Wednesday 26 December 2018

Gehen. Weiter Gehen

„Vielleicht irre ich mich, aber wenn ich sehe, wie ein Kind gehen lernt, wird mir klar, dass die Freude, es zu entdecken und es zu beherrschen, die stärkste Kraft ist, die es gibt. Einen Fuss vor den anderen zu setzen, Grenzen zu erforschen und zu überschreiten, liegt in unserer Natur. Wir beginnen nicht nur, auf Entdeckungsreisen zu gehen, wir hören auch nicht mehr damit auf.“

Erling Kagge ist kurze und lange Strecken gegangen, in der Natur und in Städten, manchmal hat er sich dabei gelangweilt, manchmal sich gefreut. Und weil Gehen bedeutet, sich Zeit zu nehmen, hat er dabei sich selber und die Welt um sich herum auch wirklich wahrgenommen. „Denn ich begreife nicht und werde niemals begreifen, dass es ein Vergnügen sein kann, so an allen Gebilden, Gegenständen, die unsere schöne Erde aufweist, vorüberzurasen, als wenn man toll geworden sei und rennen müsse, um nicht elend zu verzweifeln“, zitiert er Robert Walser.

Mit zwei Freunden beschliesst er zur Fuss durch Los Angeles zu gehen. Sie sehen kaum Bäume, dafür aber unfassbar viele Maniküre-Salons („wir hatten den Eindruck, dass die eine Hälfte der Einwohner der anderen Hälfte die Nägel poliert“), Drogenkonsumenten und Bauprojekte. Auch durch die Strassen Dublins wandert er, auf den Spuren von Joyces 'Ulysses' , angeleitet von Nabokov, und die Juan-Fernández-Inseln vor Chile, auf der Daniel Defoes 'Robinson Crusoe' spielt, besucht er.

Erling Kagge sortiert seine Gedanken, während er geht, bringt etwas Ordnung in das Chaos in seinem Kopf. Ich erlebe das ähnlich. Wenn ich zum Beispiel mit einem Text nicht weiter komme, lösen sich durch das Gehen die festgefahrenen Gedankenverbindungen oft auf und setzen sich neu zusammen.

Gehen. Weiter Gehen versammelt persönliche Erfahrungen, Erlebnisse von Freunden und Bekannten, Erkenntnisse von Soziologen, Psychologen und Hirnforschern und – der Autor ist von Beruf Verleger, ein sehr belesener – ganz viele Verweise auf die Gedanken von Schriftstellern, die sich mit dem Gehen auseinandergesetzt haben, von Tomas Espedal über W.G. Sebald zu Antonio Machado.

Das Schöne an diesem Band ist unter anderem, dass er einem ganz vielfältige Anregungen gibt. Wer hat schon einmal die verschiedenen Teile seiner Heimatstadt zu Fuss erkundet? Oder den Baum vor dem Haus genauer betrachtet? Darüber hinaus ist Gehen. Weiter Gehen sehr instruktiv. „Füsse haben eine starke und komplexe mechanische Struktur. Mit ihren sechsundzwanzig Knochen, dreiunddreissig Gelenken und mehr als einhundert Sehnen, Muskeln und Gelenkbändern halten die Füsse den Körper aufrecht und im Gleichgewicht.“

Wenn wir gehen, ist der ganze Mensch miteinbezogen. Die gängige Trennung in Kopf und Körper ist irreführend. Gemäss dem Philosophen Maurice Merleau-Ponty (und die Hirnforschung hat das bestätigt) erkennen, erinnern und reflektieren wir auch mit Zehen, Füssen, Beinen, Armen, Bauch, Brust und Schultern. Nicht nur mit dem Kopf und der Seele, auf die Sokrates Wert gelegt hat.

Zu sein heisst nicht nur, in der Welt zu sein, wie es Steine sind, sondern sich zur Welt zu verhalten. Wir Menschen, betont Heidegger, müssen bereit sein, Bürden auf uns zu nehmen, um frei zu sein. Entscheidet man sich für den Weg des geringsten Widerstands, wird diese Alternative, die auf den ersten Blick die wenigsten Probleme mit sich bringt, immer Vorrang haben. Dann ist die Wahl vorherbestimmt, und man lebt nicht nur ein unfreies, sondern auch ein langweiliges Leben.“

Wie wir gehen, können wir beeinflussen. Versuchen wir bewusst zu gehen, merken wir, dass das ganz schön schwierig ist, weil unser Hirn – ein Wald voll wilder Affen – sich nicht gerne reinreden lässt. Dass und wie sich das Gehen-Üben lohnt, zeigt Erling Kagge eindrücklich.

Erling Kagge
Gehen. Weiter Gehen
Insel Verlag, Berlin 2018

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