Ein genialerer Titel als Südlich vom Ende der Welt ist schwer vorstellbar, nicht zuletzt, weil er auch als Hinweis gelten mag, dass unsere gängigen Ordnungsvorstellungen, so hilfreich sie oft sind, ihre Grenzen haben. Doch worum geht's?
Die 1988 in Klagenfurt geborene Allgemeinmedizinerin Carmen Possnig hat ein Jahr in der Antarktis verbracht, "Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50° hat". Sie hat dort zusammen mit anderen erforscht, wie sich der Mensch Extrembedingungen anpasst. "Seit ihrer Rückkehr beschäftigt sie sich im Rahmen ihres Promotionsprojekts an der Universität Innsbruck mit Weltraummedizin." So viel Weltneugier begeistert mich geradezu!
Sie muss massenhaft Tests über sich ergehen lassen, bevor sie schliesslich von der ESA, der Europäischen Weltraumorganisation, rekrutiert wird. "Über drei Stunden lang befragt mich der Psychologe zu meiner Motivation,, meinen Kindheitserinnerungen und meiner Beziehung zu der Cousine dritten Grades meiner Oma."
Die Forschungsstation Concordia gehört zu insgesamt 40 Forschungsstationen in der Antarktis. Doch weshalb betreibt man da eigentlich Forschung für die Weltraummedizin? Weil man keine Station auf dem Mond oder dem Mars hat, muss man eben auf möglichst vergleichbare Szenarien zurückgreifen. Und da Concordia sich "ein bisschen wie eine Station auf einem anderen Planeten" anfühlt, eignet sie sich dafür.
Die junge Ärztin, die sich "für alles, was die Menschheit dem Mars näher bringt" begeistert, erhält in München, Köln und St. Etienne (auch kulturelle) Einführungen in ihre künftige Arbeit. "An unseren ersten Konversationen beteilige ich mich lediglich mit einem ratlosen Lächeln und verwirrtem Gesichtsausdruck."
Bereits der Hinflug liest sich wie eine spannende Abenteuergeschichte. "In der Ferne taucht aus dem Morgennebel ein graues Ungetüm auf. Mehr Drache als Flugzeug, vier grosse Propeller, ein dicker Bauch: eine C-130 Hercules (...) Das Ohropax benötigen wir dringend. Unterhaltungen sind während des Fluges unmöglich, der Drache dröhnt, stöhnt, vibriert und wackelt vor sich hin."
Die humorbegabte Carmen Possnig schildert das Leben auf der 3233 Meter über Meer gelegenen Station höchst anschaulich. Sie berichtet unter anderem von der anfänglichen Schlaflosigkeit sowie Anflügen von Höhenkrankheit, der wilden Gerüchteküche, dem Fehlen von Fernsehen und schnellem Internet und davon, dass sich die ersten Schritte auf dem Schnee ganz anders anfühlen als zu Hause. "Meine Stiefel bringen ein trocken-quietschendes Geräusch hervor."
Das Potential für Konflikte ist in beengten Verhältnissen naturgemäss gross. Dass die Crews auf antarktischen Stationen hauptsächlich aus Männern und einem kleinen Anteil an Frauen bestehen, ist für ein gedeihliches Zusammenleben auch nicht gerade ideal. Dazu kommt, dass "die meisten Franzosen kein Italienisch, die meisten Italiener kein Französisch und viele von ihnen nur wenig Englisch sprechen." Schon etwas eigenartig, dass das bei allen Tests keine Rolle spielte.
Südlich vom Ende der Welt schildert nicht nur die Situation vor Ort, wo alle unter einem Schlafdefizit und den dazugehörigen Konzentrationsproblemen leiden, sondern erzählt auch von den Südpolexpeditionen von Robert Falcon Scott, Roald Amundsen und Ernest Shackleton.
Als sie nach einem Jahr, das sie mangels geeigneterer Worte mit "sehr kalt" und "unglaublich schön" zusammenfasst, macht sie auf dem Rückflug auch Halt auf der drei Flugstunden entfernten amerikanischen McMurdo Station, wo für jeden Schritt ausserhalb der Stadtgrenzen ein Kurs absolviert oder ein Zertifikat gemacht werden muss. "Ich bin erstaunt, dass ich den Winter in Concordia ohne derartige Hinweisschilder überleben konnte und dass ich hier ohne Zertifikat duschen darf."
Fazit: Lehrreich, unterhaltsam und inspirierend.
Carmen Possnig
Südlich vom Ende der Welt
Wo die Nacht 4 Monate dauert
und ein warmer Tag minus 50° hat
Ludwig Verlag, München 2020
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