Wednesday 11 September 2024

American Dirt

Als American Dirt im Jahre 2020 auf den Markt kam, wurde es zuerst vielerorts gelobt, dann jedoch auch kritisiert. Ich erinnere mich noch vage, dass der Autorin vorgeworfen wurde, sie könne nicht authentisch über Mexiko schreiben, da sie keine Mexikanerin sei. Und über Migranten könne sie auch nicht schreiben, da sie selber keine Migrantin sei. Diese Kritik schien mir nicht unplausibel, wirklich darüber nachgedacht habe ich jedoch nicht.

Seither hat der politisch korrekte Fundamentalismus zugenommen. Mittlerweile äussern ein paar wenige ungute Gefühle wegen vermeintlich kultureller Aneignung. Ich selber kriege ungute Gefühle, wenn ich von solchen Schwachköpfen höre, schliesslich habe ich mir mein ganzes Leben lang Hilfreiches aus anderen Kulturen angeeignet. Und überhaupt: Keine Idee, keine Melodie, die irgendjemandem "gehört."

Da schreibt eine Frau einen Roman, erfindet sich also die Welt und bringt ihre Gedanken dann zu Papier. Wir alle erfinden uns die Welt. Nicht alle machen daraus einen Roman. Und noch weniger machen daraus einen guten Roman. American Dirt ist ein guter Roman. Stephen King findet das übrigens auch. Und Don Winslow ebenso. Und auch The Observer war voll des Lobes.

Wenn ein Roman ein Klischee-Bild von Mexiko liefert, ist das kein Problem. Auch Klischee-Bilder von Migranten sind kein Problem. Auch Klischee-Bilder über Schweizerinnen sind kein Problem. Nur ernst nehmen sollte man sie nicht über Gebühr. Diejenigen, die sich über Klischee-Bilder aufregen, haben ihre eigenen, nur wissen sie es nicht.

Gäbe es die politisch korrekten Fundis nicht, hätte ich vermutlich American Dirt nicht erstanden. Danke also fürs Aufmerksam-Machen auf diese spannende Lektüre, die in Acapulco ihren Ausgang nimmt, und mich an meine Zeit dort erinnert. Und mir in Erinnerung ruft, was ein gutes Buch bewirken kann. "Hin und wieder, wenn ein Buch sie besonders berührte, wenn es ein bisher unentdecktes Fenster in ihrem Geist öffnete und für immer ihre Wahrnehmung der Welt veränderte ...".

Friday 6 September 2024

Martha Gellhorn: Die Araber von Palästina

Ich bin Fan von Martha Gellhorn, ihr Roman Liana, der während des Zweiten Weltkriegs in der Karibik spielt, gehört zu den wenigen Büchern, die ich ganz, ganz langsam gelesen habe, auf dass mir die erhellenden Einsichten dieser Autorin nicht entgegen mögen. "Pierre knew he could not think his way out of this sadness, it would have to wear off with time. He must neither fight it nor feed on it; he must leave it alone and let it wear away as the wood of the pier wore away in the sea." Und (natürlich gibt es noch viele mehr): "Marc believed that he and Pierre were average men: it was the average men who would have to run the world if it was to be sane, not these strange, remote creatures who spoke on the radio, got their pictures in the papers, rushed about the globe bossing and babbling and had no real life anywhere, nothing to do with real people, and no roots."

Zu diesen "strange, remote creatures" zählt sie auch Jassir Arafat, diesen "hässlichen kleinen Mann mit seinem Zweitagebart, seinem gruseligen Lächeln und den theatralischen Guerillaklamotten", den niemand gewählt hat, "und kein Palästinenser wagt es, sich seiner PLO zu widersetzen; Andersdenkende werden ermordet." Gibt es eigentlich heute noch jemanden, der derart unverblümt schreibt? 

Im Jahr 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen, Palästina in zwei Staaten zu teilen, einen für die palästinensischen Araber, den anderen für die Juden. Die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten hat für die arabischen Flüchtlinge Millionen von Dollars ausgegeben (Stand Oktober 1961). Das Geld kam von Mitgliedern der Vereinten Nationen sowie von privaten Wohltätigkeitsorganisationen. "Die Sowjetunion hat nie auch nur einen Cent bezahlt. Eine kleine boshafte Anmerkung kann ich mir nicht verkneifen: Arabische Flüchtlinge äussern oft zärtliche Gefühle für die Sowjetunion, während die meisten der Sprecher in den Dörfern Amerika und England oder dem Popanz 'Westlicher Imperialismus' die Schuld für ihr Exil geben." Womit sie auf den Punkt bringt, was ein friedliches Mit- oder Nebeneinander verunmöglicht: die ideologischen Voreingenommenheiten.

Von den 58 Lagern der UNRWA besucht sie 8, gelegentlich wird sie dabei von Aufpassern des örtlichen Geheimdienstes begleitet. Was sie vor allem antrifft, ist eine Realität, die "mit der Prahlerei, der Fremdenfeindlichkeit und dem antisemitischen Hass, die die Presse" verbreitet, so ziemlich gar nichts zu tun hat. Was auffällt: Offensichtliches, wie etwa die fehlende Geburtenkontrolle, können nicht angesprochen werden. Stolz und eine ausgesprochene Anspruchsmentalität herrschen vor. 

Es ist eine wahre Freude, diese Reportagen zu lesen, denn Martha Gellhorn tut, was wirklich gute Reporter (die Reporterinnen verkneife ich mir, schliesslich gibt es im Englischen {sie war Amerikanerin} diese Unterscheidung nicht, denn dort bezieht sich Reporter sinnigerweise auf die Fähigkeit, einen Report zu verfassen und nicht etwa aufs Geschlecht) tun: Sie beschreibt nicht nur, was sie sieht, sondern auch, was sie sich dabei überlegt, sie empfindet und ihr durch den Kopf geht.

Gaza bezeichnet sie als Gefängnis, die Verschwörungstheorien der palästinensischen Propagandisten mit: "Es gibt eine Grenze für das Ausmass an Absurdität, das man ertragen kann, daher schlug ich vor,  dass wir das Lager besuchen. (...) Es gab keine Möglichkeit, mit den Frauen ins Gespräch zu kommen, sondern einer der Ehemänner ergriff sogleich das Wort." Es ist dies Letztere, dar mir so recht eigentlich alles über die arabische Welt sagt, und weshalb ich sie mit den westlichen Werten von heute als grundsätzlich nicht vereinbar erachte. Das liegt auch daran, dass Muslime sich am religiösen Glauben und der moderne westliche Mensch sich an der wissenschaftlichen Erkenntnis orientiert.

Die Araber von Palästina ist ein erhellender und wesentlicher Text, der eindrücklich aufzeigt, worin sich Menschen unterscheiden. "Ich hatte einzelne Flüchtlinge gemocht und bewundert, erkannte aber, dass ich keine allgemeine Empathie für die palästinensischen Flüchtlinge empfand (...) Es ist schwer, sich um diejenigen zu sorgen, die nur um sich selbst kreisen. Es fällt schwer, die Mitleidlosen zu bemitleiden."

Welten prallen aufeinander. Die Israelis packen an, die Araber erwarten von den Israelis, dass sie anpacken. Den Arabern scheint eine genuine Opfermentalität eigen, Schuld sind immer die andern. Nach einem Gespräch mit einer muslimischen Lehrerin, notiert Martha Gellhorn: "Ausserdem hatte ich genug von der Anstandsregel, die offensichtlich von Nicht-Arabern verlangt, Araber zu behandeln, als wären sie neurotische Kinder, die entweder Wutanfälle bekommen oder innere Blutungen von Wunden der Seelen."

Doch sie sind nicht nur ohne Empathie, sie sind voller Hass. Auf die Juden sowieso, aber auch untereinander. So klar und deutlich habe ich das noch nie gelesen. Dass dies heutzutage so nicht zu hören ist, liegt womöglich an einer Entwicklung, welche die Komplexitätsherstellung als Geschäftsmodell entdeckt hat. 

Die Araber von Palästina ist vielfältige Aufklärung vom Feinsten, die uns unter anderem warnt (im Beitrag über Eichmann), "dass das eigene Gewissen der letzte und einzige Schutz der zivilisierten Welt ist." Und uns an die Empathielosigkeit der Schweizer Behörden während des Zweiten Weltkriegs erinnert, die Null Interesse am Schicksal der Juden hatten. 

In "Verluste und Propaganda", einem Text aus dem Jahr 1967, schreibt sie: "Überall, wo wir hinkamen, sassen wir in einer Gruppe im Kreis, tranken Kaffee aus winzigen Tässchen und unterhielten uns wie vernünftige Menschen. Und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, änderte sich die Atmosphäre." Genau so habe ich es einmal, bei einem Gespräch mit einem Muslim in Istanbul, erlebt. Als ich einem kubanischen Musiker, der mit einer Türkin verheiratet war, davon erzählte, sagte er (ich war zu der Zeit mit einer Kubanerin verheiratet): "Weisst du, die Türken, die sind nicht wie wir." Nachzulesen in Warum rennen hier alle so? (Zürich/Chur 2013).

Diesem Band ist ein gut geschriebenes, engagiertes, differenziertes und sehr aufschlussreiches Nachwort des Verlegers Klaus Bittermann beigegeben, das auch auf die heutige Situation Bezug nimmt, die er sich hauptsächlich mit der Geschichte und der Ignoranz erklärt. Auch wenn ich seine Argumente überzeugend finde, mir selber scheint der israelisch-arabische Konflikt stärker durch inkompatible Mentalitäten geprägt, die natürlich nicht allen Israelis bzw. allen Arabern gemeinsam sind. Treffend kommentiert er dabei auch die propalästinensischen Reaktionen auf den 7. Oktober: "Erstaunlich ist dabei, dass zahlreiche Professoren an den Universitäten in zahlreichen Offenen Briefen sich mit den erklärtermassen propalästinensischen Aktivisten solidarisch erklären, als ob es vornehmlich darum gehe, die Unwissenheit über den Konflikt nicht nur Wissensvermittlung zu schmälern, sondern zwanghaft unter Beweis zu stellen, dass Ahnungslosigkeit eine besonders schützenswerte menschliche Eigenschaft sei." Was lernt man daraus? Dass auch sogenannt gescheite Leute unfassbar beschränkt sein können, und selten viel anderes tun, als ihre Vorlieben und Abneigungen zu rationalisieren, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Zudem: Weshalb nehmen wir eigentlich professorale Meinungen, die nichts mit dem jeweiligen Fachgebiet (von Urban Studies über Kritikkompetenz zu Queer Computing) zu tun haben, eigentlich ernst?

Fazit: Exzellenter Journalismus der erfrischend persönlichen Art, bei dem nicht nur die Ereignisse vor Ort sowie deren Hintergründe zur Sprache kommen, sondern ebenso das Denken und Fühlen dieser no-nonsense Autorin.

Martha Gellhorn
Die Araber von Palästina
Reportagen über arabische Flüchtlinge, Eichmann und den Sechstagekrieg
Edition Tiamat, Berlin 2024

Wednesday 4 September 2024

Do Not Give Way to Evil

The first few sentences, sometimes the first few paragraphs, do it for me – or they don’t. In any book, and that includes photo-books.

Lisa Kahane’s “Do Not Give Way to Evil” starts like this: “The past is never over. Image
outlives fact.” It hit me, immediately: Exactly, so true, this is why pictures are more telling than words.

Images carry feelings, and these we remember – this is why images are so powerful.
The book shows photos of the South Bronx between 1979 and 1987, “not just another
neighbourhood but another realm, visible but incomprehensible, an urban wilderness actively populated by ghosts.”

What is true for the first few sentences is likewise true for the first few photographs. In “Do Not Give Way to Evil” it was the first one that did it for me – the abandoned Bronx Borough Courthouse. I instinctively knew that I would like Lisa Kahane’s other pictures – and I did. Moreover, I loved her introductory text. For its humaneness, its unpretentiousness, and its insights – it made me look at her photographs with sympathy. 

Here are some excerpts:
“Change is a constant in New York City and it’s usually considered progress. In the Bronx, it was extraordinarily brutal. Portrayed either as a garden spot or a wretched failure of civic life, the ruin of the Bronx, part natural progression of the American Dream, part intentional destruction, was a long time in the making.

Fewer things than one imagines are coincidences. What is made to seem the inevitable process of history is often the interplay of money and power.

Withdrawal of federal funds, diminishing city services, and dependence n welfare turned the American Dream into an American Nightmare. Anger and frustration turned to cruelty, and boredom to loss of hope.

Drugs were easy to get. Widespread fires, unknown since the early
nineteenth century, made a comeback. Counterproductive government response made arson profitable for landlord and tenant. In the 70’s the borough averaged 12,000 arson fires a year, over thirty a day.

There are books now that explain it all and yet explain nothing. The devil’s best game, the poet Charles Baudelaire wrote, is to convince us that he doesn’t exist. Even though it’s always the present tense in a photograph, the spirit of the time can only be represented, not recalled or recreated. The best thing about these pictures of devastation is that they can’t be taken in the Bronx anymore.”

“Do Not Give Way to Evil” by Lisa Kahane was published in 2008, in the ‘Miss Rosen
Editions’, Power Books, Brooklyn, New York.
http://www.powerhousebooks.com