Wednesday 21 May 2014

Auftritt Schweiz. Das Lesebuch

Auftritt Schweiz. Das Lesebuch ist ein Werk ganz nach meinem Geschmack: ein attraktiver Mix, dramaturgisch und gestalterisch, von Gedichten, Listen und Rezepten, kürzeren wie längeren Geschichten, Fotografien, Comics und Illustrationen, witzig, lehrreich und unterhaltend.

Aufgebaut wie ein Lexikon von A bis Z, lese ich unter der ganz wunderbaren Stichwort-Kombination Bünzli/Heimweh, dass die Schweizer einander fast ausnahmslos für Bünzli halten (wie wahr!). Die Töfffahrer ausgenommen, die "machen am Wochenende Hunderte von Kilometern, und wenn sie auf der Strasse einen anderen Töfffahrer sehen, grüssen sie ihn im Vorbeidonnern lässig mit einem Finger." (Susann Sitzler in Grüezi und Willkommen). Man trifft auch auf Klassiker wie Peter Bichsels Des Schweizers Schweiz (ein Text, der mir schlecht gealtert vorgekommen ist) oder Hugo Loetschers nach wie vor sehr ansprechenden Text übers Muff-Sein: "Muff-Sein ist eine innere Bereitschaft: Wir möchten unsere Sache rechtmachen. Wir bringen die Dinge nach bestem Können in Ordnung, und dann müssen wir erleben, dass das Leben selber so unordentlich ist ... Was manchen als üble Laune vorkommt, ist mehr. Es ist eine Beschwörung von Schicksal, indem wir uns mit ihm in bestem schweizerischen Sinn für den Kompromiss arrangieren: wir sind bereit, freiwillig etwas vorwegzuleiden, um nicht unfreiwillig zum grossen Leiden zu kommen. Also sind wir zum vorneherein schon einmal aufgebracht oder enttäuscht. Wir rechnen nicht nur, sondern wir rechnen damit, dass die Rechnung nicht aufgeht. Aber es wird ein Rest sein, so hoffen wir, der uns nicht aus der Bahn wirft."

Unter anderem lerne ich, dass nicht in der ganzen Deutschschweiz Südalemannisch geredet wird. Im bündnerischen Samnaun spricht man nämlich einen südbairischen Dialekt und in der Stadt Basel wird Nordalemannisch gesprochen. Und ich erfahre, dass es vier von fünf Schweizern nichts ausmacht, "einen Kriminellen zum Nachbar zu haben. In keinem andern Land der Welt ist der Wert höher." Auch staune ich über den eisernen Willen des Pharma-Stammvaters Fritz Hoffmann-La Roche (1868-1920), der mit dem praktisch wirkungslosen Sirolin (der bittere Hustensaft wurde mit Orangenaroma angereichert) reich geworden ist.

Die Schweiz ist bekanntlich eine Willensnation, es ist der Wille zum gemeinsamen Geldverdienen, der das Land zusammenhält. Das ist schon lange so. Weniger lange ist es allerdings her, dass die Schweiz ein Einwanderungsland geworden ist, denn noch im 19. Jahrhundert trieb die Armut einen Sechstel der damaligen Bevölkerung in die Fremde.

Der Lebensrhythmus in den Schweizer Städten sei der höchste der Welt, so lese ich. Und was, bitte schön, ist der Lebensrhythmus? "... ein Mischwert aus Gehgeschwindigkeit der Passanten (Schweiz: Rang drei), Wartezeiten auf der Post (Rang zwei) und Genauigkeit öffentlicher Uhren (Rang eins)."

Dass man in der Schweiz wandert, weiss jeder. Doch dass es insgesamt 50'000 gelbe Wegweiserstandorte sowie 60'000 Kilometer signalisierte Wanderwege, Berg- und Alpinwanderwege gibt, war mir neu. Anfang der 1990er-Jahre steckte der Basler Lucius Burckhardt, damals Professor in Kassel, Spazierstöcke in die Erde mit der Aufschrift "Hier ist es schön." Möglicherweise auch wegen der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Verschönerungsvereine, zuständig für Ruhebänke, Blumenschmuck, Bundesfeier, Weihnachtsbeleuchtung. Schade, dass diese heute fast schon sinnentstellend nur noch unter Verkehrs- und Tourismusvereine firmieren ...

Auftritt Schweiz
Das Lesebuch
Herausgegeben von Franziska Schläpfer und dem SBVV
Scheidegger & Spiess, Zürich 2014

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