Sunday, 4 November 2012

Unter Schweizern

Getreu dem journalistischen Bonmot, „Nach einem Tag vor Ort, ein Artikel; nach einer Woche vor Ort, ein Hintergrundbericht; nach einem Monat vor Ort, ein Buch“, legt der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in der Schweiz, Wolfgang Koydl, der allerdings schon etwas mehr als einen Monat im Land weilt, ein Buch über die Schweiz und die Schweizer vor.

Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: es ist begrüssenswert, wenn einer zur Feder greift (oder in die Tasten haut), wenn die Eindrücke noch frisch sind, ärgerlich ist jedoch, wenn er darob vergisst, seine Hausaufgaben zu machen. Konkret: Fast alle schweizerdeutschen Ausdrücke in diesem Buch sind nicht nur falsch („Bömbli“ anstatt „Bömbeli“), sondern gelegentlich – jedenfalls für Schweizer wie mich – schlicht unverständlich („Gescheiterli“). Das ist umso erstaunlicher, als er doch einen Schweizerdeutsch-Sprachkurs besucht hatte, wo er unter anderem darüber aufgeklärt wurde, dass es den Genitiv im Schweizerdeutschen nicht gibt, dafür jedoch den Genitiv II.

Der Einstieg (die Beschreibung eines dieser typischen übereifrigen Nachbarn) ist sehr gelungen und erinnerte mich an meinen ehemaligen, damals gerade frisch aus Deutschland zugezogenen, Strafrechtsprofessor in Basel, der auf meine Frage, was denn so sein erster Eindruck von Land und Leuten sei, trocken meinte: Polizei braucht es hier ja nicht wirklich, es gibt ja Nachbarn. Ebenfalls sehr schön gelungen (auf den ersten Seiten – und wenn die nicht stimmen, stimmt häufig das ganze Buch nicht) ist die Beschreibung von Koydls Chefredakteur: „... in all den Jahren ist er sich selbst treu geblieben, soll heissen: Irgendwelche Anzeichen von Lernprozessen, Selbsterkenntnis, Altersmilde gar sind nicht zu erkennen.“

"Wer hat's erfunden?" brachte mich immer mal wieder zum Staunen. So war mir nicht bekannt, dass jeder Hund (samt Besitzer), der neu in eine Gemeinde kommt, einen Kurs absolvieren muss. Und zum Lachen, die Beschreibung von Wollerau etwa, wo viele ganz Reiche eine Adresse haben, jedoch nicht wohnen. „Der Ort ist bar jeder Attraktivität. Dort kann man eigentlich nur leben, wenn man dort nicht wohnen muss.“ Oder der Hinweis auf die meterhohe Aufschrift in altdeutscher Fraktur auf einer Hauswand in Luzern: „Was haben Sie eigentlich gegen Beamte? Die tun doch gar nichts.“ Oder: „Irritierend für den Fremden mutet dabei an, dass Bürger von ausserhalb der Basel Stadtmauern – der Tennisstar Roger Federer beispielsweise – nicht als 'Baselländer', sondern als 'Baselbieter' bezeichnet werden – nach dem Gebiet. Kein Wunder, dass ich anfangs an ein Auktionshaus dachte.“

Schweizer tragen oft sehr absonderliche Namen, sowohl vorne als hinten“, behauptet Koydl und ich wunderte mich schon, wie er das wohl belegen würde, da ich selber Namen wie Imoberdorf, Dahinden oder Regenass völlig normal finde (zugegeben, etwas sonderbar finde ich es schon, dass ich solche Namen bisher so normal finden konnte) und stiess dann auf den wirklich ultimativen Brüller, auf den ich selber gar nie gekommen wäre: „Vollends verwirrte mich ein Abgeordneter im Berner Bundesparlament mit dem Namen This Jenny. Vermutlich wollten ihn seine Eltern von seinem Bruder unterscheiden, den sie schätzungsweise That Johnny genannt hatten.“

„Wer hat's erfunden?“ ist informativ, witzig und aufklärend, auch Schweizer werden bei der Lektüre einiges lernen können, an Geschichtlichem, Sprachlichem, Geografischem und Kulturellem. Ich war übrigens ganz erstaunt, dass es zu Ehren von Freddie Mercury in Montreux einen Sockel gibt. Und verwundert darüber, dass ich bis jetzt ohne die beim Wandern erforderlichen Grussregeln habe auskommen können (wenn ein Paar mehr als drei Meter auseinander geht, grüsst man sie separat; ab 3000 Meter wird geduzt): „Langjährige Kenner der Schweiz haben die Theorie aufgestellt, dass dieses sogenannte 'Grüezi-Wandern' von den Schweizern nur deshalb so aufmerksam gepflegt wird, weil ihnen dies eine der wenigen Gelegenheiten im Leben bietet, sich mit anderen ebenso wortkargen Landsleuten verbal auszutauschen.“

Wolfgang Koydl
Wer hat's erfunden?
Unter Schweizern
Ullstein Taschenbuch, Berlin 2012
www.ullstein.de

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