Wednesday 23 December 2015

René Burri: Mouvement

Als der Magnum-Fotograf René Burri sich vor einigen Jahren als Patient im Zürcher Universitätsspital aufhielt, wurde er unter anderem auch von meiner Schwägerin Nadja, die damals dort als Krankenschwester arbeitete, betreut. Eines Tages fragte sie ihn, ob er mich kenne, da ich ja regelmässig über Fotografie publiziere. Ich war ihm nicht bekannt, doch er schenkte Nadja eines seiner Bücher, mit Widmung, als er das Krankenhaus wieder verlassen konnte. Ich erzähle das, weil ich deutlich machen will, dass mein Burri-Bezug sich nicht nur auf Fotos beschränkt ...

Meine lange Zeit liebsten Burri-Bilder waren die brasilianischen und das hat natürlich auch ganz viel damit zu tun, dass mich Brasilien und die Brasilianer ungemein faszinieren. Ich war schon einige Male dort, habe sowohl den Nordosten als auch den Süden ausgiebig bereist und bin gerade eben wieder auf dem Sprung nach Santa Cruz do Sul, einer Stadt  mit etwa 120'000 Einwohnern, zwei Stunden von Porto Alegre, im Landesinneren, gelegen, wo ich einmal während eineinhalb Jahren Englisch unterrichtet habe.

In den beiden vorliegenden, edel gestalteten Bänden, einer mit schwarz/weiss, der andere mit farbigen Aufnahmen, entdecke ich viele, mich sehr ansprechende und bis anhin unbekannte Burri-Fotos, die beeindruckend vorführen, dass Fotografie Kunst sein kann (und das ist sie für mich selten). Woran das liegt, kann ich nicht wirklich erklären, doch Verstehen sei ein Gefühl, habe ich einmal bei Robert Adams gelesen (In "Beauty in Photography") und dieses sagt mir, dass ich es bei vielen dieser Aufnahmen mit qualitativ Hochstehendem zu tun habe.

Der schwarz/weiss-Band von Mouvement wird von zwei Vorworten eingeleitet. Das eine stammt vom Kurator und Kritiker Hans Ulrich Obrist, ist mit "Fotografie ist Zugang zum Leben" überschrieben, wenig inspirierend und voller ziemlich leerer Behauptungen wie: "In all seinen Fotografien verleiht er den Architekturen ein Moment der Lebendigkeit. Und dennoch sind seine Architektur- und Künstlerporträts immer eine Hommage an das Werk und den Geist ...". Das zweite Vorwort, vom Verleger, Künstler und Autor Philipp Keel, ist wesentlich ansprechender: es berichtet von ganz unterschiedlichen persönlichen Begegnungen mit dem schwierigen und sehr widersprüchlichen Menschen René Burri.

Dem farbigen Band ist ein Vorwort von Hans-Michael Koetzle, der mehrere Bücher mit dem Fotografen konzipiert hat, beigegeben. Man erfährt da unter anderem, dass Burri die Schweiz zu eng war. "Die Kamera, so glaubte ich, sei meine Chance, mich aus den Schweizer Bergen herauszuwuchten." Und wie er nach dem Abschluss der Fotoklasse an der Zürcher Kunstgewerbeschule ("wo wir nur Kaffeetassen im Licht fotografiert hatten") völlig unvorbereitet auf den Fotojournalismus war und sich den Weg in diesen hinein mühsam erarbeiten musste.
René Burri, Brasilia, 1977 @ Fondation René Burri/Magnum Photos
Mit freundlicher Genehmigung Diogenes Verlag AG, Zürich

Als Burris Stärke bezeichnet Koetzle, "dem Augenblick eine klar gegliederte, gleichwohl komplexe, an Bezügen reiche Bildaussage abzuringen. Burris Bilder sind gedachte, gestaltete Bilder von klarer, strenger Form, was mit 'Formalismus' nichts zu tun hat. Eher schon mit dem Willen, die Welt über sehr persönliche, dabei überlegt gebaute Bilder zu erklären."

Was ums Himmels Willen sind bloss gedachte Bilder? Und: Will der Fotograf uns wirklich mittels Bildern die Welt erklären? Können Bilder das überhaupt leisten? Ist es nicht eher umgekehrt, dass nämlich die Bilder erklärt gehören?

Nichtdestotrotz, Hans-Michael Koetzles Text ist höchst informativ und liest sich spannend. Am schwächsten ist er (jedenfalls für mich), wo er andere zitiert. Jan Thorn Prikker etwa, der einmal Burris Fotografieren so beschrieben hat: "Er legt seine Bilder so an, dass sie mehr zeigen, als sie enthalten. Er lädt sie auf eine geheimnisvolle Weise mit Sinn auf, der sich aus einem dokumentarischen Kern heraus entwickelt. Dabei gehen die Zeichen nie in blosser Ästhetik auf, obwohl alle seine Aufnahmen in hohem Masse auch schöne Bilder sind." Für mich ist das sinnfreies Geschwafel.
René Burri, Buenos Aires, 1960 @ Fondation René Burri/Magnum Photos
Mit freundlicher Genehmigung Diogenes Verlag AG, Zürich

Zugegeben, es ist nicht einfach, über Fotos zu schreiben. Und so recht eigentlich würde man es besser lassen und gescheiter möglichst viele Informationen zum Entstehen der Bilder beisteuern. Und wenn man das nicht kann, ist immer noch besser, man beschreibt, was die Bilder in einem auslösen anstatt dem Fotografen zu erklären, was er gemacht/gemeint hat. Und überhaupt: Viel Zeit zum Nachdenken ist da häufig nicht. Vor allem bei der Reportagefotografie muss es meist schnell gehen. In Burris Worten: "Bilder sind wie Taxis zur Hauptverkehrszeit – wenn man nicht schnell genug ist, bekommt sie immer ein anderer."

Was also löst das Brasilia-Foto in mir aus? Zuallererst: Staunen über die Komposition, über Burris Händchen fürs Einrahmen, sein "gutes Auge". Dann der Gedanke, wie fast immer bei Brasilia-Bildern: Wie dominant diese Architektur ist, immer wirkt der Mensch verloren in ihr. Und schliesslich: Die beiden geschwungenen Linien sind mir zu prominent, wirken auf mich zu schwer (jedenfalls auf dem jpg auf dieser Seite, im Band selber kommen sie weniger schwer rüber, weil das Foto viel grösser ist). Da hätte ich gerne die Kontaktabzüge gesehen und mich vermutlich für eine andere Version entschieden.

Und das Buenos Aires-Bild? Ich kenne diesen Platz, war einmal vor Ort. Sofort wandern meine Gedanken zu der Zeit, als ich mich ein paar Wochen in dieser für mich schönsten Stadt der Welt aufgehalten habe: Bilder im Kopf lösen sich in schneller Folge ab, zwei bleiben hängen: Der Friedhof La Recoleta im Regen. Und auf dem Weg dorthin: eine junge, sehr schöne und sehr verloren wirkende Frau auf der Treppe eines Hauses sitzend und mit leerem (Drogen)-Blick auf die Strasse starrend.

Für mich sind Fotos vor allem Trigger. Warum sie auslösen, was sie auslösen, wer will das schon wissen? Ich jedenfalls bin kein Anhänger des Ursache-Wirkung-Erklärungsmodells für Vorgänge im Unbewussten. Eine berühmte Aufnahme von Cartier-Bresson zeigt ein Picknick am Ufer der Marne. In Mouvement gibt es auf Seite 29 des schwarz/weiss-Bandes ein Foto, das Kinder beim Hinaufklettern einer Rampe zeigt und mich innerlich jubeln macht. Ich kann nur raten, weshalb mich dieses Bild an Cartier-Bressons-Marne-Aufnahme erinnert: Liegt es vielleicht daran, dass beide Fotos Lebensfreude ausdrücken? 

Mouvement ist eines dieser raren Foto-Dokumente, bei dem ich intuitiv weiss, dass ich die Aufnahmen eines begnadeten Gestalters betrachte.

René Burri
Mouvement
Diogenes / Steidl

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