Wednesday 30 December 2020

Congo in Conversation

What a superb shot!, was my reaction to this colourful, elegantly composed cover. Images of a BBC report from twenty years ago on a fashion show at a hotel in Blantyre, Malawi, popped up in my head, the goal of which had been to show an Africa that was something different from the usual news from the continent – famine, wars, and wildlife.

Congo in Conversation, I learn from the preface, was launched by British-Canadian photographer Finbarr O’Reilly, as “an online collaborative reportage with Congolese journalists and photographers. During six months, they documented the human, social, and ecological challenges that Congo faces today, within the context of the Covid-19 crisis.” Needless to say, this publication couldn’t be more timely.

Who are they? Arlette Bashizi, Dieudonne Dirole, Justin Makangara, Al-Hadji Kudra Maliro, Danny Matsongani, Guerchom Ndebo, Raissa Karama Rwizibuka, Moses Sawasawa, Pamela Tulizo, Ley Uwera, and Bernadette Vivuya.

“Finbarr saw an opportunity for Congolese reporters to regain the central storytelling role long held by outsiders and reshape narratives around Congo. He worked with the Congolese photographers from afar, discussing subjects to cover, photo edits etc.,” Myrtille Beauvert, who looks after the press for the Carmignac Photojournalism Award, lets me know.

Congo in Conversation is introduced by a conversation ...

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Wednesday 23 December 2020

Letzte Dinge

"Tod und Bestattungskultur in China" lautet der Untertitel dieses Buchs von Maja Linnemann, die in ihrer Einführung auch auf einen 2012 erschienen wissenschaftlichen Sammelband hinweist, in dem es um aktuelle Bestattungstrends in Japan, Korea und der Volksrepublik China geht, dessen Titel für den heutigen Umgang mit dem Tod symptomatisch ist: Invisible Population: the Place of the Dead in East Asian Megacities. Erinnert hat mich dies auch an ein Gespräch mit einem Bekannten, der mich darauf aufmerksam machte, dass Friedhöfe in der Schweiz schon vor langem an den Stadtrand verlegt worden seien. Wie offenbar auch in China.

Dass der Tod zum Leben gehört, wird heute weltweit immer weniger akzeptiert. Stattdessen hält man ihn für etwas, dem wir tunlichst aus dem Weg gehen, mit dem wir uns lieber nicht auseinandersetzen sollen. Doch das Leben im Nicht-Wahrhaben-Wollen, in Illusionen (die einzige Gewissheit, die wir haben, ist, dass wir alle sterben) hat natürlich seinen Preis – die Angst. Dieses Leben in Angst ist uns meist nicht bewusst, doch im Schlaf holt sie uns alle ein.

Leben bedeutet Wandel und ständige Veränderung, und dies zeigt sich auch auf den Friedhöfen beziehungsweise der Friedhofsgestaltung, die auch vom Zeitgeist (alles muss sich rentieren) geprägt ist. Siehe dazu das Kapitel "Das Geschäft mit dem Tod".

Maja Linnemann hat zwischen 2018 und 2020 an verschiedenen Orten in China Friedhöfe besucht und auch an Beerdigungen teilgenommen. Und sie hat sich viele Fragen gestellt. "Was geschieht mit den rund zehn Millionen Menschen, die jedes Jahr in der VR China sterben? Wo kommen die vielen Toten hin, auf dem Land, in den Kleinstädten und Metropolen? Welche Formen der Bestattung gibt es? Welche Entscheidungen treffen die Angehörigen? Wie sind die Einstellungen zum Tod? Und wie läuft eine 'normale' Trauerfeier ab? Was sind die neuen Trends? Was beinhaltet die Bestattungsreform? Welche gesetzlichen Regelungen bestimmen den Umgang mit den Toten, welche traditionellen Rituale, die zu zerschlagen sich die Bestattungsreform zum Ziel gesetzt hat, haben 'überlebt', sich angepasst oder wurden durch welche neuen Rituale ersetzt? Wie sehen die Friedhöfe aus?"

Es versteht sich: Einige dieser Fragen sind nicht wirklich beantwortbar. Etwa: "Welche Entscheidungen treffen die Angehörigen?" Oder: "Wie sind die Einstellungen zum Tod". Vermutungen anstellen kann man trotzdem, informierte Vermutungen. Maja Linnemann hat nicht nur in China gelebt und gearbeitet, sondern ist auch mit einem Chinesen verheiratet, was ihr Einblicke in "Chinesisches" gibt, die denen, die "nur" Beobachter sind, unmöglich sind. Anlass, sich mit dem Tod und der Bestattungskultur in China zu befassen, war der Tod ihres Schwiegervaters im Jahr 2016.

Der schöne Titel "Kurzer Exkurs in Chinas lange Bestattungsgeschichte" deutet es an – eine alte Kultur zeichnet sich nicht zuletzt durch eine umfassende Bürokratie (die der britische Anthropologe Nigel Barley einmal treffend als "an end in itself" bezeichnete) aus und einer der Zwischentitel bringt es denn auch auf den Punkt: "Über den  korrekten Umgang mit dem Tod: Jede Menge Anweisungen."

Letzte Dinge ist ein höchst lehrreiches Werk. So erfahre ich etwa, dass der "Friedhof als ein Ort, wo Menschen, die sich zu Lebzeiten nicht kannten, eine gemeinsame letzte Ruhestätte finden" (ein Augenöffner, diese  Charakterisierung), in China, mit Ausnahme von Shanghai, bis zum Eintreffen der Europäer unbekannt war. Und ich lese von Familiengrabstätten wohlhabender Pekinger Bürger, von Gräbern, in denen vor allem Prostituierte begraben wurden, von Märtyrerfriedhöfen und von speziellen Grabstätten für grosse Männer und für einige wenige Frauen (etwa Konfuzius oder die Kaiserinwitwe Cixi, die am 9. November 1909 bestattet wurde, einem Datum, das die Astrologen bestimmt hatten).

Was mich vor allem für Letzte Dinge einnimmt, ist, dass die Autorin den Leser an ihrer persönlichen Entdeckungsreise teilnehmen lässt, indem sie schildert, wie sie vorgegangen ist und was sie dabei erlebt hat. So berichtet sie etwa, dass ein Bild der 'Grabstelle' des Neo-Konfuzianers Zhu Xi, der vor über 800 Jahren starb, sie neugierig machte. "In der Annahme, es handele sich um ein Foto des Originalgrabes aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, fragte ich beim Museum auf der Hardt in Wuppertal an, das die Nachfolge des Missionsmuseums Barmen angetreten hat ...". Die Antwort findet sich auf Seite 174.

Maja Linnemann
Letzte Dinge
Tod und Bestattungskultur in China
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2020

Wednesday 16 December 2020

David Szalay: Turbulenzen

Dass alles miteinander zusammen hängt, davon haben wir zwar gehört (jedenfalls einige), doch damit wir auch wirklich verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir es spüren, denn Verstehen ist ein Gefühl. Eine Möglichkeit dieses Fühlens ist das Geschichtenerzählen, und ein besonders gelungenes führt uns David Szalay in Turbulenzen vor, in dem er Ereignisse miteinander verknüpft, die sich aus Flugreisen ergeben.

Eine ältere Engländerin, die in Madrid lebt und in London ihren kranken Sohn besucht hat, fühlt sich auf dem Flug von Gatwick nach Barajas unwohl. Ihr anteilnehmender Sitznachbar aus Dakar weiss noch nicht, dass ihn bei seiner Ankunft die Nachricht von einem tragischen Verkehrsunfall erwartet, bei dem ein Taxi involviert ist, in dem der Flugkapitän Werner sitzt, der ein Frachtflugzeug nach São Paulo fliegen soll, wo er die Nacht mit einer Journalistin verbringt, die am folgenden Tag in Toronto eine bekannte Schriftstellerin interviewen soll ...

Turbulenzen erzählt davon, wie ganz unterschiedliche Leben kurz aufeinandertreffen und wieder auseinandergehen und ich frage mich, ob wohl auch in der wirklichen Welt jemand so Regie führt wie das der Autor von seiner Fantasie geleitet tut. Jedenfalls kommen mir diese Zusammentreffen sehr real vor. Dass sie mit dem Unterwegssein in Flugzeugen in Verbindung stehen, gibt dem Autor auch die Möglichkeit, sich über diese den menschlichen Instinkten eher fremde Art des Reisens auszulassen. "Sie war jedes Mal erstaunt, erlebte jedes Mal eine tiefe Überraschung, wenn sich die Nase des Flugzeugs hob, wenn es sich vom Erdboden löste – obwohl sie eher das Gefühl hatte, dass der Erdboden unter ihr wegsackte." Oder: "Werner rief sich gern ins Bewusstsein, dass das Flugzeug in diesem Moment nicht mehr nicht abheben konnte, dass es keine Macht gab, die es am Boden gehalten hätte."

Da ich selber oft in Flugzeugen sitze und die meisten der aufgeführten Destinationen selber angeflogen bin bzw. mich dort aufgehalten habe (Delhi, Doha, Toronto, Hongkong, São Paulo, Bangkok, Seattle, Budapest, Ho-Chi-Minh-Stadt, Madrid, London), kommt mir vieles vertraut und gleichzeitig unwirklich vor, denn David Szalay bringt mir zu Bewusstsein, dass Lebensschicksale eigentlich ständig aufeinander treffen, obwohl wir es selten merken. Das Kennedy-Zitat in der letzten Geschichte bringt es auf den Punkt: "Denn unter dem Strich verbindet uns alle die Tatsache, dass wir diesen kleinen Planeten bewohnen. Alle dieselbe Luft atmen. Alle eine gute Zukunft für unsere Kinder wünschen. Alle sterblich sind."

Ich lese Turbulenzen wesentlich als ein Buch des Staunens. Einerseits über das Fliegen ("Unfassbar, wie winzig das Flugzeug war, sowohl angesichts der Ausdehnung des Ozeans, den sie überflogen, als auch angesichts der ungeheuren Leere, die sie auf allen Seiten umgab."), andererseits über die Empfindungen, die Begegnungen mit anderen auszulösen vermögen ("Es war einer der Momente, dachte sie, die uns zu dem machen, was wir sind, sowohl im Hinblick auf uns selbst als auch im Hinblick auf andere Menschen. Dergleichen schien aus heiterem Himmel zu passieren, und dann wirkte es für immer nach, und man begriff allmählich, dass man es nicht abschütteln konnte, dass man nie wieder derselbe Mensch wäre.").

Turbulenzen ist ein magisches Buch, das auf mich realer wirkte als das wirkliche Leben.

David Szalay
Turbulenzen
Carl Hanser Verlag, München 2020

Wednesday 9 December 2020

African Queen

 
Helge Timmerberg, geboren 1952 im hessischen Dorfitter, schreibt Reisereportagen. „African Queen“ handelt von den sieben Monaten, die er auf dem afrikanischen Kontinent verbrachte. Und von der Liebe zur Österreicherin Lisa, die so recht eigentlich der Grund war für diese Reise nach Afrika.
„Lisa nimmt meine Hand und sagt nichts. Ich schliesse mich ihrem Schweigen an, obwohl es mich drängt, ihr zum zweiten Mal dafür zu danken, dass sie mich nach Afrika gebracht hat. Ich hatte mich nicht nur dagegen gewehrt, sondern auch einiges dafür getan, sie von der Reise abzuhalten. Weil ich dachte, dass ich überreist bin. Weil ich glaubte, nicht mehr neugierig zu sein. Und weil mir dieser Kontinent am Arsch vorbeiging. Sie war stärker als ich, und jetzt freue ich mich über meine Schwäche, denn eine Fahrt durch das ländliche Afrika um diese Uhrzeit gehört zur Champions League der Reiseeindrücke.“

Lisa ist 25 Jahre jünger als Helge („ein Vierteljahrhundert“, in den Worten von Timmerberg), das bringt viel Farbe in diese Geschichte – mit der Botschaft der Hormone gehen die beiden gelegentlich etwas eigenwillig um. „Zurück in der Kabine, variieren wir das Thema Liebe auf unsere Weise. Ich liege lange wach auf meiner Pritsche und bin so scharf wie Nachbars Zierfische, aber will Lisa nicht belästigen, weil ich glaube, dass sie schläft. Und Lisa erzählt mir am nächsten Morgen, dass sie ebenfalls die halbe Nacht wachgelegen hat und mich nicht wecken wollte. Liebe ist, wenn beide unbefriedigt bleiben. Und so beginnt ein weiterer, wunderschöner Tag in Afrika.“

Timmerberg schreibt nicht nur witzig, er schreibt auch sehr informativ. Ich habe mal in Malawi gearbeitet, weiss auch, dass der Malawisee beeindruckend lang ist, doch dass er 570 Kilometer lang und 75 Kilometer breit und bis zu 704 Metern tief ist, erinnerte ich nicht mehr. Total neu war mir, dass es sich bei diesem Gewässer um das fischartenreichste der Erde handelt. „Vierhundertfünfzig Arten insgesamt, Buntbarsche, Nilhechte, Welse, Karpfen, Salme und diese kleinen Flitzer, deren Namen ich vergessen habe, die aber weltweit als der Mercedes unter Aquaristen gelten.“

In fremden Weltgegenden unterwegs zu sein, ist nicht immer ungefährlich. So beschreibt Timmerberg Lilongwe, Malawis Hauptstadt, als für afrikanische Verhältnisse („Von den zehn gefährlichsten Städten der Welt sind zehn in Afrika ...“) sehr sicher, obwohl es auch da No-Go-Areas gibt, und Maputo, Mosambiks Hauptstadt, als nicht gerade in diese Kategorie gehörig. Und was heisst das nun, wenn man auf zwei junge Männer (der Lächelnde und der Finsterling) aus Maputo trifft und sonst niemand in der Nähe ist? „Das heisst nicht, dass in Maputo jeder junge Mann ein Strassenräuber ist. Es heisst auch nicht, dass in Maputo jeder junge Mann, der kein Strassenräuber ist, in einer Situation wie dieser vielleicht nicht doch schwach werden würde. Das heisst lediglich, dass man in Maputo nicht ohne triftigen Grund in einer Gegend spazieren gehen sollte, in der es, so weit das Auge reicht, niemanden sonst gibt als zwei Jungs wie diese.“ Und was macht man, wenn man auf Likoma Island zwei solcher Jungs trifft? „African Queen“ lesen!

An einem Strand in Dakar wird er reingelegt. Und ärgert sich schwarz. Über sich. „Anfänger! Esel! Blöder Tourist! Goldhäschen, Volltrottel, Europäer! Das schlechte Gewissen der exkolonialen Rasse zollt Leuten Respekt, die absolut keinen Respekt vor mir haben. Ich kenne das seit dreissig Jahren. Wie lange muss ich noch reisen, um darauf nicht mehr reinzufallen? Vergiss es, schwör dir nichts, sonst ärgerst du dich beim nächsten Mal noch mehr als jetzt. Was du jetzt brauchst sind keine guten Vorsätze, sondern ein Drink.“

Kurz darauf, stosse ich auf einen meiner Lieblingssätze in diesem Buch: „Aberglaube unterscheidet sich vom rechten Glauben nur unwesentlich, was den ihm innewohnenden Unsinn angeht.“ Und kurz darauf auf diese mich recht nachdenklich machende Erkenntnis: „Ich bin zu höflich für Afrika.“

Helge Timmerberg ist ein guter Geschichtenerzähler und „African Queen“ ist denn auch voller guter Geschichten. Über „das Auf und Ab der Liebe, über die Grenzüberschreitungen des Ego, über die Angst“. Über seine Erfahrungen mit Voodoo und seinen Glauben an „die profane, unsentimentale Wissenschaft“. Und über die Unberechenbarkeit der Frauen und und und ... Und dann ist da noch die unglaublich berührende Geschichte des zierlichen roten Schuhs, derentwegen dieses Buches schon ganz allein lohnt!

Helge Timmerberg
African Queen
Ein Abenteuer
Rowohlt Berlin, 2012

Wednesday 2 December 2020

Sometimes I see what's in front of me (2)





Santa Cruz do Sul, February 2018

Why did I take these pictures? 

They show what for several weeks I did daily see. I took them because I want them to remind me how enchanted I felt discovering the greatest artist of all – nature.

Wednesday 25 November 2020

The World Ain't Enough ...

Oliver Raschka, trained in economics and psychology, lives in Stuttgart, Germany. As a photographer he is essentially self-taught, in addition he attended numerous workshops with renowned photographers.

The world ain't enough ... documents the first ten years of his two sons. The black and white photographs show them at home and at play, at sporting events and when shopping. One senses not only the boys' excitement, the father's joy is also palpable.

Some pics show just one of the boys, others the two boys together. In both cases, what dominates these photographs is interaction, be it that the two interact with each other, be it that one of the boys is playing with his mobile or observing a car on the highway. Moreover, the kids also interact with the father (or with the camera?).

Says the father: “My sons are early birds. Their nights end between six and seven o’clock in the morning. After getting up, they are in full swing and with their vivid imagination they take in the world within seconds. The world ain’t enough …! The world ain’t enough!”

The cleverly composed photos seem to have been taken with an idea or concept in mind of how to juxtapose the brothers or to contrast one of the two with his environment. Not all of them but quite some. Oliver Raschka however informs me that he tried to capture moments of life as it unfolded. “I don’t ask my sons to pose for me. It’s all about pictures from real life …”.

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Wednesday 18 November 2020

Wie Blazenka mich sieht




Im Jahre 2006 hat die Fotografin Blazenka Kostolna (wir kennen uns seit Anfang der 1990er Jahre) beschlossen, mich zu ihrem Foto-Projekt zu machen. Seither macht sie fast alljährlich Aufnahmen von mir. Eine Auswahl der neuesten, für einmal in Schwarz und Weiss, finden sich hier abgebildet; sie sind in Zürich, auf der Allmend Brunau, entstanden, am 7. November 2020.

Wednesday 11 November 2020

Die Kunst, sich zu verlieren

Unsere Corona-Zeiten haben mir wieder einmal vor Augen geführt, wie schlecht wir mit Unsicherheiten umgehen können. Das Unbekannte ist uns generell eher unheimlich, wir versuchen ihm auszuweichen so gut es eben geht. Wir wollen uns nicht verlieren, ganz im Gegenteil, uns ist es um Sicherheit zu tun. Und obwohl wir wissen, dass alles im Leben so recht eigentlich unsicher ist, streben wir trotzdem nach Sicherheit. Kein Drang ist ausgeprägter.

Nicht alle wollen sich ihm einfach so unterwerfen. John Keats etwa fragte sich, was einen Mann bedeutsam mache und kam zum Schluss: "wenn jemand fähig ist, das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen." Zugegeben, ich bin überhaupt nicht so, doch nichts finde ich als Wegweiser attraktiver.

Für Virginia Woolf war das Sich-Verlieren nicht nur ein leidenschaftlicher Wunsch, sondern eine dringende Notwendigkeit, "niemand und jeder zu werden, die Ketten abzuwerfen, die einen daran erinnern, wer man ist, wer man anderen zufolge ist." In der Gegenwart zu sein, bedeutet sich von seinen Konditionierungen zu befreien. Gemäss Walter Benjamin "bedeutet sich verirrt zu haben, völlig gegenwärtig zu sein, und völlig gegenwärtig zu sein heisst, es auszuhalten im Ungewissen und Unergründlichen.

Rebecca Solnit hat sich mit Outdoorexperten unterhalten, hat sich in der Geschichte kundig gemacht. "Verirrt zu sein, halfen mir meine Gesprächspartner zu verstehen, war hauptsächlich ein Geisteszustand, und das trifft auf all die metaphysischen und metaphorischen Verirrungen genauso zu wie auf das Herumstolpern in irgendwelchen entlegenen Gegenden."

Sokrates meinte übrigens: "Man kenne bereits das, was  unbekannt zu sein scheint; man sei bereits hier gewesen, allerdings nur als jemand anderes." Das erinnert mich an Empedokles, der einen universellen Kreislauf der Dinge postuliert, in dem es weder Schöpfung noch Vernichtung gibt." Demnach, dies schliesse ich daraus, wäre alles, restlos alles schon immer dagewesen – wir haben es nur nicht gesehen.

Rebecca Solnit erzählt die Geschichte des spanischen Konquistadoren Cabeza de Vaca, der 1527 von Florida aus das Landesinnere erkundete und in der Autorin den Gedanken weckte, man wäre gut beraten die Fähigkeiten des Spurenlesens, des Jagens, des Sich-Zurechtfindens zu erlernen. Und sie berichtet vom Zusammentreffen mit einem Franziskanerpater, als sie im Great-Basin-Nationalpark im Schatten ihres Pick-ups lag und die 'Göttliche Komödie' las. Und sie beschreibt ihre erste Wüste, die nördlich vom Death Valley liegt, und sie das Schreiben lehrte.

Ihre vielfältigen Assoziationen sind es, die diese Essays für mich faszinierend machen. So bringt sie in 'Das Blau der Ferne' unter anderem die Kartografie ( "... die Selbstzufriedenheit, die die Vorstellung begleitet haben muss, dass die Welt, wie es der englischen Seefahrtsbegiff ausdrückt, 'encompassed' war, das heisst in allen Richtungen der Kompassnadel von Wasser eingefasst, entspricht wohl unserer eigenen Selbstgefälligkeit, die es äusserst unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass man auf heutigen Weltkarten die Wörter 'terra incognita' findet.")  mit Yves Klein zusammen, der 1957 "mit seinem tiefen, elektrischen Blau einen Globus" bemalte und damit eine Welt schuf, "auf der es keine Trennung zwischen verschiedenen Ländern gab, oder zwischen Wasser und Land, als sei die Erde selbst zum Himmel geworden ...".

Fazit: Horizonterweiternd, anregend und hilfreich.

Rebecca Solnit
Die Kunst, sich zu verlieren
Ein Wegweiser
Matthes & Seitz Berlin 2020

Wednesday 4 November 2020

The artist called nature (2)





Santa Cruz do Sul, 22 Fevereiro 2018

Wednesday 28 October 2020

Expedition Arktis

Keine Frage, der Forschungsdrang des Menschen ist grenzenlos, in so ziemlich jedem Sinne des Wortes. Was uns genau aus dem Haus und Richtung Mond und Mars treibt, wüsste ich nicht zu sagen, doch dass wir erkunden wollen, wo wir eigentlich leben, wie "unser" Planet ausschaut und unter was für Bedingungen Leben eigentlich möglich ist, ist naheliegend, wenn auch ziemlich weit entfernt vom gewohnten Alltag.

"Die grösste Forschungsreise aller Zeiten" lautet der Untertitel von "Expedition Arktis" der Fotografin Esther Horvath mit Texten von Sebastian Grote und Katharina Weiss-Tuider. Dokumentiert wird wie sich ein internationales Forscherteam in das Epizentrum des Klimawandels aufmachte, "um die Klimaprozesse der Zentralarktis im Jahresverlauf zu untersuchen." Markus Rex, der Leiter der MOSAIC-Expedition (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of the Arctic Climate) schreibt im Vorwort: "Wir brauchen solide wissenschaftliche Grundlagen, um die anstehenden politischen Entscheidungen zum Klimaschutz treffgenau und evidenzbasiert gestalten zu können (...) Nur so können unsere Gesellschaften auf fundierten Erkenntnissen beruhende Entscheidungen treffen."

"Die Vermessung einer schwindenden Welt" ist eine aufwendige Sache, die umfassenden Vorbereitungen fanden auf Spitzbergen statt, das auf halber Strecke zwischen Norwegen und dem Nordpol liegt und sich seit Anfang der 1990er-Jahre, als Markus Rex zum ersten Mal da war, sehr gewandelt hat: "Wir sind in diesen Jahren oft mit Skiern oder Schneemobilen auf dem Eis unterwegs gewesen. Wenn ich heute zur selben Jahreszeit an diesen Ort komme, stehe ich vor offenem Wasser."

Apropos Vorbereitungen: "Insgesamt 500 Tonnen Fracht wird die Expedition mitnehmen – von schwerem Gerät wie Pistenraupen bis hin zu einer Vielzahl an Schrauben." Die Dimensionen dieses Unternehmens erahnt man auch, wenn man die Fotos betrachtet, von denen viele bei Nacht gemacht wurden (die Polarnacht dauert sechs Monate)  – eine besondere Herausforderung, welche Esther Horvath überzeugend gemeistert hat. Was die Fotos nicht leisten können, vermitteln die aufschlussreichen Texte.

"... versetzt die Anziehungskraft des Erdtrabanten das Eis immer wieder in Bewegung. Durch ein plötzliches Krachen und Knarzen kündigt es sich oftmals an, gefolgt von Poltern und Bersten, auch Kreischen und Stöhnen. Wo gerade noch scheinbar massive Eisebenen ruhten, tun sich innerhalb weniger Minuten Risse auf, brechen Eisfelder und driften auseinander. Andernorts schieben sich unter der Macht des Vollmonds die Eismassen zu gewaltigen, meterhohen Presseisrücken zusammen. Minutenlang donnern diese Bewegungen des Eises durch die Dunkelheit, sie zerren und drücken auch am Rumpf der Polarstern und bringen das Schiff zum Dröhnen. Dann verfällt die Arktis wieder in eisige Stille – und eine von den Naturgewalten umgestaltete Welt liegt vor den Augen der Forscher und Forscherinnen."

"Expedition Arktis" ist Dokumentarfotografie vom Feinsten und das meint: Fotos und Text gehören zusammen, sie ergänzen sich. Neben den informativen Bildlegenden und den thematisch gegliederten Texten (etwa über die Nacht und über den Alltag) findet sich auch ein Gespräch mit der Fotografin in diesem eindrücklichen Band, worin sie unter anderem ausführt, wie sie beim Fotografieren vorgeht. "Bei jedem Bild habe ich zunächst eine Geschichte im Kopf. Dazu recherchiere ich vorher und spreche viel mit den Menschen. Ich weiss, wann ich warum auf den Auslöser drücke und was ich damit erzählen will."

Die mich am meisten beeindruckenden Aufnahmen zeigen die weiten Meereislandschaften, doch das Bild, das mir am stärksten eingefahren ist, stammt nicht von einer Fotokamera, sondern entstand in meinem Kopf, als ich Esther Horvaths Schilderung dieser Erfahrung gelesen habe, "... auf dem Meereis zu stehen und sich bewusst zu werden, dass unter uns ein mehrere Kilometer tiefer Ozean ist. Das ist ein unglaubliches Gefühl. Es lässt sch kaum beschreiben."

Ein grandioses Werk, das einen das Staunen lehrt!

Esther Horvath, Sebastian Grote, Katharina Weiss-Tuider
Expedition Arktis
Die grösste Forschungsreise aller Zeiten
Mit einem Vorwort von Markus Rex
Prestel, München-London-New York 2020

Wednesday 21 October 2020

Das Klischee des Engländers

Als ich noch jünger war, war das Klischee des Engländers – sofern es sich nicht gerade um den Sänger der Rolling Stones handelte – ein hagerer, dürrer Mensch mit Melone und Regenschirm, der sogenanntes Queen's English sprach und eine unerschütterliche Contenance an den Tag legte, die weltweit einzigartig war.

Der damalige Engländer war ein Produkt diverser Weltkriege und der harten Nachkriegszeit, während er heutzutage das Resultat einer modernen Überfluss- und Fast-Food-Gesellschaft ist, in der eine Diät aus Pommes frites, Chips, Speckschwarten und literweise Bier am Tag für eine kräftige, konstant übergewichtige Bevölkerung sorgt. Und von Contenance war keine Rede mehr, seit die ersten Fussballhooligans quer durch Europa reisten, Läden zu Kleinholz machten und in Springbrunnen pinkelten.

Mats Olsson: Demut

Wednesday 14 October 2020

Self Evident Truths

In the spirit of Richard Avedon, this book contains striking photographic portraits of 10,000 people from across the US, bringing readers face to face with LGBTQ America,” the press release lets me know. Patrisse Cullors, “the cofounder of several organizations including Dignity and Power Now, The Crenshaw Dairy Mart, and Black Lives Matter” characterises this book as “the largest collection of photographs of queer, trans and non-binary people – 10,000 beautiful images that capture us in all our complexity, our honesty, our raw selves.”

Well, I do not think that photographs can do what Patrisse Cullors claims they do. What she sees in them is what she brings to them. As far as I’m concerned photographs are inherently incapable of showing complexity, or honesty, or raw selves.

So what do I see in these photographs? Portraits of different people posing in a variety of ways against a black background. Some smile, some don’t, all try, I assume, to show themselves in what they consider a favourable pose. The vast majority of the pics are very small, some are presented in a larger format. Had I not been told that I’m looking at LGBTQ America I would have neither known nor guessed it; I would have simply seen fellow human beings.

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Wednesday 7 October 2020

Framing "my" surroundings (2)




Santa Cruz do Sul, Janeiro 2019

Wednesday 30 September 2020

Peter Mathis: Schnee

Im November 2019 sass ich im Zug von Innsbruck nach Sankt Anton am Arlberg neben einer Malerin, die ausschliesslich den Schnee malt, der ja in vielerlei Gestalt daherkäme (man denke an die angeblich 70 Worte der Eskimo, die in Tat und Wahrheit etwa ein oder zwei Dutzend sind) – dass der Schnee zudecke, es ganz viele Weiss gäbe und er gewaltig, ja, bedrohlich sei, sagte sie. Seither schaue ich den Schnee mit neuen Augen an. Und wenn ich nun den Bildband von Peter Mathis anschaue, gerade noch einmal anders.

Als ich vor nunmehr zwanzig Jahren begann, mir intensiv Gedanken über die Fotografie zu machen, galt mein Interesse der  Dokumentar- und der Pressefotografie. Mich faszinierte die Kombination von Bild und Wort, genauer: Die Geschichten zum Bild. Heute zieht mich nur mehr die Ästhetik an, frage ich mich nur noch (wenn ich mich denn überhaupt etwas frage und nicht nur geniesse, was meinen Augen präsentiert wird), was die Fotografien bei mir auslösen.

Die Bilder von Peter Mathis erinnern mich an Japan. Ja, ich weiss, sie wurden in den Lechtaler Alpen, den Dolomiten, den Appenzeller Alpen, in Alaska und an weiteren Orten aufgenommen. Trotzdem gehen mir Japan-Gedanken durch den Kopf. Ich  weiss nicht wirklich, weshalb dem so ist. Sicher, ich könnte Vermutungen anstellen, doch mir genügt, dass mich diese Aufnahmen in Erstaunen versetzen, sie in mir Ehrfurchtsgefühle auslösen und sie, was mich anlangt, so recht eigentlich irgendwo hätten aufgenommen werden können. 

Die Essenz der Fotografie ist für mich das Einrahmen. Geht ein Fotograf in die Natur raus, ist alles schon da, er braucht, im Gegensatz zum Maler, nichts zu erschaffen. Verfügt er über ein gutes Auge (das viel mit Intuition zu tun hat), wird er ansprechende Bilder zurückbringen. Die Aufnahmen, die Peter Mathis zurückgebracht hat, machen mir das Wunder der Natur bewusst, da sie meine Augen auf das lenken, was er gesehen hat und mich so aus meinem Autopilot aufwecken. Dass nicht wenige Bilder nahe meinem Wohnort aufgenommen wurden, trägt dazu bei, mein Bewusstsein dafür zu wecken, meine Aufmerksamkeit auf das Naheliegende zu richten.

Ea sind höchst gelungene Kompositionen. Warum Peter Mathis ausgewählt, was er fotografiert hat, beschäftigt mich nicht. Viele Bilder lassen mich ruhig werden, andere zeigen die Bergwelt majestätisch und gelegentlich dramatisch. Die wenig markanten Spuren, die der Mensch hinterlässt. machen deutlich, dass wir keineswegs im Anthropozän angelangt, sondern ein Teil der Natur sind.

"Schnee" ist ein ganz wunderbares Buch, ästhetischer Genuss wie auch Augenöffner, eine Einladung zum meditativen Verweilen und zum Staunen. 

PS: Einblicke finden sich hier

Peter Mathis
Schnee
Prestel, München-London-New York 2020

Wednesday 23 September 2020

Grönland by Ulrike Crespo

Grönland (Greenland) is a tome in German and English by Ulrike Crespo (1950-2019) whose background in art history, archaeology and psychology seems to have influenced her photographic work. To me at least, the cover and pic number 6, for instance, look as fascinatingly indecipherable as our unconscious.

What attracted me first and foremost to this book is pic number 2. It accompanies me since I first laid eyes on it. How come? I do not know but I can of course guess. It looks like toyland to me – and the colours contribute to that impression. Moreover, it makes me wonder who inhabits these houses, what do the people living there do, think and feel? This book doesn’t give answers, instead it is showing us landscapes and seascapes. In so doing Ulrike Crespo is emphasising what I did not expect – and I’m pleased for it helps me to get out of the prison of my head.

These photos do not need captions, they are invitations to contemplate the magic of planet earth. My daily problems and preoccupations disappear when looking at what Ulrike Crespo had decided to document. I feel entranced and in awe of such beauty. And with no desire to put anything into words, to look and see feels enough. 

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Wednesday 16 September 2020

Phil Bergerson: A Retrospective

Canadian photographer and educator Phil Bergerson (b. 1947, Toronto) “found his calling as a photographer in the American social and cultural landscape” in the late 1980s while on a sabbatical from teaching at Ryerson University. “The focus of his work ever since has been the signs, display windows, hand-painted murals and graffiti found in cities and towns throughout the United States,” says the press release and the photographs in this beautifully done tome give testimony of a rich variety of cultural expressions. To my Swiss eyes the creativity displayed looks weird, funny, sad, pathetic, joyous, uplifting – touching expressions of the childlike human nature.

Needless to say, one has to have an especially good eye in order to see what Phil Bergerson saw and documented. Differently put: Not only his outsider view makes him see what many probably don’t, his attitude (“empathetic neighbour”) is equally important. Yet what, in my view, has to be applauded above all is the ingenuity of the folks who came up with all these fascinating and strange things that he photographed.

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Wednesday 9 September 2020

Tomas Espedal: Gehen

 
"Langsam wird mir klar: Du bist glücklich, weil du gehst." Und: "Je älter ich werde, desto mehr freue ich mich über das Leben. Ich habe immer grössere Angst vor dem Tod. Das erstaunt mich. Ich werde mit dem Alter nicht klüger, im Gegenteil ...".  Gleich zu Beginn dieses Buches stolpere ich über diese Sätze. Nicht, dass ich mich mit ihnen identifizieren würde/könnte, doch sie zeigen mir, wie unterschiedlich man die Welt wahrnehmen kann und dass meine eigene Sicht nichts mehr als eine Sicht ist - ein in diesem Moment eigenartig beruhigendes, ja, ein befreiendes Gefühl.

Doch weshalb verlässt ein Mann, der von sich sagt, dass er sich am Leben freut, seine Frau, sein Kind und sein Haus? Er mache sich auf den Weg zu sich selbst, lese ich auf dem Buchumschlag, und frage mich, ob das eine gute Idee ist. Was, wenn ihm dieses Selbst, sollte er es denn finden, nicht gefällt? Wie auch immer, er geht mit Rousseaus 'Bekenntnissen' los, der unter anderem schrieb: "Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt; wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken, mein Körper muss gewissermassen in Schwung geraten, um auch meinen Geist zum Schwingen zu bringen."

Einen ersten Anlauf macht er in Wales, einen zweiten in Süddeutschland, beide bricht er nach Kurzem ab, doch aufgeben will er nicht. "Jetzt aber weiss ich, dass es nicht im Handumdrehen getan ist, so zu leben, dass es nicht einfach ist, ein Wandersmann zu werden. Es erfordert Training und Mut, Gewöhnung und Zeit." Fortan übt er das Gehen in Norwegen, im zweiten Teil des Buches dann in Frankreich und Griechenland.

Gehen oder Die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen handelt, wie der Titel suggeriert, nicht allein vom Unterwegssein dieses Wanderers (er ist definitiv kein Spaziergänger), sondern auch von den Leuten, die er trifft. Mit einem Mit-Wanderer unterhält er sich über Shakespeare, zu dem dieser eine dezidierte Meinung hat: "Das Theater ist reine Unterhaltung und nichts als ein Zeitvertreib. Das ist es doch, worüber uns die meisten Stücke Shakespeares etwas erzählen; dass unser Leben zu kurz und flüchtig ist, um es mit Missverständnissen und Schauspielen zu vergeuden."

Kein Schreiben, das nicht in erster Linie Autobiografie wäre. "Ich habe immer anders leben wollen. auf gänzlich andere Art als von meiner Erziehung vorgesehen. Von Kindesbeinen an ein tiefsitzender Widerwillen dagegen, das zu tun, was mir gesagt wurde. Ich habe stets alles schwieriger für mich machen wollen. Nie leichter, nie einfacher, immer nur schwieriger, und immer wider unmöglich für mich selbst. Und wohin hat mich das gebracht?. Es hat mich an keine normalen Orte gebracht; ich habe nie eine Arbeit gehabt, es ist mir nie gelungen, mir ein Heim, eine Familie aufzubauen, ein festes Gehalt zu bekommen."

Da Tomas Espedal anders lebt als die meisten, denkt er auch anders als die meisten. Und davon berichtet dieses Buch, das natürlich auch von anderen, die schreiben handelt, und uns von Walt Whitman erzählt, der sein eigenes Buch 'Leaves of Grass' in drei verschiedenen Publikationen positiv besprochen hatte und in der Folge von Henry David Thoreau aufgesucht wurde, der zu seiner Überraschung einen ausgesprochen häuslichen Büromenschen antraf, der, so Espedal, "in meiner Vorstellung das gesündeste und kraftvollste aller Wandergedichte schreibt, den 'Song of the Open Road'" (der sich auch in diesem Buch findet).

Und auch vom Dichter Olav Nygard erzählt er, der ihm zu Bewusstsein bringt, "dass alles, wonach wir uns sehnen, hier ist, ganz gleich, wo wir sind, direkt vor unseren Augen." Eine Lektion, die er, der nach den idealen äusseren Umständen sucht, wie er weiss, besonders nötig hat und ironisch so kommentiert: "Jeden Tag sass ich am Schreibtisch, starrte in den Raum hinein und freute mich über seine Schönheit, die ich mühevoll aufgebaut hatte; es war ein perfektes Zimmer. Ein perfektes Arbeitszimmer. Ich schrieb nichts in diesem Zimmer."

Leben als Selbsterforschung, zu der auch die Auseinandersetzung mit der Natur und den Ideen von anderen gehört, gelingt eindrücklicher, wenn man in die Welt rausgeht, denn es ist die körperliche Erfahrung, die einen lehrt, Teil der Welt zu sein.

Fazit: Spannend, überzeugend und anregend. 

Thomas Espedal
Gehen oder Die Kunst, ein wildes 
und poetisches Leben zu führen
Matthes & Seitz, Berlin 2020

Wednesday 2 September 2020

Nachts im Wald

Wer fotografiert, ist gut beraten, ich von einer Idee leiten zu lassen. Der 1985 in Tannesberg in der Oberpfalz geborene und heute mit seiner Familie in Köln lebende Diplom-Geograf Kilian Schönberger, der seit 2012 als freier Landschaftsfotograf sich auf Wald, Berge und Nebel konzentriert, hat sich in diesem Band der nächtlichen Natur verschrieben. Zweifellos eine originelle Idee (und eine solche braucht es heutzutage angeblich, um einen Verlag zu finden), doch funktioniert sie auch? Ja, sie tut es, von den Bildern in Nachts im Wald geht eindeutig etwas Geheimnisvolles, Unwirkliches, Magisches aus.

Der Wald prägte Kilian Schönbergers Kindheit in der Oberpfalz. War er damals Abenteuerspielplatz, wurde er später zu seinem Arbeitsplatz. Den nächtlichen Wald entdeckte er wegen der 'blauen Stunde'. "Dieser Begriff bezeichnet einen je nach Jahreszeit ungefähr eine Stunde langen Zeitraum kurz vor Sonnenaufgang und kurz nach Sonnenuntergang, der durch besondere Lichtstimmungen charakterisiert ist. Nicht nur Fotografen schätzen die Blauen Stunden für das an klaren Tagen aussergewöhnliche Ambiente."
Monduntergang auf der Röhn @ Kilian Schönberger

Nachts im Wald ist ein informatives Buch. So erfahre ich unter anderem, dass ein Drittel von Deutschlands Gesamtfläche von Wald bedeckt ist, die Waldökosysteme ungemein vielfältig sind (mediterran anmutende Eichenwälder hätte ich in der Eifel nicht erwartet – doch was weiss ich schon von der Eifel), der Grund für Berghütten im Hochgebirge auch darin liegt (das hatte ich mir noch nie überlegt), dass nächtliche Auf- und Abstiege oft zu riskant wären.

À propos Eifel: "In der Eifel fand ich ein Äquivalent zu 'meiner' Oberpfalz. Aufregend unspektakulär." Mit anderen Worten: Eine Anregung genau hinzuschauen.

Kilian Schönberger erzählt von seinen Nachttouren und macht mir bewusst, dass nicht nur das Sehen im dunklen Wald gewöhnungsbedürftig ist (er hat immer seine Stirnlampe dabei), sondern des Nachts auch viele Tiere unterwegs und Geräusche von beispielsweise Rotwild, Hirschrudeln und Wildschweinen auszumachen sind.
Gespensterwald an der Ostsee @ Kilian Schönberger 

Forschungen haben gezeigt, dass Bäume sich in der Nacht anders verhalten als am Tag. Bekannt ist auch, dass sie (in unseren Breiten) während der kalten Jahreszeit in eine Art Winterschlaf verfallen. Doch brauchen sie auch Nachtruhe wie wir Menschen? Nachgewiesen hat man jedenfalls, dass Dauerbeleuchtung mit Kunstlicht zum grossflächigen Absterben von Eichen in den USA geführt hat.

Wie jedes Buch, so regt auch dieses zu Gedanken an, die über das Gezeigte und Geschilderte hinausgehen. Als ich lese, dass Schönbergers besonderes Interesse "den spannenden Motiven im Bereich von Wald- und Baumgrenze" gelten, geht mir unvermittelt die Betreiberin des Hotelrestaurants auf dem Flüelapass durch den Kopf, die auf meine Frage, was sich denn in den letzten Jahren auf dieser Höhe vor allem verändert habe, erwiderte, die Baumgrenze habe sich verschoben, der Erwärmung wegen, so weit oben habe sie zuvor keine Lärchen wachsen sehen.

Fazit: Eine willkommene Horizonterweiterung!

Kilian Schönberger
Nachts im Wald
Goldmann, München 2020

Wednesday 26 August 2020

Der Augenblick der Fotografie

"Am Anfang meines Interesses an der Fotografie stand nicht das Machen und Betrachten von Bildern, sondern das Lesen über sie", beginnt Geoff Dyer seine Einleitung zu diesem Band mit Essays von John Berger. Mir ging es genau gleich, auch wenn es in meinem Falle nicht die Texte von Susan Sontag, Roland Barthes und John Berger waren, sondern diejenigen von John Szarkowski, Janet Malcolm und John Berger, dessen Ways of Seeing mein Verhältnis zur Fotografie wesentlich geprägt hat.

Die in diesem Band versammelten Essays machen mich aufmerksamer, wacher, schärfen mein Bewusstsein. Nicht nur in Bezug auf die Fotografie, sondern in Bezug auf die Erscheinungsformen des Lebens insgesamt. So zeigt Bergers Beschreibung der Bombardierung Nordvietnams, dass Worte manchmal stärkere Bilder zu erzeugen vermögen als Fotografien.

"Unter anderem Sieben-Tonnen-Superbomben, die, jede einzelne, ein Gebiet von ca. 8000 Quadratmetern dem Erdboden gleichmachen. Mit ihnen zusammen auch kleine Splitterbomben. Eine ist mit Plastiksplittern geladen, die Röntgenstrahlen nicht mehr feststellen können, wenn sie sich durchs Fleisch gebohrt und im Körper festgesetzt haben. Eine andere wird Spinne genannt: ein kleiner, granatenförmiger Sprengkörper mit fast unsichtbaren, dreissig Zentimeter langen Fühlern, die ihn bei Berührung hochgehen lassen. Diese Bomben, die überall dort abgeworfen werden, wo grössere Explosionen stattgefunden haben, sollen Überlebende zerreissen, die herbeilaufen, um entstandene Brände zu löschen oder Verwundeten zu helfen."

John Berger (1926-2017) war ein neugieriger und überaus aufmerksamer Zeitgenosse, kein Theoretiker, sondern ein unabhängiger Geist und scharfer Denker, der immer wieder aufzeigt, wie das Sehen und das Fotografieren sich unterscheiden. "Die Kamera rettet bestimmte Erscheinungsbilder vor der sonst unvermeidlichen Überlagerung durch weitere Erscheinungsbilder."

Den Fotografen Jean Mohr. mit dem er oft zusammengearbeitet hat. charakterisiert er als Mensch, für den die Welt eine ständige, grosse Überraschung gewesen sei. "Oft auf erschreckende, manchmal auch wunderbare Weise. Die Fotos, die Jean sein Leben lang machte, sind das Resultat einer Wachheit, die von diesem Sich-Überraschen-Lassen herrührt." Das gilt genauso für Berger selbst.

Einer der Augenöffner in diesem Band findet sich unter dem Titel 'Geschichten': "Wenn es eine spezifische fotografische Erzählform gibt, kommt sie dann nicht der des Films nahe? Überraschenderweise sind Fotografien das Gegenteil von Filmen. Fotografien sind retrospektiv und werden auch so angenommen: Filme sind antizipatorisch. Vor einer Fotografie fragt man danach, was da war. Im Kino wartet man darauf, was als Nächstes folgt. Alle Filme sind, in diesem Sinne, Abenteuer: Sie gehen voran, sie kommen an. Die Bezeichnung flashback ist ein Eingeständnis dieser unerbittlichen Ungeduld des Films, der vorankommen will."

Auf einen anderen Augenöffner stiess ich im Gespräch, das Berger mit Sebastião Salgado führte. In vielen seiner Bilder sei der Himmel sehr wichtig, doch nicht im Sinne der Ästhetik, bemerkt er zu Salgado "Der Himmel ist in bestimmten Momenten die einzige Instanz, an die man sich wenden kann. Wer im Himmel hört ihnen zu? Vielleicht Gott. Vielleicht die Toten. Vielleicht sogar die Geschichte." Nun ja, rhetorische Frage lassen sich nun einmal schlecht beantworten, doch ich gucke mir künftig Salgados Himmel mit neuem Augen an.

Fazit: Ein wacher Geist, der einen das Sehen lehrt.

John Berger
Der Augenblick der Fotografie
Essays
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2020

Wednesday 19 August 2020

Südlich vom Ende der Welt

Ein genialerer Titel als Südlich vom Ende der Welt ist schwer vorstellbar, nicht zuletzt, weil er auch als Hinweis gelten mag, dass unsere gängigen Ordnungsvorstellungen, so hilfreich sie oft sind, ihre Grenzen haben. Doch worum geht's?

Die 1988 in Klagenfurt geborene Allgemeinmedizinerin Carmen Possnig hat ein Jahr in der Antarktis verbracht, "Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50° hat". Sie hat dort zusammen mit anderen erforscht, wie sich der Mensch Extrembedingungen anpasst. "Seit ihrer Rückkehr beschäftigt sie sich im Rahmen ihres Promotionsprojekts an der Universität Innsbruck mit Weltraummedizin." So viel Weltneugier begeistert mich geradezu!

Sie muss massenhaft Tests über sich ergehen lassen, bevor sie schliesslich von der ESA, der Europäischen Weltraumorganisation, rekrutiert wird. "Über drei Stunden lang befragt mich der Psychologe zu meiner Motivation,, meinen Kindheitserinnerungen und meiner Beziehung zu der Cousine dritten Grades meiner Oma."

Die Forschungsstation Concordia gehört zu insgesamt 40 Forschungsstationen in der Antarktis. Doch weshalb betreibt man da eigentlich Forschung für die Weltraummedizin? Weil man keine Station auf dem Mond oder dem Mars hat, muss man eben auf möglichst vergleichbare Szenarien zurückgreifen. Und da Concordia sich "ein bisschen wie eine Station auf einem anderen Planeten" anfühlt, eignet sie sich dafür.

Die junge Ärztin, die sich "für alles, was die Menschheit dem Mars näher bringt" begeistert, erhält in München, Köln und St. Etienne (auch kulturelle) Einführungen in ihre künftige Arbeit. "An unseren ersten Konversationen beteilige ich mich lediglich mit einem ratlosen Lächeln und verwirrtem Gesichtsausdruck."

Bereits der Hinflug liest sich wie eine spannende Abenteuergeschichte. "In der Ferne taucht aus dem Morgennebel ein graues Ungetüm auf. Mehr Drache als Flugzeug, vier grosse Propeller, ein dicker Bauch: eine C-130 Hercules (...) Das Ohropax benötigen wir dringend. Unterhaltungen sind während des Fluges unmöglich, der Drache dröhnt, stöhnt, vibriert und wackelt vor sich hin."

Die humorbegabte Carmen Possnig schildert das Leben auf der 3233 Meter über Meer gelegenen Station höchst anschaulich. Sie berichtet unter anderem von der anfänglichen Schlaflosigkeit sowie Anflügen von Höhenkrankheit, der wilden Gerüchteküche, dem Fehlen von Fernsehen und schnellem Internet und davon, dass sich die ersten Schritte auf dem Schnee ganz anders anfühlen als zu Hause. "Meine Stiefel bringen ein trocken-quietschendes Geräusch hervor."

Das Potential für Konflikte ist in beengten Verhältnissen naturgemäss gross. Dass die Crews auf antarktischen Stationen hauptsächlich aus Männern und einem kleinen Anteil an Frauen bestehen, ist für ein gedeihliches Zusammenleben auch nicht gerade ideal. Dazu kommt, dass "die meisten Franzosen kein Italienisch, die meisten Italiener kein Französisch und viele von ihnen nur wenig Englisch sprechen." Schon etwas eigenartig, dass das bei allen Tests keine Rolle spielte.

Südlich vom Ende der Welt schildert nicht nur die Situation vor Ort, wo alle unter einem Schlafdefizit und den dazugehörigen Konzentrationsproblemen leiden, sondern erzählt auch von den Südpolexpeditionen von Robert Falcon Scott, Roald Amundsen und Ernest Shackleton.

Als sie nach einem Jahr, das sie mangels geeigneterer Worte mit "sehr kalt" und "unglaublich schön" zusammenfasst, macht sie auf dem Rückflug auch Halt auf der drei Flugstunden entfernten amerikanischen McMurdo Station, wo für jeden Schritt ausserhalb der Stadtgrenzen ein Kurs absolviert oder ein Zertifikat gemacht werden muss. "Ich bin erstaunt, dass ich den Winter in Concordia ohne derartige Hinweisschilder überleben konnte und dass ich hier ohne Zertifikat duschen darf."

Fazit: Lehrreich, unterhaltsam und inspirierend.

Carmen Possnig
Südlich vom Ende der Welt
Wo die Nacht 4 Monate dauert
und ein warmer Tag minus 50° hat
Ludwig Verlag, München 2020

Wednesday 12 August 2020

Wie Bilder Wahlkampf machen

Die Autorinnen dieses Bandes forschen und lehren als Politikwissenschaftlerinnen an der Universität Wien. Wie Bilder Wahlkampf machen ist ein akademisches Buch und das meint, dass auch das Allerbanalste referenziert wird. Selbst eine Aussage wie dass Wahlkämpfe und Bilder zusammengehören, kommt ohne Quellenangabe nicht aus!

"Das Buch setzt sich mit rezenten politik- und kommunikationswissenschaftlichen Forschungen zur Bildverwendung in der politischen Kommunikation sowie mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Bildanalyse auseinander und wendet diese erstmals auf den österreichischen Kontext an", lese ich auf dem Buchumschlag. Als an akademischen Debatten Uninteressierter und mit der österreichischen Politik Unvertrauter  interessiert mich an diesem Band allein, ob der Titel hält, was er verspricht.

Zehn Funktionen politischer Bilder haben die Autorinnen ausgemacht: Implizite Argumentation, Agenda Setting, Dramatisierung, Emotionalisierung. Imagebildung, Identifikation, Dokumentation, Symbolisierung, Transport und Mehrdeutigkeit. Sie erwähnen auch, dass sich diese "ergänzen und auch überlagern können."

Je weiter ich mit der Lektüre vorankomme, je klarer wird mir, dass ich mir unter dem Titel etwas anderes vorgestellt habe als die beiden Autorinnen. Ich hatte gehofft, mir werde aufgezeigt, wie man den Einfluss von Bildern messen kann, das Buch handelt hingegen davon, was andere (meist) Akademiker zu Visuellem Storytelling, Visueller Selbstinszenierung, Image Management etc. publiziert haben. 

Positiv formuliert: Wie Bilder Wahlkampf machen gibt einen gut geschriebenen Überblick zum Thema Bilder und Politik. Dass der Text sich angesichts der zahlreichen Definitionen (die Anker im akademischen Meer) ausgesprochen flüssig liest, ist bemerkenswert.

Dieser Bestandesaufnahme, die auch eine grosse Fleissarbeit ist, fehlt jedoch das kritische Hinterfragen. So wird etwa in Kapitel 4, "Mit Bildern Geschichten erzählen: Visuelles Storytelling im Wahlkampf" ausführlich auf verschiedene Storytelling-Arten eingegangen, jedoch ohne dass das Storytelling an sich kritisch beleuchtet wird (wie etwa hier). 

Besonders aufschlussreich fand ich die Ausführungen über Michelle Obamas Gemüsegarten (gutes Storytelling!) sowie die Schilderungen der mich nicht überraschenden Selbstinszenierungsfähigkeiten von 
Alexandria Ocasio-Cortez.

Ein Satz wie "Bilder können Menschen zu 'Affektgemeinschaften' verbinden" ("können" ist so vage, dass es schon fast keine Aussage ist) weist auf das Dilemma dieser Studie hin: Der Absenz von klaren, eindeutigen und verbindlichen Aussagen. Das ist eben so, wenn man sich bemüht, wissenschaftlich zu arbeiten - mehr als "educated guesses" sind nicht zu haben und diese lasse ich mir gerne gefallen, wenn sie so unprätentiös daherkommen wie in diesem Werk.

Petra Bernhardt
Karin Liebhart
Wie Bilder Wahlkampf machen
mandelbaum verlag, Wien 2020 

Wednesday 5 August 2020

Framing Bordeaux (1)





Taken with a Samsung Galaxy A6 in June 2019.