Sunday, 30 December 2012

Charles Bukowski

Mein erstes Bukowski-Buch, „Aufzeichnungen eines Aussenseiters“, habe ich vor vielen Jahren während wenig inspirierenden juristischen Vorlesungen gelesen – ich war begeistert, habe aber keinen Schimmer mehr, was ich damals gelesen habe. Dafür habe ich noch Bilder im Kopf von „Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend“, der Geschichte von Bukowskis Aufwachsen in Los Angeles.

„Schreie von Balkon“ versammelt Briefe, die Bukowski von 1958 bis 1994 geschrieben hat, und ist in der Tat, wie „Der Spiegel“ meint, „ein faszinierender Briefroman“. Zum ersten Mal laut auflachen musste ich auf Seite 5: „Ich weiss nicht, es gibt verdammt viel Enttäuschung und Trickserei in dieser Lyrik-Branche; die Bildung von Gruppen, der seelenvolle Händedruck, ich druck was von dir wenn du was von mir druckst, und hätten Sie nicht Lust vor einer kleinen erlesenen Schar von Homos zu lesen? Ich nehme eine Zeitschrift für Lyrik in die Hand, blättere die Seiten um, zähle die Sterne und Monde und Kümmernisse, gähne, pisse mein Bier aus und nehme mir die Stellenangebote vor.“ Und schon sind die Gefühle, die ich bei meiner Bukowski-Lektüre vor vielen Jahren verspürte, wieder da. Das schnörkellose Beschreiben von dem, was ist. Dieser gerade, klare, unprätentiöse Stil begeistert mich nach wie vor.

Bukowski schreibt wahre Sätze. Solche wie diese hier: „Gedichte schreiben ist nicht schwer. Danach leben, das ist schwer.“ Oder diese: „Kapieren die nicht, dass es schlicht und ergreifend angenehm sein kann, in einem Zimmer zu sitzen und Bier zu trinken und nicht viel zu sagen; die Welt draussen spüren, dasitzen und ausruhen.“ Oder diese: „Bin heute schwer verkatert, aber ich sehe kein zertrümmertes Mobiliar und habe keine aufgeschürften Fingernägel, also hat es keine Schlägerei gegeben. Gut.“

Bei Hemingway, schreibt er, sei es immer um Sieg oder Niederlage gegangen. Bei Camus habe das hingegen keine Rolle gespielt. Camus' Fremder „hatte den Mut, sich mit allem abzufinden, statt dagegen aufzubegehren.“ Und er fügt hinzu: „Ich könnte dieser Typ von Camus nicht sein; ich könnte nicht alles hinnehmen, um es abzutun, zu ignorieren oder in Trockenfäule zu machen. Irgendwo zwischen Hem und Camus stehe bzw. sitze ich heute morgen, verkatert, bleich, weiss, alt. Morgen gehts vielleicht wieder besser.“

Alle Empfindungen, Gedanken und Gefühle hat man nur in einem bestimmten Moment. Dann sind sie wieder weg. Stunden später sieht man alles womöglich wieder ganz anders. Bei einem Brief ist das klar, bei einem Briefroman wie dem vorliegenden auch, bei einem Roman hingegen nicht. Deshalb lese ich diese Briefe als was sie sind: Bestandesaufnahmen von Momenten. Näher an die Realität kann man mit Schreiben vermutlich gar nicht herankommen.

„Schreie vom Balkon“ sind eine erfrischende Lektüre. Weil Bukowski anders denkt als die meisten. Weil er eben auch anders lebt als die meisten: „Wenn ein Englischlehrer schreiben kann, gut, mir recht. Man muss nicht in fünfzig Ausnüchterungszellen landen, um zum Leben erweckt oder aus ihm hinausgedroschen werden. Aber an denen ihrem Leben ist mir etwas zu risikolos und glatt.“ Und weil er zu anderen Urteilen kommt als die meisten: „Mir kam der Gedanke, dass Henry Miller der Allwissende keine Ahnung von Sex hatte und nur darüber reden konnte, was ja das typische Verhalten von Nichtfickern ist.“

Am 7. Dezember 1963 schreibt er über John F. Kennedy, der am 22. November 1963 in Dallas. Texas erschossen wurde: „Du fragst, was ich von Kennedy halte. Gar nichts halte ich von K. Da unten, wo ich arbeite, haben sie unter seinem Foto ein schwarzes Schild: MÄRTYRER. Meint ihr wirklich? Harvard? Eine edle Tusse fürs Bett, die sich eine Wespentaille hinhungert. Die ihr das Baby im Leib killt? Meint ihr, ein Mensch muss als Märtyrer betrachtet werden, weil er den Weg des geringsten Widerstandes gegangen ist? Ist es wirklich die Hölle, schon bei der Geburt mehr Geld auf der Bank zu haben, als man je ausgeben kann? Ist es die Hölle, nie darüber nachdenken zu müssen, woher das Geld für die Miete kommt? Ist es die Hölle, wenn dir jemand eine Kugel in den Kopf schiesst, statt dass du's selber tun musst? Wo kommt die Hölle überhaupt ins Spiel, und wie definiert man das? Leiden nur die da oben?“

„Schreie vom Balkon“ ist ein Buch, das einen die Welt für einmal anders, ganz anders, sehen lässt.

Charles Bukowski
Schreie vom Balkon - Briefe 1958-1994
Hrsg. von Seamus Cooney, Deutsch von Carl Weissner
Gingko Press, Hamburg 2012

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