Wednesday 24 May 2023

Radikaler Universalismus

Die Vorstellung, um eine Idee zu retten, müsse man zurück an ihren Ursprung, halte ich für akademisch. Doch darum geht es gemäss der Verlagsinformation im vorliegenden Buch. Weshalb also nehme ich es mir vor? Weil mich universalistische Vorstellungen, die Idee also, es gebe etwas uns alle Verbindendes, jenseits von Interessen, nicht nur anzieht, sondern mir geradezu unabweisbar scheint. Übrigens: Der Autor nimmt sich der Frage nach der praktischen Relevanz seiner sehr klaren, wenn auch sehr intellektuellen Ausführungen, im Epilog an.

Zudem: Es liegt mir fern, dieses Buch intellektuell zu würdigen. Das sollen einschlägig interessierte Akademiker tun, die mir dazu berufener scheinen. Stattdessen will ich auf Gedanken hinweisen, die meine eigenen besser ausdrücken als ich es selber könnte, mich Neues lehren oder meinen Widerspruch erregen.

Wie kommt es eigentlich, dass sich ein ehemaliger amerikanischer Präsident und weite Teile der Republikanischen Partei für Putin begeistern? Weil dieser sich "seit vielen Jahren im Hinblick auf Homosexuellenrechte, den 'Angriff' auf christliche Familienwerte und die ethnische 'Bedrohung' durch eine einwanderungsfreundliche Haltung als Alternative zum westlichen Liberalismus" positioniert, meint Autor Omri Boehm. Das klingt zwar einleuchtend, suggeriert jedoch Überzeugungen, die zumindest dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten, der keine andere hat, als dass er der Grösste ist, definitiv abgehen.

Mit der folgenden Aussage, die auf den Punkt bringt, was unsere Ego-Welt, in der Vernunft mit Interessen gleichgesetzt wird, ausmacht, gehe ich hingegen vollkommen einig: "Während eine gewaltige Fachliteratur zur Geschichte, Philosophie und Soziologie der Rechte vorliegt, wird die Frage, ob es auch immer noch Menschenpflichten gibt, kaum je gestellt."

 Universalismus meint (für mich): Unabhängig von menschlichen Konventionen, Interessen und Vereinbarungen, schliesslich können menschliche Vereinbarungen auch ungerecht sein. Etwas dem Menschen Übergeordnetes, sei es ein Gesetz, sei es eine höhere Macht, sei es ein Ideal, zu akzeptieren, erfordert eine Grundhaltung, die in unseren Zeiten des Eigeninteresses eher selten ist.. 

Für Kant, so Omri Boehm, geboren 1979, Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York, ersetzt die Fähigkeit, selber zu denken, "Gott oder die Natur als Grundlage des radikalen Universalismus." Menschen sind demnach mehr als reine Naturgeschöpfe. "Sie sind frei, weil nicht nur Ursachen, sondern auch Gründe und Rechtfertigungen ihr Verhalten bestimmen können. Nicht nur ihre Interessen, auch ihr moralisches Empfinden kann sie veranlassen, etwas zu tun. Ihre Menschlichkeit besteht in dem Umstand, dass im Unterschied zu natürlichen Arten die Frage, wer sie sind, nicht auf die Frage, was sie sind, reduziert werden kann. Sie hängt nicht davon ab, was sie tun und wie sie leben, sondern davon, dass sie für den Ruf nach dem offen sind, was sie tun sollten."

Obwohl ein entschiedener Gegner identitärer Zuschreibungen (die meines Erachtens viel zu viel Aufmerksamkeit erfahren), sehe ich das anders: Selbstverständlich definiert sich der Mensch durch das, was er tut und wie er lebt. Doch gleichzeitig stimmt natürlich ebenso, dass wir uns an einem Sollens-Imperativ orientieren können und dies auch sollten (!), auch wenn dies derzeit leider gerade wenig populär ist.

Der zweite Teil dieses in drei Teile gegliederten Buches trägt den Titel "Wahrheit als Volksfeind oder der Vorrang der Philosophie vor der Demokratie" und zeigt eindrücklich auf, in was für eigenartigen und simplen Denkmustern bzw. Zuschreibungen wir unterwegs sind: "Wenn es in der Politik nicht um Tatsachen, sondern um Gerechtigkeit geht – wenn die moralische Wahrheit einem bequemen Konsens widerspricht – , dann behandeln auch moderne Liberale die Wahrheit als genau das: als einen Volksfeind."  Heutzutage (war das eigentlich jemals anders?) gilt ausschliesslich das uninspirierte und unendlich langweilige: 'Es geht darum, was mir nützt.' Soll sich unser Dasein wirklich darin erschöpfen?

Was bedeutet eigentlich die Kant'sche Aufforderung, den Mut haben, selber zu denken?, fragt Omri Boehm im dritten Teil. "Satzungen und Formeln", sagt Kant, "diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs (der menschlichen) Naturgaben, sind die Fussschellen einer immerwährenden Unmündigkeit." Frei zu denken, bedeutet demnach, sich weder der Mehrheit noch der Konformität zu beugen. Dass dies nur wenigen (und darüber hinaus selten) vorbehalten ist, zeigt sich bedauerlicherweise tagtäglich von Neuem.

Omri Boehm
Radikaler Universalismus
Jenseits von Identität
Propyläen, Berlin 2022

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