Wednesday 31 May 2023

Digit@l China

Der Untertitel, "Überwachungsdiktatur und technologische Avantgarde", macht bereits Wesentliches klar: Die digitale Vernetzung Chinas auf die Überwachungsdiktatur zu reduzieren, wäre verfehlt. Kristin Shi-Kupfer, Professorin für gegenwartsbezogene Chinaforschung (was es doch alles für Fachdisziplinen gibt!) und Senior Associate Fellow beim Mercator Institute for China Studies, hat drei Besonderheiten ausgemacht, die die Volksrepublik China in Sachen Digitalisierung seit Ende der 1990er Jahre auszeichnen. 1) Dominanz kommerziell-agierender Unternehmer bei der Digitalisierung von wirtschaftlichen und sozialen Sektoren am langen Arm des Parteistaates. 2) Grosse Neugierde und hohe Akzeptanz von digitalen Produkten und Dienstleistungen bei wachsenden Bedenken bzgl. der Privatsphäre, 3) Zunächst Toleranz und Offenheit. später systematische Förderung und Instrumentalisierung von digitalen Technologien durch die kommunistische Partei.

Das klingt in etwa so dröge wie ein kommunistischer Parteikongress, die konkreten Geschichten, die Kristin Shi-Kupfer erzählt, lesen sich hingegen überaus aufschlussreich. Dabei lernt man unter anderem, dass in China (wie in den meisten Staaten auch) vieles nur angedeutet wird. Ziemlich einzigartig ist jedoch, dass es innerhalb der Regierung des Bezirks Yuhang in Chinas südöstlicher Stadt Hangzhou eine Abteilung für "vertrauliche Kommunikation" gibt.

Kristin Shi-Kupfer unterscheidet drei grosse Deutungsansätze: 1) Internet bzw. soziale Medien als Befreiungsinstrument, 2) Digitale Technologie als Machtinstrument, 3) Digitale Technologien als Verstärker von Nationalismus. Daraus lassen sich unschwer die Charakteristika des digitalen China ablesen.

Gegliedert ist das Buch in sieben Kapitel – Planer und Umsetzer, Profiteure und Herausforderer, Entwickler und Zuarbeiter, Aktivisten und Engagierte, Rauschsüchtige und Spielende, Kriminelle und Rebellen, Grenzgänger – , die "jeweils eine für Chinas Digitalisierung relevante soziale Lebenswelt und zwei bis drei ihrer Protagonisten in  den Fokus" nehmen.

Ich will mich hier auf ein paar Bemerkungen zu "Rauschsüchtige und Spielende" beschränken. Der chinesische Parteistatt befürchtet, dass ihm die Geister des Kommerzes entgleiten, und trifft Gegenmassnahmen, die einerseits betonen, man dürfe nicht "unpatriotisch" sein, und andererseits zu  Begriffen wie "zu vulgär', 'zu unmoralisch' oder 'zu ungesund' greifen.

Am Beispiel des 26jährigen Bloggers Luo Huazhong zeigt Kristin Shi-Kupfer sehr schön auf, aus welcher Richtung dem Staat Gefahren drohen, denen nur schwer bis gar nicht zu begegnen ist. Dem Nicht-Mehr-Mitmachen-Wollen, der Absage an den Konsumrausch. "Als 'Sich Hinlegen-ismus' entstand zunehmend eine Art Gegenbewegung zum aufgezwungenen Hamsterrad von harter Arbeit, die ausser einem Gefühl der permanenten Erschöpfung und Betäubung keine anhaltende oder tiefergehende Sinnstiftung anbietet (...) Parteistaatliche Medien brandmarkten die Einstellung des 'alle Viere von sich strecken' als 'schandvoll' und nicht produktiv."

Ganz unterschiedliche Biografien werden in diesem Buch geschildert. Vom Medienvertreter He Pin zu Lucy Peng, die für die Erfolgsgeschichte Alibabas zentral war, von Ren Zhengfei, dem Gründer von Huawei zu Jiang Mianheng, der in China als König der Telekommunikationsindustrie bekannt ist, vom einflussreichen Hacker Guo zur Journalistin und Aktivistin Su Yutong. Aussergewöhnlich ist insbesondere, dass Kristin Shi-Kupfer ihre Protagonisten auch visuell beschreibt. "Sie hat ein fein geschnittenes Gesicht. trägt ihre Haare oft links und rechts zu Zöpfen gebunden, mag Hüte und bunte, auffallende Kleidung", notiert sie etwa über Su Yutong. Nicht zuletzt werden die Macherinnen und Macher der chinesischen Digitalisierung auch anhand von Fotos gezeigt.

Der Autorin will mit diesem Buch unter anderem zeigen: "Das Handeln einzelner Menschen macht einen Unterschied." Sie tut dies sehr anschaulich. Dass sie mich trotzdem nicht überzeugt, liegt daran, dass mein Weltbild sehr anders zu sein scheint: Ich gehe davon aus, dass sich in diesen Personen nur manifestiert, was in uns allen angelegt ist. Anders gesagt: Nicht das Handeln Einzelner scheint mir entscheidend, sondern was wir daraus/damit machen.

Kristin Shi-Kupfer
Digit@l China
Überwachungsdiktatur und technologische Avantgarde
C.H. Beck, München 2023

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