Wednesday, 16 December 2015

Steve McCurry: Indien

Steve McCurrys Markenzeichen sind die Farben. Wie kriegt er die nur hin? Nachbehandlung, das ist doch ziemlich eindeutig, denke ich mir. Oder etwa doch nicht? Als ich einmal bei der Besprechung von Bangkok-Bildern eines deutschen Fotografen diese als übertrieben mit Photoshop bearbeitet bezeichnet hatte, liess mich der Fotograf wissen, ich würde mich irren, es handle sich um das Resultat langer Belichtungszeiten (es waren Nachtaufnahmen).

Auf Google erfuhr ich, dass McCurry jeweils tausende von Bildern schiesst und diese dann an seine Mitarbeiter weitergibt. Und dass er Film mit hoher Farbsättigung benutzt. Er scheine nicht viel von Nachbearbeitung zu verstehen, schrieb ein Teilnehmer eines McCurry-Kurses. Vielleicht sind ja seine Mitarbeiter für die Nachbearbeitung zuständig.  

Wie auch immer: in Indien sind die Farben sehr intensiv, in McCurrys Fotos ebenso. Eine idealere Kombination ist kaum zu finden.
"Rennender Junge" lautet die Bildlegende. Flieht er etwa vor der Kamera?
Hilfreicher wäre gewesen, die Hände an der Wand zu erläutern

Doch ich will McCurry nicht auf die Farben reduzieren, denn er hat auch ein wirklich aussergewöhnliches Auge für spezielle Szenen, die zu immer weiteren Bildern im Kopf führen und unsere visuelle Imagination nicht nur zum Laufen bringen, sondern ihr die Richtung vorgeben. Wohin rennt der Junge im obigen Bild? Was erwartet ihn dort? Und warum rennt er überhaupt?

Die Einleitung zum vorliegenden Indien-Band stammt von William Dalrymple, der unter anderem anhand der im Süden Neu Delhis liegenden Fünf-Millionen-Stadt Gurgaon die ungeheuren Diskrepanzen und Widersprüchlichkeiten Indiens beschreibt. Und dabei auch eine im Jahre 2011 in der New York Times veröffentlichte Langzeitstudie zitiert, die Gurgaon als "totales Chaos und Wirtschaftsmotor zugleich und damit im Kleinen ein Abbild des typisch indischen Nebeneinanders von Dynamik und Misswirtschaft" charakterisiert. Genau so hatte ich die Stadt vor einigen Jahren auch selber erlebt.
Riesige Menschenmassen versammeln sich um Kumbh-Mela-Fest 
auf provisorischen Pontonbrücken über den Ganges.

Das obige Bild kommt für einmal mit einer wirklich guten Legende, weil sie nicht einfach beschreibt, was man sieht, sondern es einem erklärt. Im Gegensatz etwa zu "Mann mit orangefarbenem Turban" und ähnlich einfallslosen (und leider für Fotobücher typischen) Bildlegenden.

Indien ist ein Land von Gegensätzen. U.R. Ananthamuthy meinte einmal, der indische Autor habe gegenüber seinen westlichen Kollegen den Vorteil, dass er gleichzeitig im 12. und im 21. Jahrhundert und allen Jahrhunderten dazwischen lebe.

Steve McCurry hat diese Unterschiede höchst überzeugend dokumentiert. William Dalrymple bemerkt treffend: "Die von McCurry meisterhaft eingefangenen, skurril-witzigen Gegensätze sind letzten Ende gar nicht so surreal. Es gibt nichts Abstruses, keine Pelztassen, keine schmelzenden Uhren. Dennoch scheinen die Fotos eine fast irreale Welt abzubilden."

Steve McCurry
Indien
Prestel; München - London - New York 2015.

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