In den „Klassen-Bildern“ der Jahre
1945 bis 2000 „spiegeln sich sowohl die wirtschaftliche Prosperität
der Nachkriegszeit als auch der Untergang der alten Industrie in den
1980er Jahren und neue Tendenzen der Verarmung gegen Ende des 20.
Jahrhunderts wider. Und es mag dabei verblüffen, dass das Soziale
als Misere Mitte der 1980er Jahre immer noch ein ähnliches Gesicht
aufweist wie rund 150 Jahre zuvor“, schreibt Rudolf Stumberger in
seiner Einleitung zu diesem auf vielfältige Art und Weise anregenden
Werk. Er illustriert sein Argument mit einer Abbildung von Mary Ellen
Mark aus dem Jahre 1987 und einer von Walker Evans aus dem Jahre 1936
(ich kann sie hier leider nicht zeigen) und es ist in der Tat
verblüffend, wie ähnlich sie wirken.
Wie bei akademischen Publikationen
üblich, wird zuerst einmal definiert: „Sozialdokumentarische
Fotografie ist die fotografische Darstellung des Sozialen, oft in
gesellschaftskritischer Absicht und über die Tagesaktualität
hinausgehend. Im engeren 'klassischen' Sinn geht es dabei um die
Dokumentation, Anklage und Beseitigung von sozialen Missständen. In
einem weiteren Sinn geht es um die Dokumentation und Analyse des
Sozialen.“
Den Stellenwert dieses Werkes im Rahmen
einschlägiger akademischer Publikationen mögen Berufenere
beurteilen, mir geht es hier darum, auf ein paar Gedanken und
Ausführungen hinzuweisen, die mich besonders berührt haben. Dabei
gehe ich ganz willkürlich vor, lasse also den Kontext, den der Autor
mir vorgibt, weitgehend ausser Acht und mich davon leiten, was ich
mir bei der Lektüre angestrichen habe. Etwa diesen Satz hier: „Im
Gegensatz zu dem allgemeinen Medienpublikum nehmen die postmodernen
Autoren die Inhalte der Massenmedien wirklich ernst.“
Dass die Welt heutzutage vorwiegend
medial wahrgenommen werde und zu einem Realitätsschwund führe, sei
ein meist ungeprüfter Gemeinplatz, der zudem falsch sei, so
Stumberger, denn zu fast 90 Prozent ihres Tages beschäftigen sich
die Menschen nachweislich nicht mit den Medien. Zudem: Charles
Jonscher hat in „Wired Life“ (1999) darauf hingewiesen, dass im
elektronischen Zeitalter aufwachsende Kinder, auch wenn das Pädagogen nicht immer so sehen, sehr wohl zwischen der realen und
der medialen Welt zu unterscheiden wissen.
„...
zu fragen, ob sich um den Begriff des 'Bildes' herum, ebenso wie um
den der 'Kommunikation' in der Kommunikationswissenschaft, überhaupt
ein Theorierahmen bauen lässt.“ Fragen kann man sich übrigens
auch, wozu ein solcher Theorierahmen, so er denn möglich, gut sein
sollte, ausser natürlich zur Arbeitsbeschaffung für Bild- und
Kommunikationswissenschaftler. „Ich habe das schon immer für
einen Widerspruch gehalten. Medien. Wissenschaften ...“ (Annalena
McAfee:
Zeilenkrieg, 2012).
Die sozialdokumentarische
Fotografie hatte es immer schwer auf der visuellen Bühne und hätte
ohne Zuschüsse des Staates und diverser Organisationen wohl kaum
überlebt. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erfolgte dann die
Transformation der Fotografie vom Handwerk zur Kunst. Dies hatte
nicht nur Auswirkungen auf die ökonomischen Verhältnisse (einige
Fotografen erzielten plötzlich Millionen-Honorare), sondern auch auf
die Fotografie selbst: „Der Nimbus der Objektivität und der
Authentizität – geboren aus dem physikalischen Zusammenspiel von
Licht und lichtempfindlichen Film, bei dem als natürliches Phänomen
die Realität der Welt auf Papier, Glas oder Diafilm ihr Sein als
materielle Spur einschrieb“ war dahin, Nachbearbeitung sowie
Inszenierung wurden die Regel.
Zitiert wird unter anderen
auch der Fotograf Tom Hunter, der meint, zu argumentieren, was
real sei und was nicht, sei sehr seltsam: „... alle Fotografie ist
inszeniert, denn wenn du deine Kamera an das Auge setzt, ist das
bereits eine Inszenierung.“ Sicher, strenggenommen schon. Trotzdem
ist das Unsinn, denn Inszenierung meint die bewusste, zweckgerichtete
Herstellung von Wirklichkeit im Gegensatz zur vorgefundenen
Wirklichkeit. Dass theoretische Abgrenzungen schwierig sind, versteht
sich, doch wenn der Fotograf die Betrachter darüber informiert, wie
das Bild zustande gekommen ist, lässt sich ganz leicht
unterscheiden, ob sich das Fotografen-Ego über die Wirklichkeit vor
dem Kameraauge erhebt oder sich ihr unterordnet.
PS: Es versteht sich, das
Wenige, das ich hier aufnotiert habe, beschreibt weder das Buch, noch
wird es ihm gerecht. Deshalb: ich habe „Klassen-Bilder II“ mit
Gewinn gelesen und vor allem geschätzt, dass ich den Autor als
erfreulich pragmatisch-realistisch und nicht etwa akademisch
abgehoben wahrgenommen habe: „So wie der Bereich der 'visual
culture' generell, scheint auch der Ansatz des 'Visuellen im
Sozialen' alter Wein in neuen Schläuchen zu sein.“
PS1: Auf Seite 207 wird
auch „Parrs Kollege in Manchester, Denis Meadows“ erwähnt, der
mit seinem Omnibus mehrere Monate durch England tourte und dabei
Menschen porträtierte. Für eine allfällige Neuauflage: Der Mann
heisst Daniel Meadows und lehrte bis vor kurzem in Cardiff, wo er
auch meine Magisterarbeit über dokumentarische Fotografie („Giving
the Moment Significance“ in „Ways of Perception: On Visual and
Intercultural Communication“, White Lotus Press, Bangkok, 2006)
betreute.
Rudolf Stumberger
Klassen-Bilder II
Sozialdokumentarische
Fotografie 1945-2000
UVK Verlagsgesellschaft,
Konstanz 2010
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