Wednesday, 5 July 2023

Das Mädchen mit der Leica

Kein Genre, das ich problematischer erachte als die Biografie, abgesehen vielleicht von der Autobiografie, denn anzunehmen, ein Leben erfassen zu können, ist nachgerade grotesk, da dies implizit behauptet, zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können und es eine Folgerichtigkeit gebe, obwohl man doch nicht einmal zu sagen vermöchte, was einem vor drei Minuten durch den Kopf gegangen ist. Vermutlich, weil es nicht wichtig war, wird der eine oder die andere schmunzeln.

Die Biografie, so Janet Malcolm in ihrem Buch über Sylvia Plath, sei das Medium, mit welchem die verbliebenen Geheimnisse einer berühmten Person ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt würden und der Biograf, der auch eine Sie sein kann, sei nichts anderes als ein professioneller Einbrecher, der heimlich die Schubladen ausgeräumt habe. Kurz und gut: Der Biograf (das Englische unterscheidet nicht zwischen Frau und Mann) ist so recht eigentlich ein Voyeur (eine Voyeuse?).

Helena Janeczek wird sich ihre eigenen Gedanken dazu gemacht haben, als sie ihr Porträt, der mit 27 Jahren bei einem Unfall im Krieg verstorbenen Gerda Taro, einen Roman nannte. Ein kluger Entscheid, wie ich finde.

Der Einstieg ist genial: Wie die Autorin diese Fotos kommentiert, ist gescheit und einfühlsam, denn sie schaut hin. Und macht mir auch den von mir wenig geschätzten Robert Capa sympathisch. Dabei erfahre ich übrigens auch, dass Gerda Taro eigentlich Gerda Pohorylle hiess. 

Übrigens: Auf dieses Buch aufmerksam geworden bin ich, als ich las, dass Zehntausende sie in Paris zu Grabe trugen, darunter Alberto Giacometti und Pablo Neruda. Wie konnte das bloss sein? Lesen Sie dieses Buch!

Helena Janeczek schildert Gerda Taro durch die Augen von drei Personen. Willy Chardack, unsterblich in sie verliebt, blieb ihm nur die Rolle als Freund; Georg Kuritzkes, mit dem sie ein heftiges Verhältnis verband; Ruth Cerf, ihre Jugendfreundin aus Stuttgart. Eine überaus überzeugende Herangehensweise, denn wenn auch jede der drei Personen eine jeweils andere Gerda kennenlernt, was sie wesentlich auszumachen schien, war ihre Eigenwilligkeit sowie ihr Lachen, mit dem es ihr oft gelang, "dem Unglück die Schwere zu nehmen."

Was hat Helena Janeczek bewogen, sich Taro und Capa anzunehmen und sich in deren Leben zu vertiefen? "Meine Mutter, die Gerdas dickköpfige coquetterie besass, hätte ihre kleine Cousine sein können. Mein Vater, ein grosser Geschichtenerzähler wie Capa, sein jüngerer Bruder."

Mein eigenes Interesse an diesem Buch hat mit der Fotografie zu tun, und besonders dem eigenartigen Kultstatus, den einige Fotografen geniessen, denn ein gutes Foto hat häufiger mit Glück bzw. mit zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein als mit Talent zu tun. Natürlich sehen das die meisten, die sich mit Fotografie auseinandersetzen, nicht so. "Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, dann warst du nicht nah genug dran", soll Capa bekanntlich gesagt haben. Ein viel dümmerer Satz kann einem Kriegsfotografen wahrlich nicht einfallen.

Die damals legendäre Picture Post veröffentlichte unter dem Titel The Greatest War Photographer in the World ein Porträt von Capa. Gerda Taro hat dieses Foto gemacht. "konzentriert, unerschrocken, das Profil an die Filmkamera geschmiegt, die wie ein metallenes Horn mit Nachtfalterflügeln aus seinem Brauenbogen hervorwächst. Der grösste Kriegsfotograf ohne Fotoapparat." Zugegeben, das ist schon reichlich absurd, doch noch fast absurder bzw. befremdlicher finde ich die Bezeichnung Der grösste Kriegsfotograf.

Helena Janeczek
Das Mädchen mit der Leica
Piper, München 2022

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