Wednesday 13 July 2016

Sebastião Salgado: Exodus

Sebastião Salgado gehört zu den eindrücklichsten Fotografen, die ich kenne; von keinem anderen (das schliesst Frauen mit ein) haben sich mehr Bilder meinem Hirn eingebrannt. Natürlich vermag ich nicht wirklich zu sagen, weshalb dem so ist, denn schliesslich hat es das Unbewusste so an sich, dass es eben unbewusst ist, doch kann ich beschreiben, was sie bei mir auslösen.

Bei vielen von Salgados Aufnahmen denke ich automatisch über sie hinaus. Anders gesagt: So stark mich das Gezeigte berührt, so sehr ich mich oft regelrecht in die Bilder hineingezogen fühle, so sehr scheinen sie auch fast immer über sich hinauszuweisen – auf ein grösseres Ganzes, Existenzielles, Universelles. Und es ist diese Verbundenheit mit allem, was uns umgibt, die mich für diese Bilder vor allem einnimmt. Ich vermeine zu spüren, dass Salgado ein Staunender ist; jedenfalls bringt er mich zum Staunen.
Der erste Gedanke: Bolivien. Der zweite: Genial der Einfall, Flüchtlinge aus dieser Perspektive zu fotografieren. Doch sind das überhaupt Flüchtlinge? Das ist doch ein Band über Flüchtlinge, oder?

Exodus ist ein Buch über Migranten und Flüchtlinge weltweit, mit einem speziellen Fokus auf Afrika, Lateinamerika und Asien. Die Erstausgabe erschien 1999. "Die Migranten und Flüchtlinge von heute mögen das Produkt aktueller Krisen sein, doch die Spuren von Verzweiflung und die Andeutungen von Hoffnung auf ihren Gesichtern unterscheiden sich wenig von denen, die auf diesen Seiten festgehalten sind."

Das Bild aus den Bergen wurde 1998 in Ecuador aufgenommen, in der Provinz Chimborazo. Die Männer sind in die Städte abgewandert, die Frauen bringen ihre Waren zum Markt in Chimbote.
In einem Waisenhaus, das dem Krankenhaus des 
Flüchtlingslagers Kibumba Nr. 1 angeschlossen ist. Zaire, 1994.

Dass Hoffnung auf ein anderes und besseres Leben Menschen leitet, die ein Land verlassen, versteht sich von selbst. Die Schwester der Hoffnung ist die Angst, die sich als Furcht vor dem Ungewissen zeigen kann. So jedenfalls wirkt das obige Bild auf mich.

Die gegenwärtigen Völkerwanderungen gründen in Armut, Naturkatastrophen, Gewalt und Krieg. Salgados fast eine Generation zurückliegende Aufnahmen machen einem bewusst, dass Migration und Flucht keine neuen Phänomene sind. So zeigen sie, dass China und Indien bereits in den 90er-Jahren eine massive Landflucht in die grossen Städte erlebten, und die Vereinigten Staaten schon damals ein Magnet für Mexikaner und andere Lateinamerikaner waren. "Europa aber war völlig unvorbereitet auf die ungeheure Welle von Migranten und Flüchtlingen, die 2015 aus dem Nahen Osten in die Region strömten. Über Nacht erreichten die menschlichen Tragödien, die Europäer aus sicherem Abstand in fernen Ländern mitverfolgen konnten, nun ihre Strassen und die Gewässer ihrer Küsten."
Church Gate Bahnhof, Bombay, Indien 1995

Das obige Bild nimmt im Buch zwei Drittel einer Doppelseite ein. Daneben sieht man ein kleineres  Bild aus dem Jahre 1999 von einer dichtbevölkerten Strasse am Mahmut-Paşa-Hügel, in der sich der grösste Textilmarkt Istanbuls befindet. Es ist unter anderem diese Bild-Anordnung, die mich sehr für dieses Buch einnimmt, macht sie doch eindrücklich klar, dass wir es mit weltweiten Erscheinungsformen und nicht etwa mit spezifisch lokalen, religiösen oder kulturellen Problemen (obwohl, das auch) zu tun haben.

"Seit Erscheinen dieses Buches mag sich der Fokus der weltweiten Aufmerksamkeit mithin verlagert haben, doch das Phänomen bleibt das gleiche. Oft wird vergessen, dass die meisten Menschen ihr Land aus keinem anderen Grund als schierer Not verlassen. In eine ferne Stadt oder ein fremdes Land zu ziehen, heisst viel riskieren   Entbehrung, Einsamkeit, ja sogar feindseligen Empfang. Doch solange weiter ländliche Armut besteht, Diktaturen ihre Völker unterdrücken und Bürgerkriege toben, wird der Überlebensinstinkt Menschen aus ihrer Heimat hinaus auf die Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben treiben. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte."

Sebastião Salgado
EXODUS
Konzeption und Design von
Lélia Wanick Salgado
Taschen Verlag, Köln 2016

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