“… mad
at the Chinese for lying so much.”
(Maxine
Hong Kingston. The Woman Warrior).
Im
Bus nach Quanzhou haben Chris und Johanne gesehen wie der
Billetkontrolleur von drei jungen Männern durchs Feld gejagt und
schliesslich blutig geschlagen wurde.
Im
Winter hat sich ein Mann aufs Universitätsgelände geflüchtet, wo
er von einem aufgebrachten Mob fast gelyncht worden ist. Er hatte ein
Motorrad gestohlen.
Im
Nebengebäude ist im letzten Semester eine chinesische Lehrerin von
ihrem früheren Freund mit dem Messer angegriffen und verletzt
worden.
Vor
ein paar Tagen musste Lynn ins Spital nach Quanzhou eingeliefert
werden. Er war ein paar Mal bewusstlos zusammengebrochen, hatte hohes
Fieber, sein Hals war angeschwollen und ganz rot, er konnte nicht
mehr essen.
Chris
hatte am selben Tag mit Lynn zu Mittag gegessen. Dabei äusserte
Lynn, er habe Angst, er hoffe, er komme hier gesund raus. Die tun dir
nichts, hatte ihn Chris beruhigt. Fünf Stunden später traten die
ersten Symptome auf.
Möglicherweise
eine Vergiftung, sagt Chris.
Lynn
glaubt, die Administration habe es auf ihn abgesehen, wolle ihm
zurückzahlen, dass er sich hier nicht konform verhalten habe. Er sei
übers Wochenende nicht hier gewesen, es hätte jemand also ohne
weiteres in sein Appartement rein und da was ins Trinkwasser geben
können.
Da
Lynn schon mal einen Schüler in die Ecke stehen und nicht wenige
durchfallen lässt, vermute ich eher einen Racheakt eines Schülers.
Weder
Chris und Johanne, weder Lynn noch ich selber kennen den offiziellen
Befund des Spitals, wir halten uns damit auch gar nicht auf. Wir
zählen nicht darauf, dass uns hier jemand die Wahrheit sagt.
Zusammen
mit anderen Ausländern – insgesamt 26 aus verschiedenen Ländern –
unterrichten wir an einer Schule, die sich Universität nennt, jedoch
eine solche nur dem Namen nach ist, in der Nähe von Quanzhou, einer
7-Millionen-Stadt in der Provinz Fukkien, in Chinas Süden.
Das
Gelände ist mit Toren und Wachen gesichert, die Beziehungen zwischen
der Polizei und der Universität, sagt der Vice President, exzellent.
So gut, dass unsere hier ausgestellten Arbeitsvisa mit einem falschen
Ablaufdatum versehen sind – ein allfälliges Abhauen soll uns teuer
zu stehen kommen.
Wir
stehen unter dauernder Beobachtung, werden bewacht. Um die vierzig
Polizisten in Zivil sollen auf dem Gelände aktiv sein, vielleicht
sind es aber auch bis zu hundertzwanzig. Nach ein paar Wochen beginnt
man jedem Gerücht zu trauen.
Unterhalte
ich mich auf der Strasse mit einem der anderen ausländischen Lehrer,
kommt es oft vor, dass ein Chinese sich unserem Schritt anpasst und
neben uns her geht. Wir wissen, dass sie unser Gespräch belauschen.
Mit Kollegen, die Französisch sprechen, wechsle ich dann die
Sprache.
Wer
die Frau wohl ist? wundert sich Nisha, die Information Management
Systems unterrichtet, als wir sehen, wie sich Sunny, die jeden Montag
bei mir putzt, auf ihr Motorrad setzt. Für eine Putzfrau ist die
viel zu gut gekleidet, fügt Nisha hinzu.
In
jeder Klasse gibt es Schüler, deren Aufgabe es ist, dem Vice
President über das Tun und Lassen des Lehrers zu berichten.
Natürlich sind wir Lehrer davon nicht in Kenntnis gesetzt worden,
wir erfahren davon von Lehrern, die schon im letzten Semester hier
waren.
Die
Studenten haben es alle, mangelnder Leistungen wegen, nicht in eine
reguläre Universität geschafft. Die Studiengebühren sind hoch,
damit werden die Diplome bezahlt.
In
einer Kultur, wo der Schein alles gilt, wird dieser eben gekauft. Als
der sehr reiche Eigentümer der Schule mit dem sehr einflussreichen
Mann, der für die Vergabe der Einstufungen zuständig ist,
zusammensass und um die Bezeichnung ‘Universität’ nachsuchte,
meinte der einflussreiche Mann wegwerfend: “Es ist doch nur eine
Name.” So will es die Legende.
Den
musst du unbedingt kennen lernen, sagt Ben, ein Lehrer-Kollege, nach
eigenen Angaben 54 (einige halten ihn für wesentlich älter) Jahre
alt, ein Anbiederer und Gerüchteverbreiter. Der Junge, den ich
unbedingt kennenlernen soll, ist der Präsident der Student
Association. Ich wüsste nicht, weshalb ich den kennenlernen sollte
und gebe mich entsprechend unkooperativ, ich weiss hingegen, weshalb
es für Ben wichtig ist, mit dem Jungen ein gutes Verhältnis zu
haben – die Student Association führt Dossiers über die einzelnen
Lehrer und da Ben mit Studentinnen rummacht (dies ist verboten), ist
er erpressbar und davon wird Gebrauch gemacht.
Von
zwei meiner ausländischen Lehrerkollegen weiss ich, dass sie mit der
Vorstellung im Kopf rumlaufen, sie könnten von einer Gruppe
Studenten zusammengeschlagen werde.
Die
Studenten sind auch wirklich einmal gewalttätig geworden. Vor zwei
Jahren haben sie gegen die stinkenden und engen Studentenunterkünfte
protestiert. Sie haben Scheiben eingeschlagen und andere
Einrichtungen zerstört.
Der
Eigentümer dieser Anstalt (alles in mir weigert sich, das Wort
Universität in den Mund zu nehmen) rief die Bereitschaftspolizei.
Der Aufstand wurde niedergeschlagen.
Viele
der Studenten – sollte die Bezeichnung ‘Student’ Neugier und
Lernwillen suggerieren, so sind die meisten der Jugendlichen hier
keine Studenten – tun mir manchmal auch leid. Einige sagen ganz
offen, dies sei die Hölle hier.
Chris
hat einmal in seiner Klasse eine anonyme Umfrage gemacht: von vierzig
Schülern sagten gerade einmal drei, ihnen gefiele es hier.
Ob
ich auch hierhergekommen sei, weil sie mich reingelegt hätten? fragt
mich eine Schülerin. Ja, antworte ich, doch ich sei auch selber blöd
genug gewesen, um darauf reinzufallen. Ich hätte eben, aus
Eitelkeit, gerne an einer Universität Kommunikation unterrichtet und
deshalb, als die Zusage gekommen sei, alle Warnlichter ignoriert,
weil ich sie habe ignorieren wollen.
Die
Schülerin lacht und sagt, sie fühlten sich alle hereingelegt. Sie
hätten alle gedacht, sie kämen an eine Universität, nicht in eine
Art Erziehungsanstalt.
George
hat genug, er will weg. Er ist bereits seit zwei Jahren hier (es ist
rar, dass jemand seinen Jahresvertrag verlängert), bis vor kurzem
hat es ihm gefallen. Doch dann sind plötzlich Angestellte des
Academic Affairs’ Office in seinem Unterricht aufgetaucht und haben
die Anwesenheitslisten überprüft. Aus einer Laune raus, weil sie
nichts Besseres zu tun hatten, wie George meint.
Natürlich
irrt er sich, hier tut niemand was aus einer Laune raus, hier hat
jeder Vorgang System. Er verstehe eben nicht, hätten ihm seine
Studenten gesagt, erzählt George. Sie hätten recht, er verstehe in
der Tat nicht. Und was überhaupt?
Er
muss irgendeine dieser unsichtbaren Grenzen überschritten haben,
jetzt muss er dafür zahlen, wird er schikaniert. Man munkelt, er
treibe es mit Studenten. Vielleicht hat sich einer von ihnen
beschwert.
Bei
Stuart ist an der Wand über dem Schreibtisch der Schulkalender
festgemacht, er hat darauf die Tage durchgestrichen, die er bereits
hier ist. Ich mache dasselbe auf meinem Kalender. Diese Praxis kenne
ich sonst nur aus der Zeit als ich Schüler war und aus Filmen über
das Leben im Gefängnis.
Die
meiste Zeit habe ich das Gefühl, mich ganz gut im Griff zu haben.
Doch als ich vorgestern Yonalkis in Havanna anrief, habe ich ganz
unvermutet – ich hatte mir doch so vorgenommen, mich zusammen zu
nehmen – von Gefängnis, und Albtraum, und überall sei Polizei,
gesprochen und dabei brach mir fast die Stimme. Ich hab’s zuerst
gar nicht gemerkt, habe nur bemerkt, dass ich wild drauflos redete,
bis Yonalkis sagte, ich hör’s an deiner Stimme. Und dann fügte
sie noch hinzu, sie habe immer ein schlechtes Gefühl gehabt, habe
mir das auch damals, in Bellinzona noch, gesagt. Ich erwidere, ja,
ja, doch ich erinnere mich nicht, nur, dass sie jetzt schon zum
zweiten Mal darauf hinweist und ich mir vornehme, in Zukunft mehr auf
meine Frau zu hören..
Jeweils
am Samstag fahre ich mit Mister Tu, einem chinesischen
Englischlehrer, auf dem Motorrrad durch die Gegend. Wir fahren jedes
Mal woanders hin. Einige der Orte, die wir besuchen, kennt auch
Mister Tu, der aus der Gegend stammt, nicht. Wir fühlen uns in der
Zeit zurückversetzt und staunen ob der manchmal ganz eigenartigen
Architektur (ich erinnere speziell einen Ort, in dem ganz viele, ganz
schlanke und hohe Gebäude zu sehen waren, obwohl da eigentlich viel
Platz war) und den zum Teil sehr primitiven Verhältnissen. Doch auch
die Dorfbewohner staunen; die Kinder rennen heran, um den Fremdling
zu sehen.
Wir
reden viel auf diesen mehrstündigen Fahrten, die uns bis zu vierzig,
fünfzig Kilometer weit in die Berge und Hügel der Umgebung führen.
Jetzt, wo das Ende meines Aufenthaltes naht, will Mister Tu wissen,
was mir zuallererst durch den Kopf gehe, wenn ich an China denke und
gibt sich gleich selber die Antwort. Das Lügen und Betrügen? Ich
will höflich sein, will es aber auch nicht, denn mir ist die
Energie, mich dauernd zu verstellen und nett sein zu müssen,
abhanden gekommen. Natürlich, fange ich an, werde in allen Kulturen
gelogen und betrogen, doch das Ausmass hier sei mir neu gewesen. Doch
das alles überlagernde Gefühl sei die fast vollkommene Absenz von
Spass und Freude, sei dieser ständige Kampf und Krampf, diese
Verbissenheit mit der, zum Beispiel im Verkehr, um jeden Millimeter
gekämpft werde.
Selbstverständlich
sage ich dann auch noch ein paar nette Sachen, denn dass es in diesem
Lande Bewundernswertes gibt, versteht sich von selbst. Die zum
Bersten vollbepackten Lastwagen und Motorräder, zum Beispiel, die
einen Sinn für Ausgewogenheit und Balance verraten, der einen
staunen lässt.
Doch
ich mag nicht ausgewogen sein.
Ich
habe genug davon, dem Regime der Heuchelei zu gehorchen. Genug davon,
keine Gefühle zu zeigen. Genug davon, freudlos dahin zu leben und
darauf zu warten, dass endlich Schulschluss ist.
In
den letzten Schulwochen geben sich die Schüler, die während des
ganzen Semesters gelangweilt, aufsässig und störrisch gewesen sind,
dermassen freundlich, nett und zuvorkommend, dass schon fast
beleidigend offensichtlich ist, dass sie auf Anweisung von oben
handeln. Die Schlussprüfungen finden bald statt und ich soll milde
gestimmt werden. Auch steht meine Abreise kurz bevor und da sollen
allfällige Wogen zuvor noch geglättet werden.
Ich
bin schon zu lange hier, als dass ich darauf noch hereinfallen würde.
Doch ich habe auch zu viel Angst, um das Spiel nicht mitzuspielen.