Fabrizio Gatti, ein italienischer Journalist und, gemäss dem 'Nouvel Observateur', "der neue Wallraff des Journalismus", beschreibt in diesem grossartigen Buch, seine Reise als "Illegaler auf dem Weg nach Europa" (so der Untertitel dieser aufschlussreichen Reportage).
Immer mal wieder frage ich mich, wie Leute ohne Papiere es wohl aus Afrika in die Schweiz schaffen. Aus Reiseschilderungen von Asylbewerbern, von denen ich schon einige gehört habe, konnte ich mir noch nie ein wirkliches Bild machen - so hatte ich bisher überhaupt keine Ahnung, wie gefährlich das Durchqueren der Wüste ist - , Gatti hat nun diese Lücke gefüllt. Das Buch sollte Pflichtlektüre sein. Nicht nur für Leute, die sich mit Migration beschäftigen, sondern für alle, denn Gatti schildert eindrücklich den Lebens- und Überlebenskampf von Menschen, die nicht das Glück hatten, in materiell privilegierte Umstände hineingeboren zu werden.
Der Mensch hat die Welt geordnet, um sich darin nicht allzu verloren zu fühlen. Eine dieser menschlichen Ordnungsvorstellungen drückt sich in amtlichen Dokumenten aus. Praktisch heisst das, dass wer weder über eine Geburtsurkunde, eine Identitätskarte oder einen Reisepass verfügt, so recht eigentlich keine Rechte hat. So hält Gatti über einen Afrikaner, der gerade von Italien in sein Herkunftsland abgeschoben werden soll, fest: "Dabei fehlt ihm nur ein Stück Papier, damit er in Europa bleiben könnte: 25x15 cm, ein Lichtbild, ein bisschen Tinte, ein Stempel." Dass sowas wirklich entscheidend sein soll, ist jemandem, der sein Leben riskiert hat, um nach Europa zu gelangen, kaum zu vermitteln. Ehrlich gesagt: mir auch nicht.
Gatti hat es unternommen, von Dakar mit dem Flüchtlingsstrom über Niamey, Agadez und Dirkou nach Europa zu kommen. "Eine schwarze Rauchwolke verkündet, dass der Motor angelassen worden ist. Zweimal hupt der Fahrer. Man muss schnell hinrennen und sich wie ein Seemann beim Entern über die Bordwand hinaufschwingen. Der Lkw fährt los, obwohl es noch nicht alle Passagiere geschafft haben. Die letzten klammern sich an die Kanister und riskieren unter die Räder zu kommen. Jetzt ist es noch viel enger." Nicht nur, dass die Reise beschwerlich ist, die Reisenden werden auch von Polizisten und Soldaten (die selber wirtschaftlich alles andere als gut gestellt sind) nach Strich und Faden ausgenommen - es ist ein veritabler Höllentrip, den Gatti da schildert. Und dann sind da noch die Hauptverdiener, die Menschenschmuggler: "Endlich ist der Lastwagen voll. Mindestens hundertfünfzig Personen. Hundertfünfzig Tickets zu fünfundzwanzigtausend Francs macht drei Millionen siebenhundertfünfzigtausend Francs. Fast sechstausend Euro. Derjenige, der Achmed den schrottreifen Lkw abgekauft hat, hat die Unkosten schon herein. Mit einer einzigen Fahrt. Das ist, wie wenn eine Fluggesellschaft den Kauf eines Flugzeugs mit einem einzigen Flug abschreiben könnte. Doch die Einnahmen aus dem Menschenschmuggel haben im weltweiten Transportgewerbe nicht ihresgleichen."
Aus den Medien erfahren wir immer wieder von Flüchtlingen, die vor Lampedusa aus dem Meer gefischt wurden (von denen, die auf dem offenen Meer umkommen, hören wir selten), die Fernsehbilder zeigen uns dann jeweilen, wie den durchnässten Ankömmlingen Decken abgegeben werden, was wir jedoch nicht zu sehen kriegen, ist, wie die Geschichte dann weitergeht: "Auf dieser Insel hat Italien ein Internierungslager eröffnet, das bisher kein Aussenstehender ohne Voranmeldung betreten hat. Anwälte und Abgeordnete, ja sogar Vertreter der Vereinten Nationen müssen tagelang auf eine Genehmigung warten. Und wenn sie das Lager betreten, bekommen sie nur untadelige Verhältnisse zu sehen. Wenige Internierte. Saubere Schlafsäle. Reichlich Essen. Obwohl tagtäglich Boote landen. Was machen sie mit all denen, die dort eingesperrt sind?"
Als eine "erschütternde Odyssee von Millionen heimlichen Einwanderern" hat der "Corriere della Sera" Gattis "Bilal" treffend charakterisiert. Doch es ist mehr: es ist dringend nötige Aufklärung, da es nicht nur Schicksale aufzeigt, sondern Zusammenhänge deutlich macht ("Hier ist Zeit nicht Geld, sondern eine Dimension, die noch den Menschen gehorcht und nicht der Uhr ... die Komplizenschaft zwischen Heer, Polizei und der Menschenhändlermafia ..."). Zudem bringt es einen gelegentlich auch zum Lachen ("Ach mei, wenn wir unseren Humor nicht hätten", pflegte mein lieber Freund Wamse zu sagen): Als Gatti sich schwach und fiebrig fühlt und Malaria vermutet, sucht er in Agadez einen Arzt auf und sagt ihm, er habe Mefloquin dabei: "Mefloquin?" der Arzt runzelt die Stirn: "Das Mittel hat schwerste Nebenwirkungen. Wollen Sie in der Sahara Halluzinationen bekommen? Gegen Mefloquin entwickeln sich in ganz Afrika resistente Erregerstämme." "In Italien verschreiben die Ärzte Mefloquin." "Lassen sie das sein. Kaufen Sie in der Apotheke Artemisintabletten. Die Chinesen benutzen das Mittel seit dreitausend Jahren gegen Fieber. Kennen Sie es?" "Nein." "Es ist ein Pflanzenauszug aus dem Einjährigen Beifuss, der Artemisia annua. In China heisst er Qinghaosu." Der Arzt schreibt ihm ein Rezept auf den Namen Flagyl aus - es ist so ziemlich das einzige Medikament, das sie in der Apotheke haben. Der skeptische Gatti erkundigt sich per SMS bei einem befreundeten Apotheker in Italien, was es damit auf sich habe: "Flagyl gegen Vaginalinfektionen. Machst du eine Geschlechtsumwandlung?"
Immer mal wieder frage ich mich, wie Leute ohne Papiere es wohl aus Afrika in die Schweiz schaffen. Aus Reiseschilderungen von Asylbewerbern, von denen ich schon einige gehört habe, konnte ich mir noch nie ein wirkliches Bild machen - so hatte ich bisher überhaupt keine Ahnung, wie gefährlich das Durchqueren der Wüste ist - , Gatti hat nun diese Lücke gefüllt. Das Buch sollte Pflichtlektüre sein. Nicht nur für Leute, die sich mit Migration beschäftigen, sondern für alle, denn Gatti schildert eindrücklich den Lebens- und Überlebenskampf von Menschen, die nicht das Glück hatten, in materiell privilegierte Umstände hineingeboren zu werden.
Der Mensch hat die Welt geordnet, um sich darin nicht allzu verloren zu fühlen. Eine dieser menschlichen Ordnungsvorstellungen drückt sich in amtlichen Dokumenten aus. Praktisch heisst das, dass wer weder über eine Geburtsurkunde, eine Identitätskarte oder einen Reisepass verfügt, so recht eigentlich keine Rechte hat. So hält Gatti über einen Afrikaner, der gerade von Italien in sein Herkunftsland abgeschoben werden soll, fest: "Dabei fehlt ihm nur ein Stück Papier, damit er in Europa bleiben könnte: 25x15 cm, ein Lichtbild, ein bisschen Tinte, ein Stempel." Dass sowas wirklich entscheidend sein soll, ist jemandem, der sein Leben riskiert hat, um nach Europa zu gelangen, kaum zu vermitteln. Ehrlich gesagt: mir auch nicht.
Gatti hat es unternommen, von Dakar mit dem Flüchtlingsstrom über Niamey, Agadez und Dirkou nach Europa zu kommen. "Eine schwarze Rauchwolke verkündet, dass der Motor angelassen worden ist. Zweimal hupt der Fahrer. Man muss schnell hinrennen und sich wie ein Seemann beim Entern über die Bordwand hinaufschwingen. Der Lkw fährt los, obwohl es noch nicht alle Passagiere geschafft haben. Die letzten klammern sich an die Kanister und riskieren unter die Räder zu kommen. Jetzt ist es noch viel enger." Nicht nur, dass die Reise beschwerlich ist, die Reisenden werden auch von Polizisten und Soldaten (die selber wirtschaftlich alles andere als gut gestellt sind) nach Strich und Faden ausgenommen - es ist ein veritabler Höllentrip, den Gatti da schildert. Und dann sind da noch die Hauptverdiener, die Menschenschmuggler: "Endlich ist der Lastwagen voll. Mindestens hundertfünfzig Personen. Hundertfünfzig Tickets zu fünfundzwanzigtausend Francs macht drei Millionen siebenhundertfünfzigtausend Francs. Fast sechstausend Euro. Derjenige, der Achmed den schrottreifen Lkw abgekauft hat, hat die Unkosten schon herein. Mit einer einzigen Fahrt. Das ist, wie wenn eine Fluggesellschaft den Kauf eines Flugzeugs mit einem einzigen Flug abschreiben könnte. Doch die Einnahmen aus dem Menschenschmuggel haben im weltweiten Transportgewerbe nicht ihresgleichen."
Aus den Medien erfahren wir immer wieder von Flüchtlingen, die vor Lampedusa aus dem Meer gefischt wurden (von denen, die auf dem offenen Meer umkommen, hören wir selten), die Fernsehbilder zeigen uns dann jeweilen, wie den durchnässten Ankömmlingen Decken abgegeben werden, was wir jedoch nicht zu sehen kriegen, ist, wie die Geschichte dann weitergeht: "Auf dieser Insel hat Italien ein Internierungslager eröffnet, das bisher kein Aussenstehender ohne Voranmeldung betreten hat. Anwälte und Abgeordnete, ja sogar Vertreter der Vereinten Nationen müssen tagelang auf eine Genehmigung warten. Und wenn sie das Lager betreten, bekommen sie nur untadelige Verhältnisse zu sehen. Wenige Internierte. Saubere Schlafsäle. Reichlich Essen. Obwohl tagtäglich Boote landen. Was machen sie mit all denen, die dort eingesperrt sind?"
Als eine "erschütternde Odyssee von Millionen heimlichen Einwanderern" hat der "Corriere della Sera" Gattis "Bilal" treffend charakterisiert. Doch es ist mehr: es ist dringend nötige Aufklärung, da es nicht nur Schicksale aufzeigt, sondern Zusammenhänge deutlich macht ("Hier ist Zeit nicht Geld, sondern eine Dimension, die noch den Menschen gehorcht und nicht der Uhr ... die Komplizenschaft zwischen Heer, Polizei und der Menschenhändlermafia ..."). Zudem bringt es einen gelegentlich auch zum Lachen ("Ach mei, wenn wir unseren Humor nicht hätten", pflegte mein lieber Freund Wamse zu sagen): Als Gatti sich schwach und fiebrig fühlt und Malaria vermutet, sucht er in Agadez einen Arzt auf und sagt ihm, er habe Mefloquin dabei: "Mefloquin?" der Arzt runzelt die Stirn: "Das Mittel hat schwerste Nebenwirkungen. Wollen Sie in der Sahara Halluzinationen bekommen? Gegen Mefloquin entwickeln sich in ganz Afrika resistente Erregerstämme." "In Italien verschreiben die Ärzte Mefloquin." "Lassen sie das sein. Kaufen Sie in der Apotheke Artemisintabletten. Die Chinesen benutzen das Mittel seit dreitausend Jahren gegen Fieber. Kennen Sie es?" "Nein." "Es ist ein Pflanzenauszug aus dem Einjährigen Beifuss, der Artemisia annua. In China heisst er Qinghaosu." Der Arzt schreibt ihm ein Rezept auf den Namen Flagyl aus - es ist so ziemlich das einzige Medikament, das sie in der Apotheke haben. Der skeptische Gatti erkundigt sich per SMS bei einem befreundeten Apotheker in Italien, was es damit auf sich habe: "Flagyl gegen Vaginalinfektionen. Machst du eine Geschlechtsumwandlung?"
Fabrizio Gatti
Bilal
Verlag Antje Kunstmann, München 2010
http://www.kunstmann.de/
Bilal
Verlag Antje Kunstmann, München 2010
http://www.kunstmann.de/
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