Dieses Buch kommt entschieden zum
falschen Zeitpunkt, denkt es so in mir, denn nichts steht mir in
diesen Corona-Zeiten viel ferner als Pressefreiheit und Demokratie.
Zum einen halte ich beide nicht für wirklich existent –
Pressefreiheit: Die Freiheit einiger Begüterter ihre Meinung
veröffentlichen zu lassen / Demokratie: "The best democracy
money can buy", so Greg Palast über die amerikanische
Variante – , zum anderen erschöpft sich der Grossteil der
Medien, denen es in erster Linie um den Profit geht, im
Zur-Verfügung-Stellen einer Plattform für eitle Wichtigtuer.
Soviel zu meinen Voreingenommenheiten.
Dass ich dieses Werk trotzdem mit Gewinn gelesen habe, liegt
wesentlich daran, dass ich eine Reise in die Vergangenheit habe
machen dürfen, die mich vielfältig informiert und einiges gelehrt
hat. Zudem hat sie mir in Erinnerung gerufen, dass der
Qualitätsjournalismus, wie Wolfgang R. Langenbucher meint, auf
derselben kulturellen Stufe steht wie Literatur, Kunst, Philosophie
und Wissenschaft, auch wenn ich diese Unterteilungen für willkürlich
erachte. So berichtete etwa Johann Gottfried Seume ganz einfach
davon, was ihn auf seinen ausgedehnten Wanderungen beschäftigte –
das tun übrigens viele, die schreiben; das Einordnen
überlassen sie den Universitätslehrern. "Es ist ein
assoziatives Erzählen in scheinbar sprunghafter Zusammenschau von
Reiseerlebnissen, Geschichte, privaten Bekenntnissen und
gesellschaftspolitischen Wertungen", kommentiert Otto Werner
Förster.
Als Herausgeber dieses Bandes fungieren
die Professoren Michael Haller und Walter Hömberg, die in ihrer
Einführung den Wiener Sozialreporter Max Winter zitieren, der zu
Beginn des 20. Jahrhunderts die Aufgabe des Reporters so beschrieb:
"Überall eindringen, selber neugierig sein, um die Neugierde
anderer befriedigen zu können, alles mit eigenen Augen schauen und
was man sich nicht zusammenreimen kann, durch Fragen bei Kundigen
herausbekommen, dabei aber nie vergessen, mit welchen persönlichen
Interessen der Befragte an die Sache gekettet ist." Besser und
umfassender geht kaum.
Als ich vor Jahren eine
Journalismus-Reihe herausgegeben habe, begriff ich gute Journalisten vor allem als Aufklärer. Herbert Riehl-Heyse, Jürgen Leinemann, Ernst
Müller-Meiningen jr. und Sibylle Krause-Burger gehörten
dazu. "Ich lass mir den Mund nicht verbieten!"
machte mich mit vielen anderen Journalisten bekannt, die ich als
Aufklärer begreife – und überdies in Zeiten, in denen das um
einiges gefährlicher war als heute. Das will nicht heissen, dass
Journalismus heute ungefährlich sei, ganz und gar nicht.
Es sind übrigens nicht nur
Journalisten, die sich um die Pressefreiheit verdient gemacht haben,
auch der Drucker Peter Zenger, ein deutscher Einwanderer in New York,
und Verleger wie Marion Dönhoff und Curt Frenzel gehörten dazu.
Aufgeklärt wurde ich auch darüber, dass einige illustre Namen, die
ich bisher nicht als Journalisten wahrgenommen habe, auch
journalistisch unterwegs gewesen waren – von Daniel Defoe über
Henry Morton Stanley und Joseph Roth zu Karl Marx.
Mit besonderem Interesse las ich über
die mich schon lange faszinierende Martha Gellhorn ("Während
die Kollegen an der Hotelbar mit ihren Abenteuern prahlen, geht
Gellhorn zu den Menschen, spricht direkt mit ihnen, hört zu, packt
mit an, hilft und berichtet: aus Indochina, Vietnam, dem nahen Osten,
Panama, Nicaragua, der Golfregion, Afrika …"), konnte
fast nicht glauben, dass am 1. August 1937 in Paris um die 100 000
Menschen dem Sarg der 27jährigen Gerda Taro folgten, die im
Spanischen Bürgerkrieg als Fotoreporterin zu Tode gekommen war, und
war mehr als nur verblüfft über den einstmals originellen und
engagierten Nordwestdeutschen Rundfunk, der sich als Anwalt der Hörer
begriff.
"Hätte ich es verhindern können?"
ist der Beitrag über den amerikanischen Fotografen Ronald Haeberle
überschrieben, der im Vietnamkrieg (der in Vietnam übrigens 'Der
amerikanische Krieg' genannt wird) Aufnahmen vom My Lai-Massaker
gemacht hatte, bei dem "182 Frauen, 172 Kinder, 60 Männer über
sechzig, 90 jüngere Männer" ermordet wurden. Erst als der Journalist Seymour Hersh sich der Geschichte annahm, gelangte sie an
die Öffentlichkeit.
Die beiden Herausgeber und die
zahlreichen Autorinnen und Autoren dieses Bandes präsentieren mit "Ich lass mir den Mund nicht verbieten!" eine
eindrückliche Aufklärungsgeschichte, die nicht zuletzt klar macht,
dass was heutzutage viele für selbstverständlich halten (den Mund
aufzumachen und deswegen nicht im Gefängnis zu landen), sich nur
mühsam durchgesetzt hat – und nach wie vor von
Interessengruppen bekämpft wird.
"Ich lass mir den Mund nicht
verbieten!"
Journalisten als Wegbereiter der
Pressefreiheit und Demokratie
Herausgegeben von Michael Haller
und Walter Hömberg
Reclam, Stuttgart 2020
No comments:
Post a Comment