Wednesday 6 November 2019

Sebastião Salgados Autobiografie

"Wer keine Geduld besitzt, kann kein Fotograf sein", lautet der erste Satz in Sebastião Salgados Autobiografie, Mein Land, unsere Erde, die er zusammen mit der französischen Journalistin Isabelle Francq verfasst hat, die in ihrem Vorwort behauptet: "Eine Fotografie von Sebastião Salgado zu betrachten heisst, die Würde eines Menschen zu spüren." Ich stimme zu, denn ich habe diese Erfahrung auch gemacht. Doch nicht alle sehen das so. Susan Sontag zum Beispiel ist ganz anderer Auffassung, wie man hier nachlesen kann.

Doch zurück zu Salgados Eingangssatz, den er nicht einfach so in die Welt setzt, sondern konkretisiert, am Beispiel einer Riesenschildkröte auf den Galápagos-Inseln, die er zu fotografieren versuchte, die sich jedoch dauernd davonmachte, wenn er sich ihr näherte. "Also wurde ich selber zur Schildkröte: Ich ging auf alle viere und begann, Handflächen und Knie am Boden, auf gleicher Höhe mit ihr zu krabbeln. Da floh die Schildkröte nicht mehr."

Als er mit dem Fotografieren begann, probierte er alles aus: Akt, Sport, Porträt. Dass er dann bei der Sozialdokumentation landete, begriff er als folgerichtig, da er zur Zeit der grossen Industrialisierung Brasiliens aufwuchs, die einen Teil der Jugend damals sehr beschäftigte.

Salgado versteht sich weder als Fotojournalist noch als Aktivist. Leiten lässt er sich von einem inneren Drang. "Wie bei allen Fotografen, hängen meine Fotos mit mir zusammen. damit, was mir durch den Kopf geht, was ich gerade erlebe oder denke."

Er erzählt von seinen Reisen, von seiner Frau und wichtigsten Mitarbeiterin (und verschweigt auch nicht, dass ihre lange Ehe nicht immer problemlos gewesen ist), ihren beiden Söhnen (einer von ihnen ist behindert), vom Instituto Terra ... 

Salgados wichtigstes (jedenfalls für mich) Werk ist Genesis, für das er sich auf die Spuren von Charles Darwin gemacht hat. Er las "Die Fahrt der Beagle" und verbrachte drei Monate auf den Galapagos-Inseln, die für ihn eine Art Synthese der Welt darstellen. Was er damit meint, führt er ausführlich aus und macht dabei eindrücklich klar, wie die Umgebung alle Lebewesen prägt. Gelernt hat er auch, dass jede Spezies (und nicht etwa nur der Mensch) über ihre ganz eigene Vernunft verfügt.

"Durch 'Genesis' wurde mir bewusst, dass wir durch das Leben in den Städten, das uns von der Natur immer stärker abschneidet, zu komplizierten Tieren geworden sind. Indem wir uns der Erde entfremdeten, wurden wie selbst zu fremdartigen Wesen. Aber dieses Problem ist kein unlösbares: Sein Heilmittel lautet Information, und ich freue mich, wenn ich etwas dazu beitragen konnte. Die Antwort auf die Gefahr. die der Mensch auf sich und alle Arten des Planeten geladen hat, ist nicht, die Zeit zurückzudrehen, sondern sich wieder der Natur zuzuwenden."

Mein Land, unsere Erde enthält auch Fotos, die (gut ausgewählt) eindrücklich demonstrieren, dass Salgado einen anderen, weiteren, umfassenderen Blick auf die Dinge hat als viele  Fotografen. Ich jedenfalls verspüre beim Betrachten seiner Bilder ein grosses Staunen über beziehungsweise Ehrfurcht (die Grundvoraussetzung für eine gesunde Lebensperspektive) für diese fantastische Erde, die, wie wir wissen, nur ein relativ kleiner Planet in einer Galaxie inmitten von Millionen von Galaxien ist. 
Anavilhanas Archipel, bestehend aus über 
350 dicht bewaldeten Inseln im Rio Negro
Staat Amazonas, Brasilien, 2009
@Sebastião Salgado

Sebastião Salgado
Mein Land, unsere Erde
Autobiografie
Nagel & Kimche, Zürich 2019

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