Wednesday, 15 February 2023

Vom Sehen

 Fotografien sind Inszenierungen.

Selten war mir dies bewusster als bei den Aufnahmen von Alicia Olmos Ochoa,die ich letzthin im Internet entdeckte. Und während ich in den mehr als zwanzig Jahren, in denen ich über Fotografie geschrieben habe, vor allem an den Geschichten hinter den Bildern interessiert war, ist für mich heutzutage nur wichtig, ob mich die Fotos ansprechen oder nicht. Weshalb sie mich ansprechen, beschäftigt mich nicht; mir genügt zu konstatieren, dass ich mit einigen Fotos wesentlich mehr Zeit verbringe als mit anderen. Mit den Aufnahmen von Alicia Olmos Ochoa ist es mir so ergangen.

Ein  ausgeprägter Blick für Stimmungen ist ihr eigen, ihr Sinn für Komposition ist offensichtlich. Für mich strahlen ihre Bilder so recht eigentlich etwas Magisches aus – sie laden zum Träumen ein, führen dazu, dass sich mir eine von meinem Bewusstsein unabhängige Realität einstellt.

Ich weiss nicht, ob andere diese Bilder auch so sehen; ich weiss auch nicht, ob die Fotografin sie so sieht wie ich sie sehe. Ich halte es für eher unwahrscheinlich, doch ausschliessen will ich es natürlich nicht.

Bei Büchern habe ich die Erfahrung gemacht, dass wir alle anders lesen. Die Gründe, weshalb mir ein Buch gefällt, sind selten dieselben, die andere, die dasselbe Buch schätzen, angeben. Weshalb ich denn auch höchst erstaunt war, dass Chris, ein Chinese aus Kanada, Richard, ein Brasilianer, und ich, ein Schweizer – alle drei verschieden im Alter – , in "Krieg und Frieden" genau die gleiche Stelle, in der Fürst Andrej verletzt auf dem Schlachtfeld liegt, am beeindruckendsten fanden: “Über ihm war nichts als der Himmel, der hohe Himmel, der zwar nicht klar, aber trotzdem unermesslich hoch schien. Graue Wolken glitten ruhig dahin. Wie still, wie ruhig, wie feierlich, dachte Fürst Andrej, gar nicht so, wie ich eben dahergestürmt bin, gar nicht so, wie wir rennen und schreien und kämpfen, und wie sich der Franzose und der Artillerist mit wütenden, entsetzten Gesichtern den Wischer zu entwinden suchten – ganz anders ziehen die Wolken über diesen hohen, unendlichen Himmel dahin. Wie kommt es, dass ich früher niemals diesen Himmel gesehen habe? Wie glücklich bin ich, dass ich ihn endlich sehe. Ja! Alles ist eitel, alles ist Lug und Trug, ausser diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts ausser ihm … Und auch er ist wohl nicht … nichts ist … ausser der Stille … der Ruhe … Gott sei Dank!”

I see, sagt der Engländer, wenn er vorgibt, etwas verstanden zu haben. Damit dieses Sehen möglich ist, muss man sich die Zeit nehmen, hinzuschauen. Bei den Fotografien von Alicia Olmos Ochoa lohnt es sich.

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