2007. Bei einer Zwangsversteigerung in Chicago erwarb der sechsundzwanzigjährige John Maloof 140 000 Fotoaufnahmen, die wenigsten waren Abzüge, die meisten Negative oder unentwickelte Filmrollen. Ann Marks, die leitende Angestellte in einem Unternehmen gewesen war und von Natur aus detektivisch veranlagt, hörte davon und wurde in der Folge beauftragt, "eine umfassende und verlässliche Biografie von Vivian Maier zu schreiben."
Diese liegt nun vor und ist derart akribisch, dass ich mich einerseits frage, ob man all diese Details wirklich von einer Person wissen kann (kann man nicht, da ist viel Spekulation und auch viel Übertragung mit dabei), und mich andererseits wundere, weshalb einem derart unauffälligen Leben quasi über Nacht eine solche Bedeutung gegeben wird (ich finde es übertrieben). Diese posthume Verklärung der Vivian Maier hat wohl, stelle ich mir vor, mit dem Hunger des Menschen nach Bedeutungsvollem zu tun.
Vivian Maier war eine Sammlerin. Nicht nur Fotografien hortete sie, sondern auch Zeitungen. "Randy Frost, ein international anerkannter Experte auf dem Gebiet zwanghaften Hortens, führt aus, dass die Betroffenen nicht selten hochintelligente Menschen sind." Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei Frost bestimmt auch um einen zwangshaften Horter handelt! "Die Fotoexpertin Elisabeth Avedon meint, Vivian habe die Gabe besessen, 'Muster zu erkennen, den Raum zu gliedern und zu gestalten und Licht und Gestik innerhalb des Bildes überzeugend anzuordnen.' Bei Vivians Wissensdurst und Sinn für alles Visuelle, war es kein Wunder, dass sie gerade Zeitungen, die für so wenig Geld so viel Inhalt boten, zum Gegenstand ihrer Sammelwut erkor."
Übrigens: "Sie pflegte ihre Negative in Pergamintaschen zu stecken, die sie mit Datum und einigen wenigen Notizen versah, jedoch fast nie mit den Namen der Porträtierten." Sammeln als ein Akt, sich der Zeit zu vergewissern, diese wirklich werden zu lassen? Die Fotografie, sagt man bekanntlich, bringe die Zeit zum Stillstand. und erlaubt es, sie festzuhalten
Zugegeben, ihr Werdegang bietet sich zum Hineininterpretieren geradezu an. Die Nanny mit der Kamera bringt ja so recht eigentlich auf den Punkt, wie die Medienwelt sich entschieden hat, Vivian Maier zu sehen. Obwohl: Es ist nicht so sehr die Tatsache, dass sie ihr Leben hauptsächlich als Kindermädchen zugebracht hat, sondern dass sie so viele Aufnahmen gemacht und (für mich das Verblüffendste) sich die meisten offenbar gar nie angeschaut hat.
Man erfährt auch Aufschlussreiches über die Fotografie in diesem dichten und detaillierten Werk. So entwickelte Vivian, als sie sich in New York aufhielt, einen Grossteil ihrer Schwarzweissfotos selbst. Auch beschnitt sie ihre Aufnahmen selber. "Als Vivian mit ihrer Rolleiflex immer besser zurechtkam, traf sie immer mehr Entscheidungen im Moment der Aufnahme selbst – eine Erfahrung, die wohl viele, die regelmässig fotografieren, machen.
Vivian Maier gilt als street photographer (ein ausgesprochen vager Begriff, unter dem man alles mögliche subsumieren kann), sie verfertigte allerdings auch zahlreiche Selbstporträts. Ann Marks hat viele diesbezügliche Interpretationen zusammengetragen, die meines Erachtens jedoch mehr über die Interpreten (Frauen wie Männer) als über Vivian Maier aussagen.
Weit besser als die vielfältigen Interpretationen gefällt mir diese kurze und wesentliche Charakterisierung Vivians, die von Ann Marks stammt . "Wie alle Menschen war Vivian der Ausdruck ihrer Gene, ihrer Kindheitserlebnisse und der Zufälligkeiten ihrer Begegnungen, Beziehungen und willkürlichen Entscheidungen, und zweifelsohne hatte ihr das Schicksal schlechte Karten zugeteilt." Schade, dass Ann Marks es nicht bei dieser Charakterisierung belassen hat.
Nur eben: Dann gäbe es auch diese eindrückliche Biografie nicht, die sich nicht zuletzt einer ungeheuren Fleissarbeit verdankt, die in einem Forschungstalent gründet, das selten ist, und unter anderem festhält: "Man darf mit Bestimmtheit annehmen, dass Vivian hinsichtlich ihrer genetischen Veranlagung nicht begünstigt und in Bezug auf psychische Erkrankungen gefährdet war."
Andere äussern sich weniger zurückhaltend und betonen, Vivians Verhalten lese sich "wie ein Lehrbuchfall der schizoiden Persönlichkeitsstörung", für die kennzeichnend ist, dass sie sich durch einen Bruch mit den Mitmenschen charakterisiert. "Die Fotografie ... eröffnete ihr ... die Möglichkeit, Verbindungen aus sicherer Entfernung aufzunehmen."
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Ann Marks
Das Leben der Vivian Maier
Die Nanny mit der Kamera
Steidl Verlag, Göttingen 2023
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