Wednesday 2 September 2015

Istanbuler Momentaufnahmen

Als ich mich am 1. Oktober 2005 nach Istanbul aufmache, um dort am Berlitz Language Center für zwei Monate Englisch zu unterrichten, weiß ich von dieser Stadt (und von der Türkei) so gut wie gar nichts, und genau deshalb will ich hin: Ich möchte erleben, wie diese Metropole und die Menschen, die da leben, auf mich wirken, will Eindrücke sammeln, möchte erfahren, wie sich das Leben in einer muslimischen Kultur anfühlt. Leiten lassen will ich mich dabei alleine von dem, was mir zufällt.

Vorbereitet habe ich mich nicht, weder Reise- noch Kulturführer gelesen, die Türkei/Europa-Debatten in den Medien nur am Rande verfolgt, von Orhan Pamuk und Yasar Kemal sind mir nur gerade die Namen geläufig. Trotzdem komme ich natürlich mit Vorstellungen, weiß zum Beispiel, dass Istanbul in Kunstkreisen und in der Klubszene gerade hip ist ("Cool Istanbul", titelte Newsweek unlängst), auch ein Bild, eine Karikatur vielmehr, von den Türken habe ich im Kopf: ein düster dreinblickender, schnauzbärtiger, vornüber gebeugter Mann, gefolgt von, in drei Metern Abstand, einer Frau im Regenmantel und mit Kopftuch, an der rechten Hand zwei Kinder, in der linken drei Plastiktüten, die mit ihm Schritt zu halten sich bemüht.

Mesut ist Personalchef bei Berlitz und erwartet mich am Flughafen. Er ist Mitte dreißig, trägt weder Schnauz, noch geht er vornüber gebeugt, vielleicht weil er längere Zeit in New York und nicht in Berlin gelebt hat. Oder weil er Istanbuler ist. Für Istanbul gelte, sagt er, was auch für New York gelte: New York sei New York (und nicht etwa mit Amerika gleichzusetzen) und Istanbul sei Istanbul, die Türkei etwas ganz anderes.

Ich nicke zustimmend. Weil ich das über New York auch schon gehört habe. Da jedoch viele Bewohner New Yorks gar nicht dort geboren und aufgewachsen sind, sondern von anderswo, und vielfach vom Land, stammen, zweifle ich nicht wenig, ob da wirklich so viel dran ist.

Mesut weist auf Häuser und Wohnblöcke an einem Hang hin. Alles illegal gebaut, sagt er. Und warum wird das toleriert? Die Bewohner seien Wähler, die Behörden wollten gewählt werden, unpopuläre Entscheide dabei wenig hilfreich.

Wir fahren über eine der beiden Bosporusbrücken, ich gucke nach rechts und nach links, sage wau und toll (und meine es auch). Mesut ist sichtlich bemüht, sich seinen Stolz nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Nach einer guten Stunde Fahrt treffen wir auf der asiatischen Seite vor einem Wohnturm im Stadtteil Erenköy, das gänzlich aus Wohntürmen zu bestehen scheint, ein (später werde ich rausfinden, dass fast ganz Istanbul aus solchen Wohntürmen besteht). In einer großzügigen, hellen, mit Stuck verzierten Wohnung im sechsten Stock wird mir ein Zimmer zugewiesen, Mesut stellt mir meine drei Mitbewohnerinnen vor, Nellie, Maxi und Claire, aus Australien und Neuseeland, alle drei um die sechzig, drückt mir seine Visitenkarte und den Wohnungsschlüssel in die Hand und verabschiedet sich. Etwas verblüfft bin ich schon, dass ich in einem Land, das gerade von einer muslimischen Regierung geführt wird, mit drei mir unbekannten Frauen in einer Wohnung untergebracht werde.

Der ganze Text findet sich in:
Hans Durrer
Rüegger Verlag, Chur/Zürich 2013

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