Wednesday 27 October 2021

Is Photojournalism Betrayal?

 “Every journalist who is not too stupid or too full of himself to notice what is going on knows that what he does is morally indefensible. He is a kind of confidence man, preying on people’s vanity, ignorance or loneliness, gaining their trust and betraying them without remorse. Like the credulous widow who wakes up one day to find the charming young man and all her savings gone, so the consenting subject of a piece of nonfiction writing learns – when the article or book appears – his hard lesson. Journalists justify their treachery in various ways according to their temperaments. The more pompous talk about freedom of speech and “the public’s right to know”; the least talented talk about Art; the seemliest murmur about earning a living” writes Janet Malcolm in The Journalist and the Murderer.

I share this view of journalism as treachery, and I think it is also true for photojournalism. Here’s how the British photographer Don McCullins in his autobiography Unreasonable Behaviour justifies his own: During the Cyprus conflict in the 1960's, he entered a house where he found three dead men of whom he took pictures, when suddenly the door opened and people came in, among them a woman, who, he later learned, was "the wife of the youngest man. They had been married only a few days. I'm in serious trouble now, I thought. They will think I have trespassed in their house. I had already taken photographs. It wasn't just trespass in the legal sense I had been guilty of, for I had trespassed on death, and emotion too. The woman picked up a towel to cover her husband's face and started to cry. I remember saying something awkward like — forgive me, I'm from a newspaper, and I cannot believe what I'm looking at. I pointed to my hand with the camera in it, asking for an invitation to record the tragedy. An older man said, 'Take your pictures, take your pictures.' They wanted me to do it ...“

Really? I’m not too sure about that. To me it seems more likely that these people had simply quite some other things on their minds.

Photojournalism is often nothing but voyeurism – and thus morally indefensible. We all know that. „A man gets his leg blown off taking me to pee, and then I’m supposed to shove a lens in his face and shoot? No way. Maybe I’m not made for this job“ writes Deborah Copaken Kogan in Shutterbabe. Who then, I wonder, is made for such a job?

Wednesday 20 October 2021

Von oben

Wir leben in ego-zentrischen Zeiten. Ehrfurcht ist dem modernen Mensch abhanden gekommen, nicht nur ist ihm alles selbstverständlich, er glaubt auch, auf so ziemlich alles ein Anrecht zuhaben. Und so trampelt er denn auch auf diesem Planeten herum, wie es ihm so passt. Nach mir die Sintflut, traut man sich zwar nicht zu sagen, doch so handelt man. Wie ist das nur möglich? Aus Ignoranz. Andererseits: Wir wissen doch, was wir dem Planeten Erde antun, uns ist doch klar, dass wir ihn zerstören. Sicher, doch wann hat Wissen schon geholfen? Ignoranz bedeutet ja nicht die Abwesenheit von Wissen, sondern das Wissen zu ignorieren.

Ludwig Wittgenstein hat unterschieden zwischen sagen und zeigen. Und auch wenn "Von oben" vieles sagt, beschreibt und erklärt, so macht erst das Zeigen, der Blick von Oben, die Wahrnehmung aus der Distanz, wirklich deutlich, "wie verwundbar unsere Erde ist, wie fragil die sie umgebende Lufthülle – und wie sehr wir Menschen auf unseren Heimatplaneten achtgeben müssen. Zu einem Gefühl der Demut kommt eine grosse Verantwortung. Was man dagegen nicht sieht, sind menschengemachte Grenzen, wirtschaftliche oder politische Machtblöcke", so Esa-Astronaut Matthias Maurer im Geleitwort.

Worte können die Aufnahmen in diesem Band nur unzureichend beschreiben, man muss sie vor Augen haben, sich Zeit für sie nehmen und sie auf sich wirken zu lassen, um ihre Schönheit erfassen zu können. Und wie so oft bei Fotografien, muss einem erklärt werden, was man sieht. Etwa das Delta der Lena, das ich ohne erläuternden Begleittext wohl gar nicht hätte einordnen können (sind das vielleicht Blutgefässe?). Die Lena ist ein 4300 Kilometer langer Fluss, der dem Baikalsee in Sibirien, "dem erdgeschichtlich ältesten und tiefsten Süsswassersee des Planeten, in fast 1500 Metern Höhe", entspringt.

Es handelt sich um Satellitenfotos, die in diesem Band versammelt sind. Und ich frage mich: Was ist eigentlich ein Satellit? Ein Flugkörper, der die Erde im Weltraum umkreist, lese ich in Wikipedia. Als technischer Ignorant wundert mich nicht wenig, dass es "künstliche Gerätschaften" (was für ein Ausdruck!) gibt, die die Erde umkreisen und dann auch noch Bilder machen.

Doch nicht alle Aufnahmen in diesem Band sind von Satelliten aufgenommen worden. Das Bild vom April 2018, das die Stadt Genf und sein Umland aus gut 400 Kilometern Höhe zeigt, stammt nicht von, sondern aus einem Satelliten, aufgenommen mit einer Nikon D5 Digitalkamera und einem 1150-Milllimeter-Objektiv und zwar von einem Astronauten, dessen Name die Nasa jedoch nicht bekannt gibt.

"Von oben" ist ein ausgesprochen instruktives Werk. So erfährt man etwa, dass über der Insel Hainan mit ihren palmengesäumten Stränden jeden Nachmittag ein weisser Wolkensturm schwebt, der sich innerhalb von Stunden zu einem Gewitter auswächst. Und man lernt, dass man auf Südgeorgien mit Britischem Pfund zahlt, denn diese Insel, die 1700 Kilometer vor der Küste Argentiniens liegt, ist Teil des britischen Überseegebiets. Gezeigt wird jedoch auch, was für Unheil der Mensch auf der Erde angerichtet hat.

Faszinierend, irritierend und verblüffend (in dieser Reihenfolge) präsentierten sich mir nicht wenige Aufnahmen in diesem Band. So glaubt man etwa bei der aus drei Bildern zusammengesetzten Aufnahme aus dem entwaldeten brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso, abstrakte Kunst vor sich zu haben. Und die wenig lebensfreundliche Wüste Namibias wirkt wie ein Sandmeer; die dortigen Dünen ("Die Längsdünen erheben sich etwa 100 Meter über den Boden."), von denen ich einst einige überquerte, haben sich meinem Gedächtnis eingegraben.

"Die schönsten Geschichten, die Satellitenbilder über die Erde und uns Menschen erzählen", heisst es im Untertitel und das ist so recht eigentlich das Einzige, das ich an diesem eindrucksvollen, Horizont-erweiternden Band nicht mag. Was für ein Unsinn! Als ob Fotografien, diese zweidimensionalen Reduktionen einer dreidimensionalen Wirklichkeit, die es überdies so an sich haben, stumm zu sein, Geschichten erzählen könnten! Metaphorisch?! Bitte Nicht! Mir genügt die Realität, es ist unnötig, sie mit sogenannter Bedeutung aufzuladen.

Nicht nur beim Betrachten des Rio Javari, der im Westen Brasiliens die Grenze zu Peru bildet, zeigt sich dem, der sich Zeit nimmt und  zu schauen versteht, dass die "Realität und die Natur selbst die Künstlerin ist", sondern  auch bei den Aufnahmen des Wildflusses Vjosa, der zwar in Griechenland entspringt, jedoch hauptsächlich durch das Staatsgebiet Albaniens fliesst. 

Nichts, das sich besser eignen würde, uns Ehrfurcht  vor unserem Lebensraum zu lehren, als der Blick aus der Distanz. "Von oben" ist ein grandioses Werk!

Jörg Römer und Christoph Seidler (Hg.)
Von oben
Die schönsten Geschichten, die Satellitenbilder 
über die Erde und uns Menschen erzählen
DVA, München 2021

Wednesday 13 October 2021

Drei Bilder und ihre Geschichte



Diese drei Bilder entstanden am 15. Juni 2021 am Lago di Poschiavo bei Le Prese. Nach einem Spaziergang am See bemerkte ich drei Schwäne, die es sich im Schatten eines Baumes bequem gemacht hatten. Als ich mich näherte, um ein Foto zu machen, begann der grösste (erstes Bild) auf mich loszustürmen und so zog ich mich zurück. Kurz darauf erschien eine alte Frau auf einem Fahrrad und mit einer gefüllten Tüte auf dem Gepäckträger. Aha, das Mittagessen, dachte es so in mir. Und so war es denn auch. Es seien nicht ihre, sagte die Frau. Na ja, erwiderte ich, aus deren Perspektive sind Sie bestimmt so eine Art Patin. Sie lachte zustimmend.

Wednesday 6 October 2021

Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Keiner, dessen Einsichten in die menschliche Seele mich mehr gelehrt hätten. Für mich ist Fjodor M. Dostojewski der grösste Psychologe, den die Welt je gesehen hat. Und so überrascht es mich denn auch nicht, dass ich bereits auf der ersten Seite dieser Aufzeichnungen aus dem Untergrund auf einen Satz stosse, den ich mir unverzüglich anstreiche: "Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, und doch bin ich abergläubisch."

Ein ehemaliger Beamter, vierzigjährig, regt sich auf, über Mensch und Gesellschaft. "Und nun friste ich mein Leben in meinem einsamen Winkel und verhöhne mich selbst, indem ich mich der trotzigen und völlig nutzlosen Genugtuung ergebe, dass ein kluger Mensch doch nicht ernsthaft etwas werden kann, sondern dass nur ein Dummkopf etwas werden kann." Ganz offenbar hat sich seit dem neunzehnten Jahrhundert diesbezüglich nichts geändert.

In der Schule lernen wir, dass die Dinge im Kontext gesehen werden müssen. Mir selber steht Ralph Waldo Emersons Anregung näher, man solle sich seine eigene Bibel machen, indem man die Wörter und Sätze verwende, die man bei der Lektüre als Trompetenstoss erfahren habe. Konkret: Ich nehme mir von diesem Buch, was mich anspricht; Zusammenhänge überlasse ich denen mit literarischen Interessen.

Der Protagonist von Aufzeichnungen aus dem Untergrund beschäftigt sich wesentlich mit der Frage, was eigentlich den Menschen ausmacht. "Die Vernunft, meine Herrschaften, ist eine gute Sache, das ist unbestritten, aber die Vernunft ist lediglich die Vernunft und befriedigt lediglich die vernünftigen Begabungen des Menschen, das Wollen hingegen ist die Bekundung des Lebens insgesamt, das heisst des gesamten menschlichen Lebens, und zwar mitsamt der Vernunft und allen anderen Gelüsten. Und selbst wenn das Leben in dieser Form ein ziemlicher Mist ist, ist es doch das Leben und nicht allein das Ziehen der Quadratwurzel."

Was ist der Mensch? Was soll er sein, wonach sich ausrichten? Und vor allem: Weshalb sollte er nicht das für ihn Nützliche wollen? "um das Recht zu haben, für sich das Allerdümmste zu wünschen und nicht an die Pflicht gebunden zu sein, für sich selbst ausschliesslich Kluges zu wünschen." Denn die Rechthaberei macht seine Persönlichkeit und Individualität aus. Nichts ist dem Menschen wichtiger als dieses launenhafte Ich, das ihn doch ausmacht, auch wenn er darunter leidet.

Der Protagonist ist besserwisserisch, sich bemitleidend, zweifelnd, sich rechtfertigend. Er weiss um die Heilkraft der Aufrichtigkeit, aber eben auch um ihre Grenzen. Schreiben ist für ihn Therapie. "Schlussendlich: Ich langweile mich und tue die ganze Zeit nichts. Das Schreiben ist ja doch tatsächlich so etwas wie Arbeit. Es heisst, der Mensch werde durch Arbeit gut und ehrlich. Das ist doch immerhin eine Chance." Damit endet "Untergrund", wie der erste Teil heisst; der zweite trägt den Titel "Angelegentlich nassen Schnees" und handelt von Begebenheiten aus der Vergangenheit des Ich-Erzählers, hauptsächlich von Verletzungen, die er nicht verwinden kann.

"Die anderen waren alle dumm und einer wie der andere wie Schafe einer Herde", räsoniert er. Trotzdem grämt er sich, dass ihm keine Achtung gezollt wird. Er sinnt auf Rache, ständig. Dabei schwankt er zwischen Überheblichkeit und Selbsterniedrigung. "Held oder Dreck, dazwischen gab es nichts." Er macht die Bekanntschaft einer jungen Prostituierten, will sie retten und versagt kläglich – er ist ein Merker, kein Täter, lebt in seinen Fantasien, nicht in der Realität.

So recht eigentlich wartet der Ich-Erzähler ständig auf den radikalen Umbruch in seinem Leben. Gleichzeitig glaubt er, dass ein solcher von sich aus nicht möglich ist. "Wir sind ja sogar so weit, dass wir das echte 'lebendige Leben' als mühevolle Arbeit betrachten, fast so etwas wie eine dienstliche Verpflichtung, und wir alle sind insgesamt der Ansicht, dass ein Leben, wie es im Buche steht, besser sei." Der Mensch auf sich alleine gestellt, so schliesse ich daraus, ist verloren. Das Damaskus-Erlebnis der inneren Umkehr hält Dostojewski für gleichwohl möglich – als Gnade, die einem zuteilwerden kann.

Aufzeichnungen aus dem Untergrund wurde von Ursula Keller aus dem Russischen übersetzt und mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen. Sie charakterisiert Dostojewski treffend als grossen Zweifler und eigensinnigen Nonkonformisten, der das allgemein Akzeptierte ablehnt.

Der Mensch handelt, wie er handelt, um sich seiner Selbst zu vergewissern. Es ist unser Ego, das uns am Leben hält, und dieses ist unseren Emotionen (und nicht etwa der Ratio) unterworfen. Selten wurde das eindrücklicher geschildert als in diesem "wahren Geniestreich der Psychologie" (Nietzsche).

Fjodor M. Dostojewski
Aufzeichnungen aus dem Untergrund
Manesse, München 2021