"Am Anfang meines Interesses an der Fotografie stand nicht das Machen und Betrachten von Bildern, sondern das Lesen über sie", beginnt Geoff Dyer seine Einleitung zu diesem Band mit Essays von John Berger. Mir ging es genau gleich, auch wenn es in meinem Falle nicht die Texte von Susan Sontag, Roland Barthes und John Berger waren, sondern diejenigen von John Szarkowski, Janet Malcolm und John Berger, dessen Ways of Seeing mein Verhältnis zur Fotografie wesentlich geprägt hat.
Die in diesem Band versammelten Essays machen mich aufmerksamer, wacher, schärfen mein Bewusstsein. Nicht nur in Bezug auf die Fotografie, sondern in Bezug auf die Erscheinungsformen des Lebens insgesamt. So zeigt Bergers Beschreibung der Bombardierung Nordvietnams, dass Worte manchmal stärkere Bilder zu erzeugen vermögen als Fotografien.
"Unter anderem Sieben-Tonnen-Superbomben, die, jede einzelne, ein Gebiet von ca. 8000 Quadratmetern dem Erdboden gleichmachen. Mit ihnen zusammen auch kleine Splitterbomben. Eine ist mit Plastiksplittern geladen, die Röntgenstrahlen nicht mehr feststellen können, wenn sie sich durchs Fleisch gebohrt und im Körper festgesetzt haben. Eine andere wird Spinne genannt: ein kleiner, granatenförmiger Sprengkörper mit fast unsichtbaren, dreissig Zentimeter langen Fühlern, die ihn bei Berührung hochgehen lassen. Diese Bomben, die überall dort abgeworfen werden, wo grössere Explosionen stattgefunden haben, sollen Überlebende zerreissen, die herbeilaufen, um entstandene Brände zu löschen oder Verwundeten zu helfen."
John Berger (1926-2017) war ein neugieriger und überaus aufmerksamer Zeitgenosse, kein Theoretiker, sondern ein unabhängiger Geist und scharfer Denker, der immer wieder aufzeigt, wie das Sehen und das Fotografieren sich unterscheiden. "Die Kamera rettet bestimmte Erscheinungsbilder vor der sonst unvermeidlichen Überlagerung durch weitere Erscheinungsbilder."
Den Fotografen Jean Mohr. mit dem er oft zusammengearbeitet hat. charakterisiert er als Mensch, für den die Welt eine ständige, grosse Überraschung gewesen sei. "Oft auf erschreckende, manchmal auch wunderbare Weise. Die Fotos, die Jean sein Leben lang machte, sind das Resultat einer Wachheit, die von diesem Sich-Überraschen-Lassen herrührt." Das gilt genauso für Berger selbst.
Einer der Augenöffner in diesem Band findet sich unter dem Titel 'Geschichten': "Wenn es eine spezifische fotografische Erzählform gibt, kommt sie dann nicht der des Films nahe? Überraschenderweise sind Fotografien das Gegenteil von Filmen. Fotografien sind retrospektiv und werden auch so angenommen: Filme sind antizipatorisch. Vor einer Fotografie fragt man danach, was da war. Im Kino wartet man darauf, was als Nächstes folgt. Alle Filme sind, in diesem Sinne, Abenteuer: Sie gehen voran, sie kommen an. Die Bezeichnung flashback ist ein Eingeständnis dieser unerbittlichen Ungeduld des Films, der vorankommen will."
Auf einen anderen Augenöffner stiess ich im Gespräch, das Berger mit Sebastião Salgado führte. In vielen seiner Bilder sei der Himmel sehr wichtig, doch nicht im Sinne der Ästhetik, bemerkt er zu Salgado "Der Himmel ist in bestimmten Momenten die einzige Instanz, an die man sich wenden kann. Wer im Himmel hört ihnen zu? Vielleicht Gott. Vielleicht die Toten. Vielleicht sogar die Geschichte." Nun ja, rhetorische Frage lassen sich nun einmal schlecht beantworten, doch ich gucke mir künftig Salgados Himmel mit neuem Augen an.
Fazit: Ein wacher Geist, der einen das Sehen lehrt.
John Berger
Der Augenblick der Fotografie
Essays
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2020
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