Wednesday, 29 April 2020

Die Zeit des Lichts

Die Zeit des Lichts (The Age of Light im englischen Original) ist ein überaus treffender Titel, um das Leben einer Fotografin zu beschreiben, vor allem einer so vielfältig begabten wie Lee Miller, die sich sowohl als Mode-, Porträt- wie auch als Kriegsfotografin einen Namen gemacht hatte.

Der Auftakt zu diesem Debütroman könnte gelungener kaum sein. Es ist das Jahr 1966 und Lee Miller lebt mit ihrem Mann Roland Penrose auf der Farley Farm im englischen Sussex. Sie erwarten Gäste, Lee ist in der Küche zugange und trinkt. Als Leser glaubt man bei diesem Alkoholabsturz mit dabei zu sein, so realistisch wird er von Whitney Scharer geschildert.

Rückblende: Paris 1929. Die dreiundzwanzigjährige Lee, die zuvor in New York für Edward Steichen und Condé Nast als Model gearbeitet hatte, lernt Man Ray kennen und will von ihm das Fotografieren lernen. "Hier in Paris, wo sie noch einmal von vorn anfangen will, wo sie Kunst machen will, statt dazu gemacht zu werden, kümmert sich niemand gross um ihre Schönheit." Wobei: Letzteres ist irgendwie schwer vorstellbar.

Ein Zeitensprung. London 1940. Es herrscht Krieg, beim Pfeifen der Bomben wird ihr regelmässig schwindelig. "Niemand, dem sie erklären kann, wie sehr sie sich nach dem Morgen danach sehnt, wenn sie mit der Kamera durch die ausgebombte Stadt läuft, die sich wie von einem surrealistischen Bühnenbildner vor ihr ausbreitet. Eine zerstörte Kirche, und auf den Trümmern schwankend eine völlig unversehrte Schreibmaschine. Eine Statue, von der nur noch der flehende Arm übrig ist. Ihre dunkle Seite, die sich an der Ungezügeltheit der Explosionen erfreut." Besser kann man kaum zeigen, wie Worte Bilder im Kopf entstehen lassen.

Die dunkle Seite, die Whitney Scharer an Lee Miller wahrnimmt, manifestiert sich als eine Art Abgespalten-Sein. Im Hotelzimmer mit einer Zufallsbekanntschaft: "Lee spürt, wie ihr Geist sich von ihr löst, wie so oft beim Sex, und sie schwebt über dem Bett und blickt auf sich herab." Am nächsten Morgen fühlt sie "sich so wie meistens: eingesperrt, erdrückt und vor allem unglaublich gelangweilt."

Doch zurück nach Paris, wo Man Ray sie in die verschiedenen Aspekte der Fotografie einführt. Sie verliebt sich in ihn, sie werden ein Paar, sind sich ähnlich in ihrer Besessenheit. "Tagelang nimmt Man keine Kunden an. Sie schliessen die Tür zum Studio ab. Lee geht nichts ans Telefon." Woher weiss die Autorin das? Immer wieder muss ich mich daran erinnern, dass dies ein Roman beziehungsweise eine Romanbiografie ist. Die Zeit des Lichts ist auch die Geschichte zweier talentierter, egomanischer und obsessiver Menschen.

Wiederum ein Zeitensprung. Juli 1944. Normandie. Lee knipst Fotos in einem Lazarett. Die Logik dieser Zeitensprünge erschliesst sich mir nicht; mein Interesse, ja, meine Neugier für diese Biografie schmälert das allerdings nicht. Die Passagen über ihre Zeit als Kriegsfotografin liefern auch historische Aufklärung. "Lee erfährt, wie die Nazis sich der Gefangennahme entziehen. Gift, Kugeln, Stricke (…) Jemand erzählt ihr, jeder einzelne Nazi im Leipziger Rathaus habe Selbstmord begangen. Dafür hasst sie sie nur noch mehr, die Feiglinge." (Leipzig, 20. April 1945).

Sie lernt Jean Cocteau und andere Surrealisten kennen. Und entdeckt, dass ihr die Schauspielerei liegt. Sie modelt  für den Perfektionisten George Hoyningen-Huene, zusammen mit Horst P. Horst, der wie sie auch lieber auf der anderen Seite der Kamera arbeiten würde. "Neben dem Modeln nimmt sie kleine Schreibaufträge an, hauptsächlich belangloses Zeug, aber es macht ihr Spass, die Storys in die Maschine zu hämmern, und noch schöner findet sie es, ihren Namen daneben stehen zu sehen."

Lee Miller, wie sie Whitney Scharer schildert, war eine überaus komplexe, rastlose und clevere, von starken Emotionen dominierte Frau voller Abgründe, deren Verständnis von Fotografie mir sehr sympathisch ist. "... sie glaubt eben nicht, dass Kunst immer eine Botschaft transportieren muss. Am besten findet sie die Sachen von Man, die keine Erklärung brauchen, keinen Kontext, die einfach nur ein Gefühl in ihr auslösen."

Fazit: Ein überaus einfühlsames, gut erzähltes, differenziertes und überzeugendes Porträt.

Whitney Scharer
Die Zeit des Lichts
Klett-Cotta, Stuttgart 2019

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