Wednesday, 1 May 2013

Rudolf Stumberger: Klassen-Bilder II

In den „Klassen-Bildern“ der Jahre 1945 bis 2000 „spiegeln sich sowohl die wirtschaftliche Prosperität der Nachkriegszeit als auch der Untergang der alten Industrie in den 1980er Jahren und neue Tendenzen der Verarmung gegen Ende des 20. Jahrhunderts wider. Und es mag dabei verblüffen, dass das Soziale als Misere Mitte der 1980er Jahre immer noch ein ähnliches Gesicht aufweist wie rund 150 Jahre zuvor“, schreibt Rudolf Stumberger in seiner Einleitung zu diesem auf vielfältige Art und Weise anregenden Werk. Er illustriert sein Argument mit einer Abbildung von Mary Ellen Mark aus dem Jahre 1987 und einer von Walker Evans aus dem Jahre 1936 (ich kann sie hier leider nicht zeigen) und es ist in der Tat verblüffend, wie ähnlich sie wirken.

Wie bei akademischen Publikationen üblich, wird zuerst einmal definiert: „Sozialdokumentarische Fotografie ist die fotografische Darstellung des Sozialen, oft in gesellschaftskritischer Absicht und über die Tagesaktualität hinausgehend. Im engeren 'klassischen' Sinn geht es dabei um die Dokumentation, Anklage und Beseitigung von sozialen Missständen. In einem weiteren Sinn geht es um die Dokumentation und Analyse des Sozialen.“

Den Stellenwert dieses Werkes im Rahmen einschlägiger akademischer Publikationen mögen Berufenere beurteilen, mir geht es hier darum, auf ein paar Gedanken und Ausführungen hinzuweisen, die mich besonders berührt haben. Dabei gehe ich ganz willkürlich vor, lasse also den Kontext, den der Autor mir vorgibt, weitgehend ausser Acht und mich davon leiten, was ich mir bei der Lektüre angestrichen habe. Etwa diesen Satz hier: „Im Gegensatz zu dem allgemeinen Medienpublikum nehmen die postmodernen Autoren die Inhalte der Massenmedien wirklich ernst.“
Dass die Welt heutzutage vorwiegend medial wahrgenommen werde und zu einem Realitätsschwund führe, sei ein meist ungeprüfter Gemeinplatz, der zudem falsch sei, so Stumberger, denn zu fast 90 Prozent ihres Tages beschäftigen sich die Menschen nachweislich nicht mit den Medien. Zudem: Charles Jonscher hat in „Wired Life“ (1999) darauf hingewiesen, dass im elektronischen Zeitalter aufwachsende Kinder, auch wenn das Pädagogen nicht immer so sehen, sehr wohl zwischen der realen und der medialen Welt zu unterscheiden wissen.

„... zu fragen, ob sich um den Begriff des 'Bildes' herum, ebenso wie um den der 'Kommunikation' in der Kommunikationswissenschaft, überhaupt ein Theorierahmen bauen lässt.“ Fragen kann man sich übrigens auch, wozu ein solcher Theorierahmen, so er denn möglich, gut sein sollte, ausser natürlich zur Arbeitsbeschaffung für Bild- und Kommunikationswissenschaftler. „Ich habe das schon immer für einen Widerspruch gehalten. Medien. Wissenschaften ...“ (Annalena McAfee:
Zeilenkrieg, 2012).

Die sozialdokumentarische Fotografie hatte es immer schwer auf der visuellen Bühne und hätte ohne Zuschüsse des Staates und diverser Organisationen wohl kaum überlebt. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erfolgte dann die Transformation der Fotografie vom Handwerk zur Kunst. Dies hatte nicht nur Auswirkungen auf die ökonomischen Verhältnisse (einige Fotografen erzielten plötzlich Millionen-Honorare), sondern auch auf die Fotografie selbst: „Der Nimbus der Objektivität und der Authentizität – geboren aus dem physikalischen Zusammenspiel von Licht und lichtempfindlichen Film, bei dem als natürliches Phänomen die Realität der Welt auf Papier, Glas oder Diafilm ihr Sein als materielle Spur einschrieb“ war dahin, Nachbearbeitung sowie Inszenierung wurden die Regel.

Zitiert wird unter anderen auch der Fotograf Tom Hunter, der meint, zu argumentieren, was real sei und was nicht, sei sehr seltsam: „... alle Fotografie ist inszeniert, denn wenn du deine Kamera an das Auge setzt, ist das bereits eine Inszenierung.“ Sicher, strenggenommen schon. Trotzdem ist das Unsinn, denn Inszenierung meint die bewusste, zweckgerichtete Herstellung von Wirklichkeit im Gegensatz zur vorgefundenen Wirklichkeit. Dass theoretische Abgrenzungen schwierig sind, versteht sich, doch wenn der Fotograf die Betrachter darüber informiert, wie das Bild zustande gekommen ist, lässt sich ganz leicht unterscheiden, ob sich das Fotografen-Ego über die Wirklichkeit vor dem Kameraauge erhebt oder sich ihr unterordnet.

PS: Es versteht sich, das Wenige, das ich hier aufnotiert habe, beschreibt weder das Buch, noch wird es ihm gerecht. Deshalb: ich habe „Klassen-Bilder II“ mit Gewinn gelesen und vor allem geschätzt, dass ich den Autor als erfreulich pragmatisch-realistisch und nicht etwa akademisch abgehoben wahrgenommen habe: „So wie der Bereich der 'visual culture' generell, scheint auch der Ansatz des 'Visuellen im Sozialen' alter Wein in neuen Schläuchen zu sein.“

PS1: Auf Seite 207 wird auch „Parrs Kollege in Manchester, Denis Meadows“ erwähnt, der mit seinem Omnibus mehrere Monate durch England tourte und dabei Menschen porträtierte. Für eine allfällige Neuauflage: Der Mann heisst Daniel Meadows und lehrte bis vor kurzem in Cardiff, wo er auch meine Magisterarbeit über dokumentarische Fotografie („Giving the Moment Significance“ in „Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication“, White Lotus Press, Bangkok, 2006) betreute.

Rudolf Stumberger
Klassen-Bilder II
Sozialdokumentarische Fotografie 1945-2000
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2010

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