Wednesday 14 September 2022

Wandern mit Nietzsche

Natürlich liest man dieses Buch anders, wenn man die Gegend, in der Nietzsche gewandert ist, aus eigener Anschauung kennt. Corvatsch, Bernina, das Fextal sind mir einigermassen vertraut, und so stellen sich beim Lesen ganz automatisch Bilder im Kopf ein. Überdies weiss ich. dass Bad Ragaz nicht an der Grenze zu Liechtenstein liegt, dass es in Splügen keinen Bahnhof gibt und ein Luzernersee existiert auch nicht (es handelt sich um den Vierwaldstättersee, auf Englisch Lake Lucerne). Doch das sind Details, die einem Nicht-Schweizer wohl kaum auffallen werden.

Zweimal ist der Autor, Philosophieprofessor an der University of Massachusetts, auf Nietzsches Spuren in der Schweiz (mit Schmunzeln nahm ich zur Kenntnis, dass der Autor Basel wie Zürich als vollkommen geistlose Städte beschreibt, auch wenn mir schleierhaft ist, was geistvolle Städte sein könnten) gewandert, als 19- und als 36Jähriger. Und natürlich bedeutet ihm Nietzsche beide Male etwas Anderes, wenn auch der Kern unverändert geblieben war: Der zu werden, der man ist.

Wandern mit Nietzsche gehört zu den Büchern, die ich ausgesprochen schätze. Zum Einen, weil ich viel über Nietzsche erfahre, das ich nicht wusste, zum Andern, weil es Nietzsches Leben mit dem Leben des Autors zusammenbringt, denn nur eine Philosophie, die sich praktisch auswirkt, finde ich von Nutzen.

Nietzsche erlangte seine subjektive Wahrheit durch Anschauung. Sein Lehrmeister war das Leben, wozu auch die körperliche Anstrengung, die das Wandern ist, gehört.  "Nietzsche, zugleich Therapeut und Patient", wusste um die Begrenztheit der Selbsterkenntnis ("Jeder ist sich selbst der Fernste.") und verstand weit mehr von der menschlichen Natur als die sich gemeinhin selbst überschätzenden einschlägig Diplomierten.

Aufrichtigkeit bildet die Grundlage für ein lebenswertes Leben. Es ist diese Aufrichtigkeit, die Nietzsche (und auch seinen Biografen Kaag) dazu bewegt, sich neu zu positionieren, sobald sich etwas erschöpft hat und/oder neue Erkenntnisse dies gebieten. "Nietzsche behauptete, dass nur die ästhetische Erfahrung die Existenz rechtfertigen könne und dass sich der Wert des Lebens  in einer Empfindsamkeit für die hohen Töne des Lebens und die Einstimmung darauf, aber auch für seine leisen Tonschwankungen erweise. Bevor er in die Berge um Sils-Maria floh, kam er zum Schluss, dass Wagner dieses Feingefühl und die Sorgfalt fehlten und dass sehr wenig seiner vorgeblichen Kunstfertigkeit tatsächlich ästhetisch ansprechend war."

Wandern mit Nietzsche ist auch eine erfreulich persönlich gehaltene Einführung in Nietzsches Leben und Werk. Zentral dabei ist die "Umwertung aller Werte", deren Grundlage die Frage ist, woher unsere Werte eigentlich herkommen. Es sind die metaphysischen Fiktionen Religion und Ideologie, die das menschliche Leben über weite Strecken dominiert haben. Ohne diese beiden Krücken ist der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen. "Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, ausser dir: Wohin er führt? Frage nicht?, lehrt uns Nietzsche, "gehe ihn."

Auch von Kant ist die Rede. Einerseits, weil Nietzsche mit ihm so ziemlich gar nichts anfangen konnte, andererseits, weil John Kaags Frau Carol eine Kantianerin ist, aus gutem Grund, denn seine Idee, "dass alle aufgrund ihres Vernunftvermögens gleich seien, war ein Axiom, dass man gar nicht erst lang und breit wissenschaftlich beweisen musste. Es besass eine fraglose, praktische Evidenz, es war ein mächtiger Glaube, der sie aus der Fernfahrerkneipe herausgeführt und den kanadischen Egalitarismus bestärkt hatte, der ihr vieles in ihrem Leben ermöglicht hatte." Besser kann man kaum illustrieren, dass wir glauben, was uns nützt und gut tut.

So sehr dieses Buch vom Wandern mit Nietzsche handelt und man dabei viel Nützliches über Nietzsche lernt, so recht eigentlich geht es darüber hinaus und befasst sich anhand von philosophischen Einsichten mit der Frage, was die angemessene Form zu leben sein soll. Dass die Antwort darauf je nach Temperament unterschiedlich ausfällt, versteht sich, dass philosophisch interessierte Menschen mit denselben Alltagsproblemen zu kämpfen haben wie alle anderen auch, ebenso, doch dass ein Philosophieprofessor (und seine Frau, ebenfalls Philosophieprofessorin) sich trauen, ihre diesbezüglichen Fragen und Zweifel offen darzulegen, ist nicht nur erfreulich, sondern hilfreich – nicht zuletzt als Einladung zur Identifikation.

Es geschieht ausgesprochen selten, dass ein Buch mich motiviert, den nächsten Zug zu nehmen und mir die darin beschriebenen Gegenden von Neuem anzuschauen. Mit Nietzsches Gedanken im Kopf, zu denen auch gehört, was Zarathustra lehrt: Im richtigen Moment zu sterben. Aber auch: Dass die Moral der Herren und der Sklaven eine gänzlich andere ist. Und: Die Liebe zum Schicksal. Dieses Buch ist eine wahre Schatztruhe an Gedanken, mit denen sich auseinanderzusetzen lohnt.

Fazit: Wunderbar inspirierend.

John Kaag
Wandern mit Nietzsche
Wie man wird, wer man ist
btb, München 2022

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