Die gegenwärtigen Ereignisse in Israel und Gaza haben einen Antisemitismus sichtbar werden lassen, der offenbar nicht auszurotten ist. Als jemand, der historisch weder informiert, noch besonders interessiert ist (für mich ist Geschichtsschreibung weitestgehend Fiktion), bin ich immer wieder verblüfft, konstatieren zu müssen, dass der Antisemitismus eine lange Tradition hat. Mir persönlich ist er unbegreiflich; die möglichen Gründe dafür interessieren mich nicht, denn Gründe erklären nichts, Obwohl uns unser Hirn etwas anderes vormacht.
Benjamin, der Vater der Autorin Liliane Willens, wurde 1894 in der Ukraine geboren, "zu einer Zeit, als wirtschaftliche und soziale Unruhen Russland erschütterten und antisemitische Pogrome vom Zar gefördert wurden." Benjamin floh, zuerst nach Wladiwostok, dann nach Harbin in der Mandschurei, und schliesslich nach Schanghai, wo er sich einen rumänischen Namen gab.
Zu der Zeit besass Shanghai exterritorialen Status. Zwei Drittel der Stadt wurden von den Briten, Amerikanern und Franzosen kontrolliert und verwaltet. "Die exterritoriale Stadt Shanghai stellte sich als Paradebeispiel der politischen und kulturellen Diskriminierung des chinesischen Volkes heraus – zuerst durch die Westler, später durch die Japaner. Benjamin und Thaïs, obwohl staatenlos und den chinesischen Gesetzen unterlegen, konnten von den Vorteilen und den meisten Privilegien der Vertragsmächte profitieren, einfach nur deswegen, weil sie ethnisch 'Weisse' waren."
.Die 1927 in Shanghai geborene Liliane Willens beschreibt die vielfältigen Aspekte dieser Stadt, die damals ein internationales Potpourri von Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen war. Ein melting pot war es jedoch nicht, denn betont wurde, was sie voneinander unterschied.
Es ist dieser interkulturelle Aspekt, der mich an diesem Buch interessiert. Die westliche Vorstellung der Integration scheint den Chinesen fremd. Und nicht nur den Chinesen. Man bemüht sich, seine Traditionen zu pflegen; der Vater bestand darauf, "unser Zuhause ansatzweise koscher zu halten." Das Bedürfnis, sich voneinander abzugrenzen, trieb gelegentlich eigenartige Blüten.
"Um in das andere Settlement zu gelangen, mussten Passagiere von den französischen, elektrischen Strassenbahnen und Autos in die britischen Tram und Doppeldeckerbusse wechseln. Dort galt auch ein anderer Tarif. Glücklicherweise traf die französische Kommunalverwaltung nicht die Entscheidung, in ihrer Konzession zum Rechtsverkehr zu wechseln, wo doch die Briten in allen ihren Kolonien den Linksverkehr eingeführt hatte."
Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, dass es deutlich macht, dass es Flüchtlinge (pauschal gesehen) nicht gibt, sondern nur gänzlich individuelle Schicksale. Menschen mit Geld werden anders behandelt als Menschen ohne; die Hierarchien innerhalb einer Kultur leben weiter, auch wenn man fliehen muss. Und die Privilegien, die einem die Zugehörigkeit zu einer Staatsangehörigkeit verschafft, werden immer mal wieder schamlos ausgenutzt. So veranstaltete ein Franzose ein Heidenspektakel. als ihm die kleine Liliane versehentlich Wasser übers Haupt schüttete. "Meine Eltern entschuldigten sich wortreich und schimpften mit mir, aber ich hörte, wie meine Mutter einer Freundin am Telefon sagte, dass der fragliche Franzose auf der Suche nach einer Wohnung für seine Mätresse, eine Weissrussin, sei, und sich unsere Wohnung ausgezeichnet als Liebesnest eignen würde."
Staatenlos in Shanghai erzählt nicht nur davon, wie Liliane Willens in China aufwuchs, sondern auch davon, wie Juden immer wieder gezwungen werden, sich an neuen und fremden Ort anzusiedeln. Von den 15 Millionen, die es weltweit gibt, leben 7 bis 8 Millionen in Israel, die anderen anderswo auf der Welt. Ein erstaunliches Volk!
Liliane Willens
Staatenlos in Shanghai
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2023
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