerfend: “Es ist doch nur eine Name.” So will es die Legende.

Den musst du unbedingt kennen lernen, sagt Ben, ein Lehrer-Kollege, nach eigenen Angaben 54 (einige halten ihn für wesentlich älter) Jahre alt, ein Anbiederer und Gerüchteverbreiter. Der Junge, den ich unbedingt kennenlernen soll, ist der Präsident der Student Association. Ich wüsste nicht, weshalb ich den kennenlernen sollte und gebe mich entsprechend unkooperativ, ich weiss hingegen, weshalb es für Ben wichtig ist, mit dem Jungen ein gutes Verhältnis zu haben – die Student Association führt Dossiers über die einzelnen Lehrer und da Ben mit Studentinnen rummacht (dies ist verboten), ist er erpressbar und davon wird Gebrauch gemacht.

Von zwei meiner ausländischen Lehrerkollegen weiss ich, dass sie mit der Vorstellung im Kopf rumlaufen, sie könnten von einer Gruppe Studenten zusammengeschlagen werde.

Die Studenten sind auch wirklich einmal gewalttätig geworden. Vor zwei Jahren haben sie gegen die stinkenden und engen Studentenunterkünfte protestiert. Sie haben Scheiben eingeschlagen und andere Einrichtungen zerstört.

Der Eigentümer dieser Anstalt (alles in mir weigert sich, das Wort Universität in den Mund zu nehmen) rief die Bereitschaftspolizei. Der Aufstand wurde niedergeschlagen.

Viele der Studenten – sollte die Bezeichnung ‘Student’ Neugier und Lernwillen suggerieren, so sind die meisten der Jugendlichen hier keine Studenten – tun mir manchmal auch leid. Einige sagen ganz offen, dies sei die Hölle hier.

Chris hat einmal in seiner Klasse eine anonyme Umfrage gemacht: von vierzig Schülern sagten gerade einmal drei, ihnen gefiele es hier.

Ob ich auch hierhergekommen sei, weil sie mich reingelegt hätten? fragt mich eine Schülerin. Ja, antworte ich, doch ich sei auch selber blöd genug gewesen, um darauf reinzufallen. Ich hätte eben, aus Eitelkeit, gerne an einer Universität Kommunikation unterrichtet und deshalb, als die Zusage gekommen sei, alle Warnlichter ignoriert, weil ich sie habe ignorieren wollen.

Die Schülerin lacht und sagt, sie fühlten sich alle hereingelegt. Sie hätten alle gedacht, sie kämen an eine Universität, nicht in eine Art Erziehungsanstalt.

George hat genug, er will weg. Er ist bereits seit zwei Jahren hier (es ist rar, dass jemand seinen Jahresvertrag verlängert), bis vor kurzem hat es ihm gefallen. Doch dann sind plötzlich Angestellte des Academic Affairs’ Office in seinem Unterricht aufgetaucht und haben die Anwesenheitslisten überprüft. Aus einer Laune raus, weil sie nichts Besseres zu tun hatten, wie George meint.

Natürlich irrt er sich, hier tut niemand was aus einer Laune raus, hier hat jeder Vorgang System. Er verstehe eben nicht, hätten ihm seine Studenten gesagt, erzählt George. Sie hätten recht, er verstehe in der Tat nicht. Und was überhaupt?

Er muss irgendeine dieser unsichtbaren Grenzen überschritten haben, jetzt muss er dafür zahlen, wird er schikaniert. Man munkelt, er treibe es mit Studenten. Vielleicht hat sich einer von ihnen beschwert.

Bei Stuart ist an der Wand über dem Schreibtisch der Schulkalender festgemacht, er hat darauf die Tage durchgestrichen, die er bereits hier ist. Ich mache dasselbe auf meinem Kalender. Diese Praxis kenne ich sonst nur aus der Zeit als ich Schüler war und aus Filmen über das Leben im Gefängnis.

Die meiste Zeit habe ich das Gefühl, mich ganz gut im Griff zu haben. Doch als ich vorgestern Yonalkis in Havanna anrief, habe ich ganz unvermutet – ich hatte mir doch so vorgenommen, mich zusammen zu nehmen – von Gefängnis, und Albtraum, und überall sei Polizei, gesprochen und dabei brach mir fast die Stimme. Ich hab’s zuerst gar nicht gemerkt, habe nur bemerkt, dass ich wild drauflos redete, bis Yonalkis sagte, ich hör’s an deiner Stimme. Und dann fügte sie noch hinzu, sie habe immer ein schlechtes Gefühl gehabt, habe mir das auch damals, in Bellinzona noch, gesagt. Ich erwidere, ja, ja, doch ich erinnere mich nicht, nur, dass sie jetzt schon zum zweiten Mal darauf hinweist und ich mir vornehme, in Zukunft mehr auf meine Frau zu hören..

Jeweils am Samstag fahre ich mit Mister Tu, einem chinesischen Englischlehrer, auf dem Motorrrad durch die Gegend. Wir fahren jedes Mal woanders hin. Einige der Orte, die wir besuchen, kennt auch Mister Tu, der aus der Gegend stammt, nicht. Wir fühlen uns in der Zeit zurückversetzt und staunen ob der manchmal ganz eigenartigen Architektur (ich erinnere speziell einen Ort, in dem ganz viele, ganz schlanke und hohe Gebäude zu sehen waren, obwohl da eigentlich viel Platz war) und den zum Teil sehr primitiven Verhältnissen. Doch auch die Dorfbewohner staunen; die Kinder rennen heran, um den Fremdling zu sehen.

Wir reden viel auf diesen mehrstündigen Fahrten, die uns bis zu vierzig, fünfzig Kilometer weit in die Berge und Hügel der Umgebung führen. Jetzt, wo das Ende meines Aufenthaltes naht, will Mister Tu wissen, was mir zuallererst durch den Kopf gehe, wenn ich an China denke und gibt sich gleich selber die Antwort. Das Lügen und Betrügen? Ich will höflich sein, will es aber auch nicht, denn mir ist die Energie, mich dauernd zu verstellen und nett sein zu müssen, abhanden gekommen. Natürlich, fange ich an, werde in allen Kulturen gelogen und betrogen, doch das Ausmass hier sei mir neu gewesen. Doch das alles überlagernde Gefühl sei die fast vollkommene Absenz von Spass und Freude, sei dieser ständige Kampf und Krampf, diese Verbissenheit mit der, zum Beispiel im Verkehr, um jeden Millimeter gekämpft werde.

Selbstverständlich sage ich dann auch noch ein paar nette Sachen, denn dass es in diesem Lande Bewundernswertes gibt, versteht sich von selbst. Die zum Bersten vollbepackten Lastwagen und Motorräder, zum Beispiel, die einen Sinn für Ausgewogenheit und Balance verraten, der einen staunen lässt.

Doch ich mag nicht ausgewogen sein.

Ich habe genug davon, dem Regime der Heuchelei zu gehorchen. Genug davon, keine Gefühle zu zeigen. Genug davon, freudlos dahin zu leben und darauf zu warten, dass endlich Schulschluss ist.

In den letzten Schulwochen geben sich die Schüler, die während des ganzen Semesters gelangweilt, aufsässig und störrisch gewesen sind, dermassen freundlich, nett und zuvorkommend, dass schon fast beleidigend offensichtlich ist, dass sie auf Anweisung von oben handeln. Die Schlussprüfungen finden bald statt und ich soll milde gestimmt werden. Auch steht meine Abreise kurz bevor und da sollen allfällige Wogen zuvor noch geglättet werden.

Ich bin schon zu lange hier, als dass ich darauf noch hereinfallen würde. Doch ich habe auch zu viel Angst, um das Spiel nicht mitzuspielen.


Wednesday, 26 November 2025

Hannah Arendt: Ein Leben

"Willi Winkler ist ein phantastischer Erzähler", wird Claudius Seidl auf dem Schutzumschlag zitiert. Und so sehr ich Kollegenlob gegenüber skeptisch bin: Recht hat er. Dieses Werk ist ein packender Lesegenuss erster Güte.

Eine menschenwürdige Existenz, so Hannah Arendt im Jahre 1946 (sie befand sich damals in einem fremden Land, dessen Sprache ihr neu war, und musste völlig neu anfangen), sei nur am Rande der Gesellschaft möglich, "wobei man dann eben mit mehr oder weniger Humor riskiert, von ihr gesteinigt oder zum Hungertode verurteilt zu werden." Angesichts ihres späteren Lebens, dem es an Anerkennung nun wirklich nicht gemangelt hat, wirkt das reichlich melodramatisch und zeugt von eitler Selbstbezogenheit, die im Laufe ihres Lebens nicht weniger werden wird.

Hannah Arendt: Ein Leben ist ein ungeheuer dichter Text und derart differenziert, dass es einen gelegentlich fast erschlägt. Diese gewaltige Fleissarbeit überzeugt nicht zuletzt dadurch, dass sie Widersprüchlichkeiten nicht aufzulösen versucht, sondern abbildet, und dabei auch Stellung bezieht. Ein einfacher, klar zu fassender Charakter war Hannah Arendt eindeutig nicht.

Überaus spannend und aufschlussreich ist, was man alles über die vielfältigen geschichtlichen Vorkommnisse sowie Personen wie Heidegger, Jaspers, Brecht, Ingeborg Bachmann, Hans Magnis Enzensberger oder Golo Mann erfährt. Nur wenigen dieser sogenannten Geistesgrössen fühlte ich mich zugetan, allzu oft dachte es so in mir: viel Hirn, wenig Verstand. Und Herz schon gar nicht. Stattdessen derart von der eigenen Wichtigkeit überzeugt, dass es einen richtiggehend graust.

Sie flieht vor den Nazis nach Paris, trennt sich von ihrem Mann, lernt Heinrich Blücher kennen, der in Berlin nur gerade ein paar Strassen weiter gewohnt hatte. Sie könnten von ihrer Herkunft her unterschiedlicher nicht sein, heiraten. "So unnachgiebig sie sonst ihre Positionen verteidigt, bei diesem Mann ist sie nachgiebig." Auch bei Brechts Loyalität zu Stalin, die sie lediglich als "Sündenfall" beurteilte, war das so. Heidegger vergab sie offenbar so ziemlich alles. Ihre private Moral war sehr  flexibel.

Kein Leben geschieht in einem luftleeren Raum, weshalb in dieser Biografie denn auch viel Kontext zu finden ist, der einer recht überschaubaren akademischen Welt eine Bedeutung verleiht, über die sich der Laie gelegentlich wundern mag. Immer mal wieder kann man zudem lesen, dass viele der alten Nazis auch nach 1945 einflussreiche Posten besetzten. Auch im Verlagswesen.

Es ist eine überaus lehrreiche Lektüre, die Willi Winkler hier vorlegt, da man fast genauso viel über Hannah Arendts Zeitgenossen erfährt wie über sie selber. Befremdend ist jedoch, was für eine Wichtigkeit etwa Vorträgen, Vorlesungen, Aufsätzen, Büchern und Meinungen zugeschrieben wird. Was kümmert mich Walter Benjamins Einschätzung, die Lektüre der Gedichte Rilkes sei 'Entartung' und Teil einer 'Schule asozialen Verhaltens'? Oder andersrum: Wie kann man jemanden, der solchen Schwachsinn von sich gibt, eigentlich ernst nehmen? Derselbe Benjamin war übrigens lange "Brechts Verharmlosungen der Moskauer Prozesse und ihren brutalen Säuberungen wehrlos erlegen."

Hannah Arendt: Ein Leben ist reich an Details, die sich mir, jedenfalls einige von ihnen, ins Hirn eingegraben haben, so etwa Louis-Ferdinand Célines Pamphlet Bagatelles pour un massacre, in dem er "die Massakrierung aller Juden" vorschlug. Oder dass es auch 1940 eine Bewegung "America First!" gab, die sich dem Zustrom europäischer Flüchtlinge widersetzte. Oder dieser Satz aus Norman Mailers Brief an Kennedy in der "Village Voice" nach der gescheiterten Kuba-Invasion: "Sie dringen in ein Land ein, ohne seine Musik zu kennen."

Nach dem Krieg besucht Arendt auch Heidegger, ihren ehemaligen Professor und verheirateten Liebhaber, "der sich nicht zum kleinsten Schuldbekenntnis wegen seiner Unterstützung der Nazis herbeilassen will." Auch Frau Heidegger, eine Antisemitin sondergleichen, wird sie bei einem gemeinsamen Frühstück kennenlernen. "Bei alldem hat Hannah Arendt erstaunlicherweise nicht den Verstand verloren", kommentiert Willi Winkler. Ganz so, als ob bei der ganzen Heidegger-Geschichte viel Verstand im Spiel gewesen wäre.

Anlässlich einer Tagung in Mailand über "Die Zukunft der Freiheit", an der "erlauchte Namen" zugegen sind, empört sie sich über den Luxus. "Alle vollkommen und auf das primitivste korrumpiert." Konsequenzen zieht sie (wieder einmal) nicht. "Auch wenn sie sich in Mailand gerade über die kongressfinanzierten Spesenritter und -ritterinnen echauffiert hat, gehört sie doch selber dazu." 

Prominent kommt auch "Eichmann in Jerusalem" zur Sprache. Arendt fühlt sich nicht wohl in Israel, erlebt vor Ort, was die Israelis an den Nazis kritisieren und teilweise auch selber praktizieren. Willi Winkler beurteilt ihre Haltung, mit der sie auch in den Gerichtssaal gehe, als "Mischung aus amerikanischem Snobismus und deutschem Dünkel." Das trifft zweifellos zu, doch ihre Vorbehalte gegen den staatsgewordenen Zionismus sind, angesichts der jüngeren Ereignisse in Gaza und im Westjordanland, fast schon hellseherisch.

Wie der Autor Arendts Berichterstattung über diesen Prozess sowie die Geschehnisse drumherum kommentiert, ist erhellend. "Ein Schauspiel nur", lautet ein Zwischentitel; aufgefallen ist das wenigen. Die Resonanz auf "Eichmann in Jerusalem" war hingegen gross und sehr kontrovers, entlang der bereits über Arendt gemachten Meinungen. Gelegentlich überkam mich der Gedanke, Hannah Arendt: Eine Leben sei möglicherweise die einzig ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrer Person und ihren Ideen.

So sehr dies eine überzeugende Biografie ist, es geht weit darüber hinaus, da es auch viele Aspekte der Weltgeschichte nachvollziehbar macht, wie etwa die Kommunistenhatz in den USA oder die Ermordung von J.F. Kennedy. An den besorgten Jaspers schrieb sie damals: "Es ist, als sei dem Land plötzlich die Maske vom Gesicht gerissen." Das erfahren wir derzeit gerade wieder von Neuem. Genauso wie die Spaltung des Landes, die es auch zur Zeit des Vietnamkrieges gab.

Es sind die vielen Infos, die viel mehr als Anekdoten und überaus aufschlussreich sind, die dieses Werk wesentlich auszeichnen. So bezeichnete der neidische Nabokov Pasternaks Doktor Schiwago als "einen Schundroman und die Veröffentlichungsgeschichte für ein Werk der russischen Propaganda mit dem Ziel, Devisen zu vereinnahmen." Und Saul Bellow charakterisierte Hannah Arendts Salon am Riverside Drive mit: "Für ihre amerikanischen Freunde war es aussichtslos, in ihren erhabenen Bereich aufgenommen zu werden. Wir waren nett, aber um ernst genommen zu werden, nicht gebildet genug."

Hannah Arendt: Ein Leben klärt nicht nur vielfältig auf, sondern unterhält auch und hat mich oft lachen gemacht. Zudem: In den sogenannt gebildeten Kreisen scheint Neid und Überheblichkeit in einem Übermass vertreten. Zur Frage der Übersetzung von "Eichmann in Jerusalem" ins Deutsche, meinte Arendt: "Heinrich Böll kommt vielleicht in Frage, keinesfalls aber Grass." Die "Blechtrommel" befand sie "für eher epigonal."  

Nicht zuletzt ist Hannah Arendt: Ein Leben ein Buch darüber, wie man mit der Vergangenheit umgeht. Dass die meisten versuchen, ihr Verhalten schönzureden, ist wohlbekannt; es detailliert vorgeführt zu kriegen noch einmal etwas anderes. Hannah Arendt gehörte in ihren öffentlichen Verlautbarungen nicht zu diesen meisten. "Macht beginnt immer dort, wo die Öffentlichkeit aufhört."

Dass und wie es der Autor geschafft hat, aus dieser Informationsfülle ein nicht nur ausgesprochen lesbares, sondern ein wirklich spannendes und unterhaltsames Buch zu machen, ist eine Meisterleistung, auch wenn er sich gelegentlich wiederholt, was bei dieser Informationsfülle kaum zu vermeiden ist – und auch gar nicht stört, da es so vielleicht eher im Gedächtnis bleibt.

Willi Winkler
Hannah Arendt
Ein Leben
Rowohlt, Hamburg 2025

Sunday, 23 November 2025

Moskauer Erinnerungen

Dass unsere Zeit auch dadurch gekennzeichnet ist, dass wir in Informationen ersaufen, ist zwar ein Gemeinplatz, doch staune ich immer mal wieder, wovon ich überhaupt nicht Kenntnis genommen habe. Etwa davon, dass Memorial International, eine russische Menschenrechtsorganisation, im Dezember 2022 den Friedensnobelpreis erhalten hat (sie war damals bereits liquidiert worden). Irina Scherbakowa gehörte zu den 28 Board Members. 

"Seit dem 24. Februar 2022, als der grosse Krieg begann und ich Russland verlassen musste, habe ich mich oft gefragt: Waren wir naiv, daran zu glauben? Hätten wir als Historiker nicht erkennen müssen, welche Konsequenzen es haben kann, wenn man nur vorübergehend Lehren aus der Vergangenheit zieht, wenn sie nicht fest verankert sind, sondern nur allzu leicht revidiert werden können, zugunsten eines revisionistischen Imperialismus, eines neu erstarkten Nationalismus?"

Die Vorstellung, dass wir aus der Geschichte lernen können, ist mir im Laufe meines Lebens fremd geworden. Heutzutage halte ich es mit Hegel, der da meinte: "Das Einzige, was wir aus der Geschichte lernen, ist, dass wir nichts aus der Geschichte lernen." Dass das Historiker anders sehen (Irina Scherbakowa ist Historikerin), versteht sich. 

"Wenn ich heute daran denke, mit welchen Hoffnungen Memorial 1989 gestartet war, welche Hoffnungen in Ost und West zu dieser Zeit gehegt haben, frage ich mich immer wieder: Wie konnte es bloss dazu kommen, dass aus diesen grossen Hoffnungen verlorene Illusionen wurden?" 

In den 1990er-Jahren gab es nicht nur die Perestroika, sondern auch Flüchtlinge sowie Kriminelle, die aus den kaukasischen Republiken nach Moskau kamen, sich dort je nach Zugehörigkeit zu Banden zusammenschlossen und "die verschiedene Lebensbereiche unter ihre Kontrolle brachten: Die einen nahmen sich der Märkte an, die anderen der Banken, die Dritten der Hotelbranche." Dann gab es auch noch die, die Wohnungen plünderten; auch Irina Scherbakowas Familie sollte Opfer der alltäglichen Gewalt werden.

Eindrücklich schildert die Autorin, wie die Legalisierung der Privatwirtschaft, die organisierte Kriminalität zum Erblühen brachte. Die Miliz wird nicht mehr zu Hilfe gerufen, vielmehr meidet man sie so gut man kann. Immer wieder kommt die Gewalt zur Sprache. Bekanntlich wird diese auch in Filmen über amerikanische Gangstersagen verherrlicht. "Der grosse Unterschied besteht darin, dass der Kodex und die Moralvorstellungen der 'Diebe im Gesetz' in Russland nach und nach zur Normalität wurden." Nur eben: Ähnliches ist mittlerweile auch in den USA zu beobachten.

Und auch dies hat mich an die USA erinnert, obwohl die Rede von der sowjetischen Vergangenheit ist (und es natürlich grosse Unterschiede gegeben hat; leere Regale und kilometerlange Schlangen gab es meines Wissens in den USA nicht, die rosarote Brille hingegen schon): "In meiner Vorstellung dachte ich, dieser Zeit könne wohl niemand nachtrauern, allein schon weil sich alle noch lebhaft an die leeren Regale, die kilometerlangen Schlangen und die desaströse Wirtschaftslage erinnern konnten. Tatsächlich aber begannen viele bereits ab Mitte der Neunziger, wenn nicht die Stalinzeit, so doch zumindest die Ära Breschnew durch die rosarote Brille zu betrachten ...". Daraus könnte man schliessen, dass der Mensch halt eben blöd bzw. ignorant ist. Die zweite Wahl von D.T. zum amerikanischen Präsidenten unterstreicht das genauso; das Chaos seiner ersten Amtszeit hatte die meisten Amerikaner offenbar nichts gelehrt.

Und dann, Irina Scherbakowa traute ihren Augen nicht, kehrten die Lenin-Statuen zurück. Auch ich selber traue meinen Augen ob des Geschehens auf dem Planeten Erde häufig nicht, doch gleichzeitig wundere ich mich auch, wie oft viele "Studierte" (zu denen ich selber gehöre) in den letzten Jahren mit ihren Einschätzungen danebenlagen. Beileibe nicht alle; gut informierte, nüchtern denkende Beobachter hatte die Invasion der Ukraine nicht überrascht.

Der Schlüssel würde noch passen ist die Autobiografie der 1949 in Moskau geborenen Irina Scherbakowa, die damit auch eine russische/sowjetische Zeit schildert, die einem im Westen aufgewachsenen Menschen ferner und fremder nicht sein könnte. Das ist einer der Gründe, weshalb die Lektüre lohnt; ein anderer ist die reflektierte Auseinandersetzung der Autorin mit dieser Zeit. 

Am Rande: Zu meinen liebsten Schilderungen gehört der erste Flug der damals 18Jährigen in einer Iljuschin-14 von Moskau auf die Krim. "Ich fand den dreistündigen Flug wahnsinnig aufregend, vor allem wegen der starken Turbulenzen. Jedes Luftloch löste eine Begeisterung bei mir aus, die meine Mutter nicht teilte. Sie krallte sich kreidebleich an den Armlehnen fest ....".. 

Nicht nur von der Familie berichtet die Autorin, sondern auch von Freunden, und speziell von Tanja, "von Natur aus Sozialrevolutionärin, eine echte Demokratin, viel mehr als ich." Sie litt stark unter der sozialen Ungleichheit und der ungerechten Behandlung. "Ich weiss nicht, wie ich die Schwermut beschreiben soll, die Tanja Anfang der 2000er-Jahre in Wellen einholte, besonders in ihrem letzten Jahr." Diese Hommage an ihre Freundin, die Dichterin, hat mich am stärksten berührt in diesen gut geschriebenen Erinnerungen, nicht zuletzt, weil sie einem bewusst macht, wie stumpf die meisten Menschen sein müssen, dass sie die ganze Primitivität, ja, die Barbarei, die in den letzten Jahren ungefiltert an die Oberfläche gespült worden ist, ertragen können.

Irina Scherbakowa
Der Schlüssel würde noch passen
Moskauer Erinnerungen
Droemer, München 2025

Wednesday, 19 November 2025

Die Zähmung des Menschen

Die Frage, ob der Mensch von Natur aus gut (Jean-Jacques Rousseau) oder schlecht (Thomas Hobbes) sei, ist nicht zuletzt auf unser Bemühen um Vereinfachung zurückzuführen und hat wesentlich mit unserem Entweder/Oder-Denken zu tun.

Richard Wrangham, geboren 1948, Professor für biologische Anthropologie an der Harvard University, findet die Frage falsch. „Statt zu versuchen, Beweise für eine der beiden Seiten zu finden, sollten wir uns fragen, ob diese Diskussion überhaupt sinnvoll ist. Säuglinge weisen uns in eine ganz andere Richtung. Die Rousseau’sche Sichtweise ist genauso richtig wie die Hobbes’sche.“ Wir sind unserem Wesen nach sowohl gut als schlecht, welche der beiden Seiten die Oberhand gewinnt, hängt von den Umständen ab.

So recht eigentlich sagt das einem ja auch der gesunde Menschenverstand, doch dieser ist leider nicht besonders verbreitet. Stattdessen lassen wir uns im Übermass von unseren Emotionen leiten und die sind häufig wenig dienlich. Anders gesagt: Die Tatsache, dass in gewissen Situationen Panikgefühle aufkommen, bedeutet nicht, dass man diesen unverzüglich nachgeben soll. Und überhaupt: Wozu mangelnde Impulskontrolle führen kann, zeigt uns das Trump-Desaster in den USA täglich. Gescheiter ist, genau hinzugucken. Und Fragen zu stellen. Und sich die nötige Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Und genau dies hat Richard Wrangham getan.

So stellte er unter anderem fest, dass nicht miteinander verwandte Arten sich in vieler Hinsicht verblüffend ähneln. Auch beschäftigte er sich mit der These, dass wir Menschen eine domestizierte Art seien. „Wenn wir eine domestizierte Art sind, wie sind wir dann dazu geworden? Wer sollte uns denn domestiziert haben?“ Selbstdomestizierung, lautet die Antwort und wie die vonstatten gegangen ist, führt der Autor anhand ganz vieler faszinierender Geschichten überzeugend aus.

Frieden innerhalb der Gruppe und Gewalt gegenüber Fremden, gemäss diesem Muster scheinen wir Menschen zu funktionieren. Überall auf der Welt verhalten sich Soldaten im Krieg anders als zuhause. Doch natürlich ist es nicht so simpel – zuhause anständig, im Krieg pervers – und Richard Wrangham erklärt wieso. Dabei befasst er sich auch mit häuslicher und sexueller Gewalt in Friedenszeiten. Zudem unterscheidet er zwischen aktiver und reaktiver Aggression – letztere beurteilen die Menschen milder, aus ihr erwächst letztlich die soziale Toleranz. Die aktive Form der Aggression ist es, die uns als Menschen so tödlich macht.

Wie es Universitätsprofessoren geziemt, hat sich auch Richard Wrangham durch beträchtliche Mengen von Studien und Literatur gearbeitet – Die Zähmung des Menschen ist nicht zuletzt eine eindrückliche Fleissarbeit, eine gut geschriebene notabene. Das Themenspektrum ist ausgesprochen breit und geht weit über die Anthropologie hinaus. Wer sich über Sätze wie: „Die Sprache scheint eine notwendige Voraussetzung zur vorsätzlichen Tötung eines Individuums zu sein“ wundert, wird an den Ausführungen in diesem Werk seine helle Freude haben.

Dieses Buch ist nicht zuletzt eine Einladung, sich an Forschungsdaten zu orientieren. Und sich mit der These auseinanderzusetzen, „dass unsere Vorfahren unbeabsichtigt einen friedlicheren Menschen hervorbrachten, indem sie die aggressivsten Männer töteten.“ Nein, der Autor ist kein Verfechter der Todesstrafe, er ist vielmehr entschieden dagegen. Schliesslich haben sich die Zeiten (und damit die Bedingungen) wesentlich geändert.

Richard Wrangham kommt zum Schluss, dass wir über eine schwach ausgeprägte Neigung zu reaktiver Aggression und eine stark ausgeprägte Tendenz zu aktiver Aggression haben. Und jetzt, was machen wir damit? Nicht die weithin geteilte, jedoch unreflektierte Überzeugung nachzubeten, Kooperation sei immer gut, sondern das Ziel verfolgen „unsere Fähigkeit zu organisierter Gewalt einzudämmen.“

Fazit: Ein Buch voller origineller Denkanstösse, das die menschliche Aggression schärfer und vielfältiger zeigt, als es bis anhin der Fall gewesen ist.

Richard Wrangham

Die Zähmung des Menschen.
Warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat. Eine neue Geschichte der Menschwerdung
DVA, München 2019