"Kind", sagte er ruhig, ohne sich im Geringsten von meiner Ungeduld bewegen zu lassen, "auf dieser Welt gibt es nicht nur eine Art von Sehen." Er schaute mir in die Augen, so durchdringend und vergebend, so tiefgründig und warmherzig, dass es schien, als könne es auf dieser Welt doch einen Ort geben, weit weg und jenseits von allem, was richtig und falsch ist.
Dieser Passus ist dem ersten Kapitel dieser philosophischen Reise vorangestellt. Da ich schon lange zu wissen glaube, dass die allgemein herrschende Denkensart nicht viel mehr als eine Gewohnheit zu denken darstellt (eine für mich unbefriedigende), fühle ich mich davon ganz unbedingt angesprochen.
Ich habe einige Jahre in Südostasien verbracht und fühle mich bei der Lektüre von Am Fusse des Kavulungan daran erinnert – vermutlich, weil mich damals ähnliche Fragen umtrieben. Wobei: So recht eigentlich hat sich das nicht geändert – meine Fragen und gelegentlichen Antworten sind nach wie vor dieselben.
Die Protagonistin dieses Werkes kommt nicht zur Ruhe und sucht Rat bei einem Meister. "Deine körperliche und seelische Unruhe, deine Müdigkeit, die kommen daher, dass du dein Selbst viel zu wichtig nimmst. Du siehst nur deine eigene Existenz", erklärt ihr dieser, worauf sie bemerkt, bei ihrem Meister sei es stets erlaubt gewesen zu widersprechen (wunderbar, dieser feine Humor!): "Wer kann denn irgendwas ausserhalb seiner eigenen Existenz wahrnehmen?" Indem man sich bewusst macht, dass der Mensch lediglich eine Art unter zehntausenden Spezies ist, mit seiner eigenen Art der Wahrnehmung. Wenn man nur sich selber sehe, so der Meister, sei man wie ein Zimmer ohne Fenster.
Am Fusse des Kavulungan ist eine Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Lebensfragen anhand ganz verschiedener Episoden, die im Süden Taiwans angesiedelt sind, wo die Protagonistin, eine Schriftstellerin, in der von einem Gutsherrn geführten 'Pension der Einsamkeit' Aufnahme findet. Der Gutsherr ist abergläubisch und liest zum Ausgleich den 'Scientific American'. Die Schriftstellerin erkundet die Gegend, trifft auf unterschiedliche Leute, unter anderen auch auf die junge Yijun. "Ihre Haut war kakaofarben, offensichtlich war sie Angehörige einer indigenen Volksgruppen Taiwans. Ich sah sie bewundernd an und dachte im Stillen: 'Dieses Mädchen ist umwerfend schön – fast wie ein Covermodel'."
Ein paar Wochen später trifft die Schriftstellerin von Neuem auf Yijun, die in der Psychiatrie untergebracht ist, wo sie sich in einen jüngeren Mitpatienten verliebt hat. Das ist sehr einfühlsam geschildert, Die Autorin versteht es ausgezeichnet, sich vom Leben in seinen verschiedenen Formen berühren zu lassen.
Auch auf eine 14Jährige, die über so ziemlich alles Bescheid zu wissen scheint, trifft die Schriftstellerin. "Aus einem Grund, den ich selbst nicht kannte, hatte ich beschlossen, das rationale Denken hintanzustellen und einfach zu akzeptieren, was die altkluge Vierzehnjährige mir erzählte."
Die 14Jährige stellte sich die Art von Fragen, die Darwin sich gestellt hatte, als er begann, das Verhalten von Regenwürmern zu erforschen. "Warum kamen die Regenwürmer ausgerechnet nach dem Regen heraus? Hörten sie, wie der Regen auf den Boden trommelte? Verfügten sie über einen Gehörsinn? Hatten sie Ohren?" Nein, hatten sie nicht, sie regierten auf Vibrationen.
"Nur weil du keinen Wind wahrgenommen hast, heisst das nicht, dass kein Wind da war. Es heisst nur, dass deine Sinneswahrnehmung nicht sensibel genug ist, um einen sehr feinen Windhauch zu spüren." Dabei geht mir Schopenhauer durch den Kopf, der die Auffassung vertrat, wir Menschen seien unterentwickelte Tiere, da diesen feinere und andere Sensoren eignen als uns. So ist etwa, wie die 14Jährige ausführt, der Blickwinkel einer Katze 25 Grad weiter als der menschliche.
Wie wir die Welt wahrnehmen, hängt wesentlich davon ab, ob wir zum Sehen bereit sind. "Ich sehe, du liest. Du verwendest deinen Verstand, ordnest die Dinge zeitlich ein, strukturierst sie. Ich dagegen benutze meine Augen; ich bin wie eine Kamera, die alles auf einmal aufnimmt. Was ich sehe, kannst du nicht sehen, weil du nur liest, aber nicht siehst." Die Kamera lehre sie das Sehen, sagte Dorothea Lange einmal; ein brasilianischer Zen-Buddhist formulierte es so: Não pense, veja (denk nicht, schau).
Fazit: Eine überaus gelungene und anregende Wahrnehmungsschulung – Horizont-erweiternd. Nicht zuletzt solch weiser Einsichten wegen, die unser Herz erreichen. "Wenn du eines Tages in die letzte, endgültige Dunkelheit eintrittst und aus dieser an den Ort des Lichts zurückschaust, wirst du feststellen, dass unser aller Schicksal flüchtig, unsere Liebe tief ist."
Lung Ying-Tai
Am Fusse des Kavulungan
Eine philosophische Reise
Drachenhaus Verlag, Esslingen 2023
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