Wednesday 30 November 2022

Nacht in Caracas

Ich war noch nie in Venezuela, doch mein vor zwanzig Jahren verstorbener Freund Armando hat von diesem Land geschwärmt. Nicht zuletzt deswegen interessiert mich dieses Buch. Und weil Caracas gut in meinen Ohren klingt. Doch Nacht in Caracas handelt nicht von den Schönheiten des Landes, sondern von der politischen Situation und den desaströsen Verhältnissen, die damit einher gehen.

Adelaida Falcón steht vor dem Grab ihrer Mutter. Die beiden Schwestern der Mutter, die Zwillinge Amelia und Clara, achtzig Jahre alt, sind nicht gekommen. Sie lebten in Ocumare de la Costa und waren in ihrem Leben höchstens einmal nach Caracas gekommen. "Drei Stunden Fahrt auf einer Strasse voller Schlaglöcher und Banditen trennten sie von der Hauptstadt. Allein das hätten sie, ganz abgesehen von Alter und Krankheit  Diabetes die eine, Arthritis die andere –  , kaum überstanden."

Das heutige Venezuela scheint ein absolutes Albtraumland zu sein. Bewaffnete Raubüberfälle bei Beerdigungen; sogenannte Biker des Vaterlandes, die ihre Umwelt terrorisieren; Plünderungen; Massengräber. Selbst nur lesend ist das schwer zu ertragen.

"Dieses Land, in dem die Frauen immer allein gebaren und die Kinder von Männern grosszogen, die zum Verschwinden nicht einmal die Mühe machten." Einher geht diese furchtbare Macho-Kultur mit den landesüblichen Schönheitswettbewerben. "Die Grösste, Hübscheste, Dümmste. Trotz all dem Elend in der Stadt kann ich noch immer Spuren dieser Krankheit ausmachen." Dass der Mensch von der Vernunft regiert werde, ist wohl der fundamentalste Irrtum aller Zeiten.

Entgegen einer verbreiteten Ansicht, bringen prekäre Umstände nicht notwendigerweise das Beste in den Menschen hervor. Stattdessen werden die Mitmenschen zu Konkurrenten. "Der Vordermann in der Schlange war ein potentieller Gegner, jemand, der mehr besass." Adelaida Falcón  wird gewaltsam aus ihrer Wohnung vertrieben, von einer Krankenschwester im Haus verarztet, verschafft sich Zugang zur Wohnung einer Nachbarin und  findet diese tot vor.

Karina Sainz Borgo kontrastiert den Alltag in diesem gesetzlosen Land mit Erinnerungen an ihre Mutter und an ihr eigenes Aufwachsen. Und sie erzählt vom Einwanderungsland Venezuela, das von Männern und Frauen aus Santiago, Madrid, den Kanaren, Barcelona, Sevilla, Neapel und Berlin besiedelt worden war. Es war einst ein Land im Aufbau gewesen; heute ist es ein Land des Terrors.

Dieser Terror ist beklemmend, durchzieht das ganze Leben. Adelaida Falcón will nur noch weg. Und es gelingt ihr. Nacht in Caracas ist auch ein Buch voller überraschender Wendungen.

Ich weiss, dies ist ein Roman, also eine fiktive Geschichte. Nichtdestotrotz wirkt das geschilderte Geschehen auf mich real, lässt mich die Vorstellung nicht los, das dies alles genau so geschehen sei. Manchmal, so kommt es mir vor, gelingt es ja einem Roman, die Wirklichkeit zu vermitteln.

Karina Sainz Borgo
Nacht in Caracas
S. Fischer, Frankfurt am Main 2019

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