Wednesday, 18 June 2025

Hiroshima

Den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki waren flächendeckende Brandbombenangriffe auf Tokio vorangegangen. "Bei den etwas mehr als fünf Monate dauernden Bombardements kamen nach offiziellen Statistiken insgesamt 269 187 Menschen ums Leben." Und dies obwohl die vorherrschende Meinung der amerikanischen Luftstreitkräfte in Sachen Flächenbombardement von Städten weder als moralisch vertretbar, noch als strategisch sinnvoll angesehen wurde. Wie kam es also 1945 zu einer solchen Radikalisierung der Kriegsstrategie? Und wie kam es zu den fragwürdigen moralischen Relativierungen, die darauf abzielten einen rücksichtslosen totalen Krieg zu rechtfertigen?

Natürlich kann man das letztlich nicht wissen, doch man kann wohlbegründete Vermutungen anstellen. Und genau dies tut Richard Overy, detailreich und differenziert. Einfache Erklärungen gibt es nicht, stellt er fest; die Kehrtwende, die sowohl zu den Flächenbombardements und zu den Abwürfen der Atombomben geführt haben, hat vielfältige Ursachen, nicht zuletzt der Druck, Resultate zu liefern, unter dem die Luftstreitkräfte standen.

"Der am häufigsten angeführte Grund für dieses Verhalten war der Ehrgeiz der Army Air Force, einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über Japan zu leisten, um mit den Anstrengungen der US Army in Südostasien und der US Navy im gesamten Pazifikraum mithalten zu können." Dazu kam die Rache an dem Feind. 

Da Rache nicht zu den edlen Gefühlen gerechnet wird, musste ein anderer Grund her, einer, der die Japaner abwertete und entmenschlichte. Sie wurden kollektiv wie Tiere angesehen, als Affen, Ungeziefer oder Insekten. Der Autor zitiert amerikanische Generale mit Worten, die (wie immer) mehr über sie selber, als über ihre Feinde aussagen. 

Die zweijährige Seeblockade der US Navy hatte Japan von den lebenswichtigen Rohstoff- und Öllieferungen abgeschnitten, die Zerstörungen und sozialen Umbrüche, die von den konventionellen Bombenangriffen verursacht wurden, führten jedoch nicht zur Kapitulation.

Niemals hätte man Tokio mit Bodentruppen angegriffen, das Risiko verwundet oder getötet zu werden, war viel zu gross. Geduld hatte man auch nicht. Und so entschied man sich, zu tun, was man heute noch tut: Grösstmöglichen Schaden anrichten, ohne dabei selber Schaden zu nehmen. Das funktioniert am ehesten, wenn man den Feind nicht mehr als Menschen wahrnimmt

 Richard Overy schildert aufwühlend, was  Bombenexplosion auf dem Boden anrichteten. Ein Feuersturm raffte alles hinweg, 92 Prozent der Gebäude der Stadt waren zerstört. "Die Verletzten und Toten konnten nicht fortgebracht werden, da es an Zügen und Fahrzeugen fehlte." Viele der Überlebenden machten nach Kriegsende die Erfahrung, dass sie ausgegrenzt wurden, denn die wenigsten wollten an den Krieg erinnert werden. Hiroshima zeigt auch eindrücklich, wie unterschiedlich in Japan und Amerika mit dem Abwurf der Atombombe umgegangen wurde.

"Die Entrüstung über den Überraschungsangriff auf Pearl Harbour beherrschte die Meinungen der Amerikaner über den japanischen Feind." Dass die Abwürfe der Atombomben eine Gräueltat war, wussten auch die Amerikaner, und so beeilte sich das amerikanische Militär, zu betonen, dass man Ziele angegriffen habe, die, in der Worten der Militärs, "ausreichend militärischer Natur waren, um nach den Regeln der zivilisierten Kriegsführung einen Angriff zu rechtfertigen." Unabhängige Berichterstattung wurde zensuriert, insbesondere über die Auswirkung der Strahlungen durfte nicht berichtet werden.

Hiroshima ist ein eindrückliches Werk, das uns vor allem vor Augen führt, dass der Mensch weder zivilisiert noch eine erfreuliche Spezies ist. Sein Talent zum Selbstbetrug ist sein grösstes. So behauptete Präsident Truman, der Abwurf der Atombombe über Hiroshima sei in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht erfolgt. Und: "Auf dem Stützpunkt segnete der Militärpfarrer die Crew vor dem Einsatz und bat Gott für sie um Kraft." !!! Man fasst es nicht, glaubte damals, so etwas sei nicht mehr möglich, doch der Mensch ist wie er ist, und solange er nicht ein anderer wird, wird sich niemals etwas ändern.

Überaus aufschlussreich (und desillusionierend) sind die juristischen Versuche, Bombenangriffe auf Zivilisten zu ächten. Definitionen, Interpretationen, Rechtfertigungen zuhauf. Die Haager Luftkriegsregeln, das Kriegsvölkerrecht, die Genfer Konventionen inklusive der Zusatzprotokolle – niemand hält sich dran. Die Hoffnung von Oppenheimer and anderen, "die Erfahrung einer einzigen Atombombenexplosion würde ausreichen, um eine Welt ohne Kriege zu schaffen", hat sich als Illusion erwiesen.

Richard Overy 
Hiroshima
Wie die Atombombe möglich wurde
Rowohlt Berlin 2025

Sunday, 15 June 2025

Schmutzige Geschäfte im Niemandsland

Was wirklich auf der Welt los ist, erfahren wir nicht aus öffentlichen Debatten über Migration oder Neutralität, sondern aus gelegentlichen Blicken hinter die Kulissen. Dabei wird auch deutlich, dass vieles durchaus bekannt ist bzw. sein könnte, auch wenn es selten im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht. Dies versucht Schmutzige Geschäfte im Niemandsland zu korrigieren.

Atossa Araxia Abrahamian beginnt Schmutzige Geschäfte im Niemandsland mit dem Versuch, Genf, die Stadt ihrer Kindheit, zu beschreiben. Neben der offenkundigen Internationalität ("Fast die Hälfte der Genfer Bevölkerung stammt ursprünglich nicht aus der Schweiz.") ist da noch etwas anderes im Gange. etwas Unsichtbares. Sie legt dar wie ihre "Heimatstadt Genf und ihre Nation, die Schweiz, durch die Menschen, Kriege und Gesetze, die sie prägten, das Fundament für die heutige Welt geprägt haben. Sie werden entdecken, wie das Schweizer Modell andere Staaten dazu inspirierte  ..". Die Gründe dafür sucht sie in der Geschichte. Es ist dies der allgemein gängige Ansatz, der leider das wirklich Wesentliche (Was ist es, dass die Schweiz zu einer so erfolgreichen Hehler-Nation hat werden lassen?) aussen vor lässt, auch wenn er durchaus Interessantes zu Tage fördert.

Dass diese kleine Stadt und dieses kleine Land, von dessen Territorium sechzig Prozent nicht bewohnbar sind, zu einem derart mächtigen Offshore-Finanzplatz werden konnten, verwundert und befremdet.

Die Schweizer sind ein ausgesprochen geschäftstüchtiges Volk. Die Autorin zitiert dazu Jean Ziegler: "Sie verkauften ihre Landsleute als Söldner an ausländische Regierungen." Ziegler sieht die Schweiz als Ermöglicher des Kapitalismus hinter den Kulissen. Ein Ausfluss des Calvinismus? Auf jeden Fall wird dieses Land von einem sehr speziellen Geist regiert, zu dem eine ziemlich einzigartige Heimlichtuerei sowie das Fehlen eines Unrechtbewusstseins gehört.

Atossa Araxia Abrahamian lebt heute in New York, beschreibt also aus der Distanz "die Macht über die 41 000 Quadratkilometer und darüber hinaus", die in der Mitte Europas liegt. Mit dem Söldnerwesen wurde die gesellschaftliche Stabilität (aufrührerischen jungen Männern verschaffte man einen Arbeitsplatz und hielt sie fern des Heimatlandes) geschaffen, die die Schweiz auch heute noch auszeichnet. Dazu kam der Nationalcharakter, der sich durch die Fähigkeit, Regeln aufzustellen und Gesetze zu erlassen (26 Staaten mit je eigener Verwaltung, Regierung, Parlament für verhältnismässig wenige Leute) von anderen Staaten unterscheidet.

Doch nicht nur von der Schweiz ist die Rede, sondern auch von Singapur, Luxemburg, La Réunion mit seiner Exportproduktionszone, den Offshore-Asyllagern auf Manus und Nauru, Boten und Spitzbergen. Ob dabei globale Unternehmen und Superreiche Regierungen austricksen, wie der Untertitel behauptet, finde ich jedoch fraglich; mein Eindruck ist, dass diese Exterritorialität, geschaffen mit juristischen Tricks, von den Regierenden durchaus gewollt ist.

"Kapitalisten, unentwegt auf der Jagd nach Profit, betrachten Offshore-Rechtsräume als ihr Niemandsland." Damit ist im wesentlichen umrissen, wovon dieses Werk handelt. An anderer Stelle formuliert die Autorin es so. "Wenn Regeln die Reichen begünstigen, brauchen die Reichen nicht gegen die Regeln zu verstossen."

Der Untertitel dieses Werkes, Wie globale Unternehmen und Superreiche unsere Regierungen austricksen, mag Verschwörungstheorien nahelegen, doch weit gefehlt. Wie kommt es eigentlich, dass es Zollfreigebiete gibt? Diese sind eine juristische Fiktion, denn Zollfreilager sind ausgedachte Orte mit ausgedachten Regeln. "Die juristische Person ist in den USA das am meisten verbreitete Beispiel einer Rechtsfiktion: Wir wissen, dass Unternehmen keine Personen sind, und doch geniessen sie im politischen Leben und vor Gerichte den Status einer 'Person'".

So recht eigentlich ist ganz vieles, was die globale Wirtschaft möglich macht, eine juristische Konstruktion, man könnte auch sagen, eine Anomalie. So unterstehen etwas Botschaften, Freihäfen, Steueroasen, Containerschiffe, arktische Archipele und tropische Stadtstaaten keiner nationalen Gerichtsbarkeit. "Allein in den Vereinigten Staaten gibt es 193 aktive 'Freihandelszonen', die von den Zollvorschriften befreit sind." Da all dies legal ist, müsste so recht eigentlich der Begriff Rechtsstaat eine Korrektur erfahren.

Schmutzige Geschäfte im Niemandsland ist eine detailreiche, gut geschriebene, mitunter etwas langfädige Aufklärung über ein eigentliches Paralleluniversum für Wohlhabende, eine juristische Fiktion sondergleichen, die auch deswegen möglich ist, weil sich selten jemand darüber Gedanken macht. Zum Aufschlussreichsten an diesem Werk gehören die Ausführungen zum Weltraumgesetz, das Atossa Araxia Abrahamian so kommentiert: "Das Ansinnen, die Gesetze der Menschen auf ein so weitläufiges, so unergründliches und so zeitloses Reich anzuwenden, ist so fruchtlos und egozentrisch, dass auch nur der Mensch darauf kommen konnte. Aber bei Gott, genau das haben wir getan."

Atossa Araxia Abrahamian
Schmutzige Geschäfte im Niemandsland
Wie globale Unternehmen und Superreiche
unsere Regierungen austricksen
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025

Wednesday, 11 June 2025

"Macht ein Foto!"

Eine Brasilianerin, die angeblich nicht einmal von ihrer Schwangerschaft wusste, hat vor einigen Jahren auf einem Flug von Neuseeland nach Chile ein Mädchen zur Welt gebracht. Hier ein  Zeitungsbericht aus dem Jahre 2007.

Die 37-jährige australische Ärztin Jenny Cook, die mit an Bord war, leistete Hilfe bei der Geburt eines Babys auf einem Überseeflug. Die Geburt über dem Pazifik sei besonders bemerkenswert, weil das Baby in einer komplizierten Steißlage mit den Füßen voran auf die Welt kam, schreibt der Daily Telegraph in Sydney am Sonntag.

In solchen Fällen entscheiden sich Ärzte meist für einen Kaiserschnitt. ,,Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde'', sagte die Ärztin der Zeitung. ,,Falls ich irgendwelche Schnitte hätte vornehmen müssen, hätten sie mir dann ein Plastikmesser in die Hand gedrückt?'' Die Ärztin aus Adelaide sei von der Fluggesellschaft LAN Chile mit einem Wechsel in die erste Klasse des Flugzeuges und einer Flasche Champagner belohnt worden. Das Kind habe den Namen Barbara erhalten.

Die Ärztin berichtete, sie habe das Baby in der Nähe der Toiletten mit Unterstützung der Kabinencrew und einer Erste-Hilfe-Ausrüstung auf die Welt gebracht. Die 26 Jahre alte Mutter namens Aline habe zuvor über Rückenschmerzen geklagt. Sie habe darauf beharrt, nicht schwanger zu sein, auch noch, als die Fruchtblase bereits geplatzt sei.

Danach sei alles ganz schnell gegangen, berichtete die Geburtshelferin der Zeitung: ,,Ich hab das Baby hochgehoben und seiner Mutter auf den Bauch gelegt. Die Stewardessen sagten: ,,Was sollen wir nun machen?'' und ich sagte: 'Macht ein Foto.'''

Die Geburt liege schon drei Wochen zurück, sei aber erst nach Rückkehr der Ärztin nach Australien bekannt geworden, schreibt die Zeitung. Auf ihrem Rückflug nach Australien sei Cook vom Piloten mit einem Kuss und einer Flasche Parfüm begrüßt worden. Die Brasilianerin habe ihr inzwischen eine E-Mail geschickt und berichtet, dass es ihr und der kleinen Barbara gut gehe.

Sunday, 8 June 2025

Cultural Markers

 

Uruguiana, Brazil, 25 Februaray 2025

It goes without saying that literally anything can serve as a cultural marker. In Brazil, one such marker I consider the artistry with which electricty is handled as the two pictures here illustrate.

Another is the cleanliness and the absence of it of public toilettes at busstations. In Rio Grande do Sul: The one of Santo Angelo that I most recently visited was in such a state that I immediately decided to forget my need to use it; The one in Santa Maria however was a model of cleanliness.

On the inside of my hotelroom in Santa Maria a note said: Atenção: Não colocar roupas para secar nas janelas (Attention: Do not use the windows to hang clothes to dry.) I was reminded of a similar note that I once encountered in Tapes: Por favor, não utilize a toalha de rosto ou de banho para limpar os sapátos (Please, do not use the face towels or the bath towels to clean your shoes). My inquiry revealed that this seemed to be a local custom.

One of the most indicative cultural markers is of course traffic. In Brazil, a zebra crossing is rarely respected, neither are speed limits. A former student of mine once told me that when in Canada, he waited  at a zebra crossing when a car stopped. He didn´t trust what he saw and so he continued to wait until quite some cars were standing in line. So  he finally decided to give it a try and ran quickly to the other side of the street.

My favourite Brazilian cultural markes is language. In Portuguese, for instance, you learn with the experience and not from it. Also, the most used expression is very probably pode ser (can be, could be, may be). To me, that means that nobody is really in charge. I find this a very realistic view of the world

Santo Angelo, Brazil, 26 February 2025

Wednesday, 4 June 2025

Übung in Gehorsam

Eine junge Frau, die mit ihren Altersgenossinnen, die sich, "sei es durch Heimtücke oder überragendes Geschick, ihren Platz im Leben und in ihren Wunschberufen gesichert" haben, wenig gemein hat und als Hilfskraft in einer Anwaltskanzlei arbeitet, wird von ihrem Bruder, der, von seiner Familie verlassen, alleine in einem nördlichen Land lebt, gebeten, sich während seiner geschäftlich bedingten Abwesenheiten um seinen Haushalt zu kümmern.

Sie sagt zu, während der ersten Tage gehen ihr Kindheitserinnerungen und Gedanken an ihre Zeit in der Anwaltskanzlei durch den Kopf. "Man könnte sagen, dass mein mangelndes Interesse am Inhalt meiner Tätigkeit ein Versagen der Fantasie, wenn nicht gar einen Akt der Feigheit darstellte." Angesichts der Tatsache, dass die Kanzlei einen multinationalen Öl- und Gaskonzern vertrat, könnte man es allerdings auch als Selbstschutz sehen.

Der Bruder fährt weg, sie findet zur Ruhe. Ihre Sinne beginnen sich nach aussen zu richten, aufs Gras, die Äste. "Es war verwirrend, so regelmässig im Wald umherzuwandern, die verblüffenden und unmöglichen Veränderungen von einem auf den anderen Tag abzustecken. Mir wurde schwindlig von all dem. Ich hatte das Gefühl, mich an etwas Vergessenes zu erinnern. Zum einen war das der Wind. Zum anderen die Stille ...". Ganz wunderbar, diese Wahrnehmung, die auch deutlich macht, dass die Sinne vor allem hilfreich sind, wenn sie, wie es in  ihnen angelegt ist, nach aussen gerichtet werden.

Die junge Frau spricht die Sprache der Gegend nicht. Obwohl sie sich Mühe gibt, und sprachlich talentiert ist, bleibt nichts hängen. Einkaufen kann sie zwar auch ohne zu reden, doch wie sie ihren Aufenthalt im Laden schildert, hat etwas Gespenstisches.

Sie denkt über das Leben von Kohlköpfen nach. Und über Grünkohl, Senfblätter und Knoblauch. "Ich war bemüht zu lernen, indem ich blieb, wo ich war." Ein Satz, bei dem zu verweilen sich lohnt, auch weil wohl die meisten unbewusst davon ausgehen, wer etwas lernen wolle, müsse weggehen. Die junge Frau scheint ihrer Bestimmung zu folgen. "Es war, als wäre ich angetrieben von einer äusseren Kraft, die mein Tun lenkte ...".

Sie erkundet die Gegend, und erlebt den Argwohn, den man Neuankömmlingen generell entgegenbringt in ihrem eigenen Fall als besonders zielgerichtet. "Ich kehrte von diesen Ausflügen erschöpft zurück, als hätte mich das Land, dem meine Anwesenheit bis dahin in jeder Beziehung gleichgültig gewesen war, schliesslich voller Unwillen bemerkt und arbeitete nun an meiner Vertreibung."

Die junge Frau war ihr Leben lang eine Aussenseiterin gewesen, "irgendetwas in meinem Blut vermittelte mir dieses Gefühl, und irgendetwas darin vermittelte auch anderen dieses Gefühl, dass ich irgendwie merkwürdig war, fremd, nicht vertrauenswürdig." Es gelte, notiert sie einmal, ihre aussergewöhnliche Überheblichkeit und Selbstliebe zu beugen. Auf mich wirkt sie jedoch überhaupt nicht so, auf mich wirkt sie, als ob sie ganz einfach ihren vorgegeben Weg geht, zu dem auch gehört, dass sie sich nicht unterordnen kann/mag/will.

Übung in Gehorsam kreist um eine Grundsatzfrage, die Frage der Zugehörigkeit, und ob diese ein Ort sein kann. Haben wir unser Schicksal in der Hand oder ist alles eine Frage der Vererbung? Gute Fragen zeichnen sich dadurch aus, dass man sie schwer beantworten kann. Doch darum geht es nicht, es geht um die Auseinandersetzung, und die vorliegende ist so hoch differenziert, dass es eine wahre Freude ist.

 Was dieses Buch auszeichnet, ist das eigenständige Denken der Autorin, "Wie unausweichlich waren einmal beschrittene Wege! Aber wenn etwas geschehen konnte, und ja auch ständig geschah, folgte daraus nicht, dass genauso gut gar nichts geschehen konnte. Womöglich entwickelte man in späteren Jahren die Fähigkeit scharf zu bremsen, schliesslich stehenzubleiben und sich auf den Weg zu setzen, müde war man geworden, die Füsse waren wund, die Stiefel durchgescheuert." Soviel Hellsichtigkeit wünscht man auch anderen Romanen, denn obwohl ganz vieles vorgezeichnet scheint, die Möglichkeit, scharf zu bremsen gibt es ebenso, sofern man sie ins Bewusstsein lässt – und handelt.

Übung in Gehorsam ist ein sehr dichter, vielfältig anregender, philosophischer Roman, der unter anderem fragt, ob man weiterleben darf, weil man zufällig nicht umgebracht wurde und entkommen konnte. Um die Schlussfolgerung der jungen Frau wirklich schätzen zu können, sollte man sich mit diesem Buch auseinandersetzen.

Sarah Bernstein
Übung in Gehorsam
Roman
Wagenbach, Berlin 2025

Sunday, 1 June 2025

Kreuzberg die Welt

Als ich vor nunmehr 25 Jahren begann, mich ernsthaft mit Fotografie auseinanderzusetzen, galt mein Interesse der Presse- sowie der Dokumentarfotografie. Blättere ich jetzt durch Kreuzberg die Welt mache ich in zweifacher Hinsicht eine Zeitreise. In ein Kreuzberg, das es so nicht mehr gibt und in eine Zeit, in der Fotografien wie die von Wolfgang Krolow zu denen gehörten, die damals meine Welt waren.

Eingeleitet wird dieser Band durch ein informatives Porträt des Fotografen und Menschen Wolfgang Krolow durch Rainer Wendling, der dessen Momentaufnahmen überaus treffend als "gestaltete" Fotografie charakterisiert. Bedauerlicherweise hat er seinem Beitrag ein Zitat vorangestellt, in dem unter anderem behauptet wird: "Nichts ist, wie es scheint ...". Nun ja, das Wesen der Fotografie ist der Schein.

Die Fotografien von Wolfgang Krolow dokumentieren ein buntes Nebeneinander, das für diejenigen, die ein Auge und ein Herz dafür haben, immer schon faszinierend gewesen ist. Es sind Schwarz/Weiss-Aufnahmen, die mich ungemein ansprechen, was wesentlich damit zu tun hat, dass Wolfgang Krolow ein ziemlich einzigartiger Sinn für Komposition eignet.

In diesen Bildern manifestiert sich ganz vieles: Sozialkritik, die sich in der Sujet-Wahl zeigt (Häuserbesetzungen, Gedenkdemonstrationen ...), die Lebensfreude spielender Kinder, Punks, Strassenkünstler, Häuserfassaden, verlassene Plätze, alte Menschen, und und und. Allein die Anordnung der Bilder ist ein Meisterwerk. Da hat einer hingeschaut, ganz viel gesehen und festgehalten, was er teilen wollte. Wir sehen Kreuzberg mit den Augen (und durch die Linse) von Wolfgang Krolow. Das heisst nicht, dass wir sehen, was er gesehen hat, das heisst, dass wir vor Augen haben, was er uns zeigen wollte.

Was mir fehlt, sind Informationen zu den Bildern, ausführliche Informationen, nicht nur Stichworte wie Polizeiaufmarsch oder Demo gegen Nato, Aufrüstung und Raketenstationierung. Das ist zwar gängige Praxis bei Fotobüchern, aber eben gänzlich unbefriedigend. Mir einfach Bilder vor die Nase zu werfen und zu behaupten, diese sprächen für sich selber, finde ich etwas billig. Natürlich trifft dies nicht auf alle Bilder in diesem beeindruckenden Band zu, denn spielende Kinder oder Aufnahmen, die aus rein ästhetischen Gründen gemacht wurden, brauchen wirklich nicht erklärt zu werden. Die Aufnahmen von besetzten Häusern oder von Polizeieinsätzen gehören hingegen kontextualisiert, Bild für Bild braucht es erläuternden Text, der sich an den journalistischen Ws orientiert (Wer, Was, Wo, Wann, Wie).

Der mich am meisten ansprechende Text (es gibt insgesamt vier) stammt von Mustafa Akça, der Bezug auf einzelne Bilder nimmt und auch ausführt, was emotional mit ihm passiert, wenn er diese Aufnahmen anschaut. Dabei haben es ihm vor allem die Kinder angetan; mir selber ging es ebenso. Doch auch die Fotos einzelner alter Menschen, die ein Verloren-Sein in dieser Welt ausstrahlten, berührten mich sehr.

Im Beitrag von Sebastian Lux wird Wolfgang Krolow mit der Aussage zitiert, es sei sein "erklärtes Ziel" gewesen, mit seiner Fotografie "Widerstandskultur zu fördern"., was er so erläutert: "Für mich waren das einfach interessante Motive, die aber gleichzeitig auch etwas beitragen sollten zur Veränderung." Wir das konkret geschehen soll, erschliesst sich mir zwar nicht, denn Fotos tun nichts anderes (können nichts anderes tun) als Festhalten, was einmal gewesen ist. Dazu kommt, dass niemand wirklich weiss, was Fotos auslösen, auch deshalb haben die Militärs Angst vor Bildern toter Soldaten.

Es versteht sich: Wer mit Kreuzberg vertraut ist, wird diese Fotos anders sehen als ich, ein Schweizer, der schon viele Jahre nicht mehr dort war. Und wer mit Wolfgang Krolows Kreuzberg vertraut ist, wird diese Fotos gerade noch einmal anders sehen. Mich selber stimmten nicht wenige der Aufnahmen melancholisch (was ich als positiv empfinde), für mich sind sie (nein, nicht alle, natürlich nicht, die Mehrzahl sind eindeutig einem politisch aufklärerischen Drang geschuldet) die berührenden und überzeugenden Werke eines Romantikers (und auch das meine ich positiv), mit einem ganz wunderbaren Sinn für Situationskomik und Ästhetik.

Kreuzberg die Welt
Fotografien von Wolfgang Krolow
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2025

Wednesday, 28 May 2025

Bibel. 100 Seiten

Zuallererst: Die Bibel, das sogenannte Buch der Bücher, ist so recht eigentlich gar kein Buch, "sondern eine Schriftensammlung, von der unterschiedliche Teile in unterschiedlichen Jahrhunderten und sehr unterschiedlichen sozialen Milieus überliefert sind." Um 100 nach Christus enthielt der christliche Kanon vier verschiedene Versionen der Jesusgeschichte: die Evangelien des Matthäus, des Markus, des Lukas und des Johannes. Es gab zwar noch mehr Evangelien, darunter das Thomasevangelium, doch die wurden redaktionell aussortiert. Obwohl der Plot in allen vier Evangelien derselbe ist (Geburt, Leben, Reden, Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth), differierten die Sichtweisen beträchtlich. "Man wollte die Vielfalt der Zeugnisse erhalten und damit jeglichem Fundamentalismus Einhalt gebieten", so Johanna Haberer. Vielleicht wusste man aber schlicht nicht, wer der Wahrheit am nächsten kam.

Die Kulturen des Abendlandes gründen auf dem Christentum, also der Bibel. "Wir können wesentliche Züge der westlichen Kultur nur verstehen und entschlüsseln, wenn wir die Schriften der Bibel kennen", behauptet die Autorin. Dass eine Theologieprofessorin so argumentiert, verwundert nicht, doch die westliche Kultur versteht man meines Erachtens dann am besten, wenn man sich ganz einfach ansieht, was sie vorlebt – und das scheint mir wenig christlich, man denke etwa an: Du sollst nicht lügen. So wählten etwa in Amerika viele sich christlich Wähnende einen notorischen Lügner zu ihrem Präsidenten.

Nichtsdestotrotz: Die Bibel hat unser Menschenbild geprägt. Das biblische Menschenbild begreift den Menschen als mit der Gabe ausgestattet, sich frei entscheiden zu können, sowie Entscheidungen zu bereuen, zu revidieren, und sich neu ausrichten zu können. Ob wir wirklich so frei in unseren Entscheiden sind, wage ich allerdings zu bezweifeln.

Gut gelungen ist die Auseinandersetzung mit der Frage "Wer oder was ist Gott'", wobei, neben der Geschichte von Mose und dem brennenden Dornbusch in der Wüste, auch Gedanken von Ludwig Wittgenstein und Max Frisch beigezogen werden. Hier nur soviel: Es ist eindeutig einfacher, zu sagen, wer oder was Gott nicht ist.

Es spricht sehr für dieses Buch, dass es durchgehend auf die verschiedenen Lesarten der Bibel aufmerksam macht, Dass etwa der Turmbau zu Babel dergestalt interpretiert wird, "als fürchte Gott sich vor seinem eigenen Geschöpf und dessen technischem Fortschritt", charakterisiert Johanna Haberer als speziell christliche Wahrnehmung. "In der jüdischen Auslegung fehlt dieses Motiv, hier wird die Schuld der Babylonier vielmehr in der Unterdrückung der Individualität gesehen."

Obwohl katholisch aufgewachsen (Messdiener, Klosterschule), die Dreifaltigkeit bzw. den "Heiligen Geist" habe ich nie begriffen. Laut Frau Professor Haberer handelt es sich dabei "um eine Kraft, die lebendig macht, als eine unerklärliche Magie des Lebens." Eine sehr eigenwillige Auslegung, wie ich finde, auch wenn sie mir gefällt. Wir alle kennen solche magischen Momente, in denen etwa ein Funke überspringt, etwas geschieht das stimmig und doch nicht wirklich fassbar ist. Irritierend fand ich jedoch, dass die Autorin Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau als einen solchen Moment begreift. Für mich war das nichts anderes als eine Inszenierung für die Kameras.

Die jüdisch-christliche Kultur stellt sich auf die Seite der Armen, der Entrechteten, ohne allerdings den Reichtum a priori zu verurteilen. Das ist ein ziemlicher Spagat, bei dem die Benachteiligten meist das Nachsehen haben. Ja, so recht eigentlich ist vieles Christliche in der modernen Welt kaum mehr präsent. "Soziale Beziehungen werden ausschliesslich in den Kategorien des Handels bewertet, und nur wer gibt, hat das Recht, auch etwas zu erhalten." Unchristlicher geht es eigentlich nicht. Doch genau diese Galtung prägt ganz speziell das heutige, von Christen geprägte, Amerika

Bibel. 100 Seiten ist ein überaus lehrreiches Werk, das allerdings nicht einlöst, was ich mir versprochen bzw. erhofft hatte: Klarheit über die Entstehung, die Gliederung, die wesentlichsten Aussagen der Bibel.  Stattdessen macht es unter vielem Anderen (die Propheten. die Gottesknechte, Adam und Eva etc.) auf den Verlust der religiösen Sprache aufmerksam. Wörter wie Trost sind heutzutage kaum mehr in Gebrauch. "Mitleid, Barmherzigkeit oder Vergebung zu erfahren gilt als demütigend, und ein 'barmherziger Mensch' kommt in unserer Alltagssprache praktisch nicht mehr vor." Oder man nehme das Wort "Gnade". Die Weisheit "Gnade vor Recht ergehen" ist dem sogenannten Rechtsstaat, in dem das Recht des Stärkeren dem Recht des Schlaueren weichen musste, nachgerade wesensfremd. Ob Barmherzigkeit als ausschliesslich herablassend aufgefasst werden muss, wie das die Autorin tut, bezweifle ich allerdings. Für mich ist es schlicht ein anderes Wort für Empathie. 

Johanna Haberer begreift Christsein als "stets den eigenen Standpunkt reflektieren, beweglich, informiert und (selbst)kritisch zu bleiben." Auf-dem-Weg-Sein. Die jüdisch-christliche Religion und Kultur ist nomadisch geprägt. "Bis heute leben die Beduinen, Nachfahren jener nomadischen Völker des alten Israel, in Wellblechhütten an den Grenzen der Städte und Dörfer und weigern sich, feste Siedlungen zu bauen. Der Aufbruch als Lebensaufgabe ...". Es sind solche Erkenntnisse, die mich sowohl die Bibel als auch das Christentum anders und neu sehen lässt.

Johanna Haberer
Bibel. 100 Seiten
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 25 May 2025

Dan Yack

Beim Einstieg in diesen Roman wähnt man sich in einem Film, so bildmächtig weiss Blaise Cendrars die turbulente Szenerie zu schildern. Und dann die Sprache (grosses Kompliment an den Übersetzer Jürgen Schroeder!), die einen geradezu mitreisst und die Welt immer mal wieder neu sehen lässt. ("Die Wolken eilen herzu ...").

Dan Yack, ein berühmter Millionär und Lebemann, wird von seiner Geliebten Hedwiga verlassen, und entschliesst sich zu einem Neuanfang, "irgendwo zwischen der Ferse Neuseelands und dem Südpol." Nicht alleine, sondern zusammen mit einem Dichter, einem Bildhauer und einem Musiker, die er in einer Kneipe aufgegabelt und mit viel Geld geködert hat.

Der Kapitän ist gereizt, das Schiff kämpft gegen heftige Winde. Dann geht der erste Blitz über der Insel nieder. Ein Blizzard. Ein Schneesturm. Der Winter. Blaise Cendrars schildert das überaus eindrücklich, kraftvoll, mit grosser Intensität. Ihm muss, so stelle ich mir vor, ein vulkanisches Temperament eigen gewesen sein!

Der Dichter ist dick geworden, er grübelt, wird gepackt von einer Störung, die ihn ständig Rückblenden in die Vergangenheit provozieren lässt. Zwanghaft. Es ist schwer, dagegen anzukämpfen. Es ist ein Phänomen, das in langen Polarnächten häufig vorkommt und einen Bakteriologen genauso befallen kann wie einen Seemann.

Der Bildhauer verliert sich "in eine verworrene Träumerei von Zukunft, Menschenliebe und Lebensfreude." Und er studiert Dan Yack, mit der Folge, dass er unbewusst dessen Einfluss erlieg und sich, wenn er ausgeht, mit grösster Sorgfalt kleidet.

Die Perspektive von Bari, dem Hund, ist noch einmal eine andere. Er ist traurig, die Überfahrt war ein Alptraum, er träumt von den Verhältnissen in England. Dann findet er raus, dass der Musiker nach Hündin riecht. Der Dichter meint: "Ich persönlich bin überzeugt, dass der Hund ein Vermittler ist zwischen den anderen Tieren und den Menschen, eine Art niederer Engel, wie es die höheren Engel gibt, die Vermittler zwischen den Menschen und Gott, aufmerksame Wächter des Gebets, die Paradieshunde."

Und Dan Yack, wie geht es ihm? Zu den drei Nöten, die ihn beschäftigen, gehört auch die Angst um sein Monokel. Doch er muss auch lachen über die verrückte Gegend, wo im Sommer Winter ist und an Weihnachten die grösste Hitze herrscht. Als sie schliesslich in Port Deception landen und er die vollkommen öde Insel erkundet, muss er ständig an Hedwiga denken, die er einfach nicht aus Kopf und Herz bringt.

Mit Hilfe von fähigen Leuten baut er eine Fabrik auf, sendet Flotten aus zum Walfang, und macht sich an die Herstellung von Walfleischkonserven. Ein Kasino kam hinzu, er verdiente Geld,, und er hatte wieder angefangen zu lieben. Und: "Er trank. Er trank. Mochte alles zum Teufel gehen!"

Soviel zum ersten Buch, Le Plan de l'Aiguille, das zweite heisst Die Bekenntnisse Dan Yacks, das sich durch dieselbe Intensität auszeichnet. Dan Yack, der früher Grammophone liebte, lebt jetzt in Le Plan de l'Aiguille, und ist besessen vom Diktaphon, in das dieses zweite Buch gesprochen wurde. Der Text handelt hauptsächlich von Mireille, seiner Tochter, die tot ist. "Sie gab nicht gern Geld aus. Im Unterschied zu mir, der ich ihr Autos und Kleider kaufte und immer den neusten Schmuck. Aber sie mochte keinen Schmuck, sie mochte nichts als Blumen, wie meine Mutter." Können wir unserem Schicksal eigentlich entkommen?

Rückblicke auf der Ersten Weltkrieg ("Auch an der Front folgte ich meinem Instinkt, wenn ich die ganze Nacht durch diesen Wahnsinn irrte. Bizarre Kakophonie! Ich hörte den Tod delirieren. Eine anonyme Maschinerien,") wechseln sich ab mit dem Leben in Paris. "Was soll ich in Paris? Nicht mehr trinken, keine Frauen mehr, nein, kein Alkohol." Ob es ihm gelingen wird?

Wie das erste, so handelt auch das zweite Buch von Liebe, und Leid. Dan Yack ersäuft seinen Schmerz und wirft sich gleichzeitig in die Arbeit. Dabei geht es überaus turbulent zu und her; der Autor sprüht vor Fantasie und Sprachlust – und es sind diese, die diesen Roman ausmachen.

Blaise Cendrars
Dan Yack
Roman
Atlantis, Zürich 2025

Wednesday, 21 May 2025

1000 Sprachen - 1000 Welten

Zu den Fragen, die auch ausserhalb der Linguistik grosse Aufmerksamkeit geniessen, gehört, ob die Eskimos, wie einst in der New York Times behauptet wurde, wirklich über 70 Wörter für Schnee verfügten. Tun sie nicht, das ist widerlegt, was viele natürlich nicht hindert, diese Mär auch weiterhin zu verbreiten, denn, so der Linguist Geoff Pullum, wenn der Mensch sich einmal entschieden hat, etwas plausibel zu finden, ist er nur schwer wieder davon abzubringen. Was bei dieser Debatte jedoch übersehen wurde, meint Caleb Everett: "Sprachen spiegeln in der Regel die Umgebung wider, in der sie sich entwickeln."

Dieses Buch "soll einige besonders interessante Forschungsschwerpunkte von Psychologen, Linguisten, Anthropologen und anderen Forschern vorstellen, die unser Verständnis der menschlichen Sprache und des damit zusammenhängenden Denkens und Verhaltens formen." Caleb Everett tritt damit in die Fussstapfen seines Vaters, Daniel Everett, der aufgrund seiner Forschungen im brasilianischen Amazonasgebiet zur Auffassung kam, dass auch unser kultureller Lebensstil sich auf unser Denken auswirkt.

Vorauszuschicken ist dies: In der Linguistik gibt es die Anhänger/Vertreter sprachlicher Universalien, was meint, dass alle Sprachen der Welt grundlegende Merkmale teilen. Und dann gibt es die Relativisten, die davon ausgehen, dass die Sprache, die wir sprechen, unser Denken und unsere Wahrnehmung prägt. Ich selber tendiere zu den Universalien, Caleb Everett zum Sprachrelativismus. Doch wie so viele Rätsel, die wir mittels (erfundener) Fachdisziplinen zu beantworten suchen, liegen die Antworten, die wir finden (wollen), vermutlich in unserer Grundeinstellung: Die eher Schicksalsgläubigen werden vermutlich zum Universalismus neigen, diejenigen, die glauben, es liege an ihnen bzw. in ihrer Verantwortung/Macht, wie sie leben wollen, ziehen womöglich den Relativismus vor.

Wer davon ausgeht, dass die Menschen weltweit sich nicht wesentlich unterscheiden (sollen), wird den Universalien den Vorzug geben, wer eher an die Unterschiede glaubt, wird diese Unterschiede auch finden. 1000 Sprachen - 1000 Welten ist überaus reich an Beispielen ferner Populationen, die andere Vorstellungen vom Leben haben als der in Städten ansässige, moderne Mensch. Das ist interessant und anregend, doch ist es auch relevant bzw. macht es einen Unterschied in unserem Leben? Sicher, falls wir offen dafür sind, denn die Dinge neu bzw. anders zu sehen (das ist es, was die verschiedenen Sprachen uns zeigen), verändert die Perspektive und möglicherweise auch das Verhalten.

Da wäre einmal die Zeit, von der Caleb Everett ausgeht, dass es sie gibt. Die Rosebud Sioux in Süddakota glauben das nicht, dafür glauben sie an Geister. Doch dies nur am Rande. Verschiedene Völker drücken die Zeit verschieden aus, so Everett, aber erfahren sie sie auch anders? "Das soll nicht heissen, dass es keine universellen Komponenten in der Art und Weise gibt, wie Menschen Zeit erleben. Wir alle sind Homo sapiens mit Biorhythmen und der Fähigkeit, zeitliche Abläufe und natürliche Zyklen wie Tag und Nacht wahrzunehmen. Dennoch kann man immer klarer auf die sehr unterschiedlichen Arten und Weisen hinweisen, in denen Menschen Zeit begrifflich fassen und beschreiben." 

Und dann wäre da das räumliche Denken, von dem die Forscher zumeist annehmen, es sei "von Natur aus egozentrisch und anthropomorph geprägt" und erlaube uns deshalb, den Raum zu begreifen. Feldforscher kamen aufgrund von Studien, die mit indigenen Gruppen durchgeführt wurden, zum Schluss, dass  die Sprache "einen Einfluss auf das hat, was wir früher als tief verwurzelte, universelle Facetten der menschlichen Raumwahrnehmung betrachteten. Diese Behauptung ist nach wie vor umstritten, obwohl selbst Skeptiker inzwischen allgemein anerkennen, dass die Sprache eine gewisse Rolle bei der Gestaltung der räumlichen Standardstrategien der Menschen spielt."

Kennzeichnend für dieses Buch ist unter anderem, dass es vor eindeutigen Aussagen zurückschreckt. Das ist typisch für Akademiker, die sich damit vorbeugend gegen etwaige Einwände wappnen. "... haben wir einige indirekte Möglichkeiten gesehen, wie Umweltfaktoren möglicherweise die Sprache beeinflussen können." Auch zeigen die ehrerbietigen Zuschreibungen wie "Harvard-Anthropologe" oder "Harvard-Linguist" ein von Eitelkeit geprägtes Hierarchie-Denken, das ich zwar peinlich, doch auch aufschlussreich finde. 

Ganz besonders interessant ist das Kapitel "Wie wir Sätze wirklich konstruieren", worin der Autor unter anderem darauf hinweist, wie wesentlich das Verständnis von Redewendungen für das Erlernen einer Sprache ist. So ist etwa "Meinem Sohn gingen die Pferde durch" nur verständlich, wenn man die Bedeutung dieser Aussage kennt, da einfach die Worte zu übersetzen keinen Sinn ergibt. Gleiches gilt für "Ich stehe auf Sushi". Oder "Für etwas geradestehen."

1000 Sprachen - 1000 Welten vermittelt grundlegendes linguistisches Wissen. Das geht von "Einer der zentralen Grundsätze der modernen Linguistik ist, dass Sprache überwiegend willkürlich ist." zu "Tatsächlich bleibt die Frage in den Sprachwissenschaften weiterhin ein Rätsel, wie Kinder angesichts der Komplexität der Aufgabe überhaupt Sprache erwerben". Die Zusammenstellung neuerer Forschungsergebnisse, die in diesem Buch vorgenommen wird, liefert Hinweise auf Zusammenhänge, die nicht nur faszinieren, sondern auch überraschen.

Caleb Everett
1000 Sprachen - 1000 Welten
Wie sprachliche Vielfalt unser Menschsein prägt
Westend, Neu-Isenburg 2025

Sunday, 18 May 2025

Buildings for People and Plants


It is rare, very rare, that when glancing through a tome with pictures of architecture that I feel entranced by what my eyes are showing me. And, while this quite often happens when looking at images of nature, it is seldom the case when looking at man-made stuff. Needless to say, it is not only the architecture that fascinates me, it is also the presentation, the photographs, that is, that show me what the photographer has decided to frame, and thus to make me look at.

"We try to maintain a childlike sense of wonder, both in our design process and our finished projects.", I read in the introduction, and this sense of wonder can be also experienced when looking at these pics that were taken (for seven of the ten projects in the book) by Bruce Damonte. Another photographer that needs to be mentioned is Miguel de Guzmán. We do not look simply at truly fascinating architecture, we look at it through the eyes of these gifted photographers.

Transforming parking into a social experience with a vertical 
 stack of public spaces, including a gallery, play area, garden, 
and more © Imagen Subliminal

The essay Civics Lessons for an Uncertain Age by Nicolai Ouroussoff lets the reader/the viewer know that "under the colorful packaging, these projects are informed by a stubborn determination to reengage what is left of the public sphere." Not only a laudable but also a necessary endeavour. "Over time, as the architects became more established and the budgets got bigger, the geometries got more complex. Yet the interest in how public buildings can serve as places of common ground remains."

Come to think of it, it is pretty obvious that buildings do not stand alone. After all, everything is somehow connected. We all influence each other in ways we are hardly aware of. To emphasise the already exisiting connections and to establish new ones is the goal of the architects of WORKac. Contemplating what they have created gave me feelings of joy and lightness.

A vibrant hub for student life and a new campus entry © Bruce Damonte

There's also a conversation between Amale Andraos and Dan Wood, both cofounders of WORKac, and Heidi Zuckerman, "a globally recognized leader of contemporary art" (what would Americans do without superlatives, I wonder?), that is introduced by Zuckerman asking: "How does art inspire your practice and why do you think it matters?" I must admit that the answers by the architects I did not find very inspiring ("One learns to value life through art."), which isn't too surprising since, as one of the two points out, architects (bound by various constraints) and artists (very few constraints) work in very different way.

What I liked best about this conversation is Heidi Zuckerman's remark: "the more you look, the more you see.", that describes precisely my experience with this impressive tome that documents beautifully what the WORKac architects see as their mission: "We don't think of buildings as isolated objects, Rather, we enlist their power to frame, reexamine and reinvent relationships – between citizens and cities, public and private space, the individual and the collective, inside and outside, and people and plants."

An aesthetic pleasure of the first order!

WORKac
Buildings for People and Plants
Park Books, Zurich 2025

Wednesday, 14 May 2025

Peanuts. 100 Seiten

Ich bin Peanuts-Fan, habe mir während Jahren immer mal wieder einen dieser Comicstrips aus der Zeitung ausgeschnitten. Einige sind mir geblieben, kann ich frei zitieren (und tue es auch gelegentlich). Dazu kommt: Als ich vor Jahren angefangen habe, Portugiesisch zu lernen, haben mir die Peanuts-Comics dabei geholfen.

Wahrgenommen habe ich die Peanuts immer als lustig und streetwise, ernsthaft auseinandergesetzt habe ich mich nicht mit ihnen. Als ich jetzt auf dieses Zitat des Peanuts-Schöpfers Charles M. Schulz stosse: "Das grundlegende Thema der Peanuts war von Anfang an die Grausamkeit, die unter Kindern existiert." bin ich verblüfft und überrascht. Und werde ausgesprochen neugierig auf das, was Joachim Kalka, der Autor dieses Büchleins, noch alles auf Lager hat.

    Zu Snoopy notiert er: "Das Interessante an diesem Comic-Hund ist es, mit welcher Konsequenz er sich weigert, die klassische Rolle des Hundes zu erfüllen: die des Begleiters." Und Lucy, deren psychiatrische Praxis dazu dient, Charlie Brown auf seine Fehler aufmerksam zu machen, und findet, dass die  Psychiatrie eine exakte Wissenschaft ist, antwortet auf Charlie Browns "Eine exakte Wissenschaft?!, mit "Ja, du schuldest mir exakt einhundertdreiundvierzig Dollar!"

Joachim Kalka erläutert, ordnet ein und versteht klarzumachen, einleuchtend und nachvollziehbar, weshalb Charles M. Schulz macht, was er macht. Der Akzent liegt dabei auf: Wie mache ich es, dass ein Comicstrip gut funktioniert. Das ist auch Kalkas Domäne und so ist wenig erstaunlich, dass ich selber manchmal zu ganz anderen Schlüssen komme. Ein Beispiel: Linus ist abhängig von seiner Schmusedecke und will sie sich abgewöhnen. Als ihm das schlussendlich gelingt und er überglücklich ist, von seiner Sucht geheilt zu sein, gibt ihm Charlie Brown eine neue Decke. Kalka kommentiert: "Der Strip kann eben auf so ein zentrales Strukturelement nicht verzichten." Ich selber finde, dies zeige noch etwas ganz anders, nämlich, dass man von einer Sucht nicht so schnell loskommt. 

Wunderbar, worauf Joachim Kalka alles aufmerksam macht. "Snoopy beschliesst, Krieg und Frieden zu lesen: Jeden Tag ein einziges Wort."  Zu Snoopys Tagräumen gehört auch, dass er sich als Schriftsteller sieht. "Während ein Hemmnis für Snoopys Romanproduktion in seiner Einfallslosigkeit liegt, ist sein anderes das beschränkte Wissen." Das sind in der Tat nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein Schriftstellerleben!

Ganz besonders beeindruckt hat mich Kalkas Herausschälen von Grundlegendem. Einerseits, weil es mir Augenöffner angetan haben, andererseits, weil mir damit eine Perspektive eröffnet wird, die ich als bereichernd erlebe. So ist etwa Snoopy ständig mit Selbstinszenierungen beschäftigt, beschränkt sich Charles M. Schulz auf einige wenige Topoi, und lässt sich von den Jahreszeiten leiten. Keine Frage, das wird vermutlich den meisten auffallen, die sich mit den Peanuts auseinandersetzen, doch wer tut das schon und dann noch mit einem so guten Auge wie Joachim Kalka?

Ständig ist der Fernseher an; Lucy ist aggressiv, Charlie Brown ist es nicht. In seiner Unbeholfenheit, seinem ständigen Scheitern, zeigt sich auch, dass die Welt der Kinder oft das genaue Gegenteil einer Idylle ist. "Es ist gewiss die mit grosser Subtilität inszenierte Kinderperspektive, die den Strip so faszinierend macht: eine Welt von Wesen, welche in den Begrenzungen der Kindheit gefangen sind und sie gleichzeitig überwinden oder ignorieren."

Joachim Kalkas Blick auf die Peanuts lässt sie mich ungewohnt und neu sehen. Bravo!

Joachim Kalka
Peanuts. 100 Seiten
Reclam, Ditzingen 2025

Sunday, 11 May 2025

Russland gegen die Moderne

Es sei gleich voran geschickt: Dieses Buch wurde im Jahre 2022 verfasst, die englische Originalausgabe erschien 2023. Zudem: Dies ist ein akademisches Werk, operiert also mit Thesen und beschäftigt sich ausgiebig mit Definitionen. Für mich wurde die Lektüre immer dann spannend, wenn die Ausführungen konkret wurden. "Noch im Januar 2022 erachteten sowohl meine russischen als auch ukrainischen Freund:innen und Kolleg:innen die Wahrscheinlichkeit eines Einmarsches als verschwindend gering und allein den Gedanken als lachhaft," Auf die Idee, dass es daran liegend könnte, dass man Irrationale nicht rational erklären kann, kamen die Rationalen allerdings nicht. Nach wie vor huldigen sie der Vorstellung, was zur Zeit auf der Welt geschieht, sei rational erklär- und begreifbar. Das ist die Definition von irrational.

Zu den Begriffen, denen sich der Autor annimmt, gehört auch "die neue Moderne", die "zwischen dem Planeten und seinen Menschen ausgehandelt wurde". Ich kann mir viel vorstellen, doch ein solches Aushandeln dann eben doch nicht. Genauso wenig wie was eine Gaiamoderne sein könnte. Zu Gaia siehe  die Ausführungen von James Lovelock.

Akademiker zeichnet aus, Banales in Hochtrabendes zu verwandeln. "Moderne Nationen entwickeln sich in einem Balanceakt zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat." Und dass der Mensch ohne Vertrauen so ziemlich am Arsch wäre, weiss man auch ohne gescheite Leute wie Niklas Luhmann. Wie funktioniert aber ein Staat, dem die Bürger der Obrigkeit nicht trauen, da sie wissen, dass sie ständig angelogen werden, wie in Russland während Covid-19? "In einer ungleichen und anti-intellektuellen Gesellschaft jedoch glaubte niemand den Fachleuten, weder die Bevölkerung noch die Elite. In der Bevölkerung sah man sie als Teil der Elite und entzog ihnen das Vertrauen, und die tatsächliche Elite aus Managern und Staatsbeamten zählte sich nicht zu ihresgleichen und traute ihnen ebenfalls nicht."

Dass Russland, abhängig von Petrodollars und Gas-Euros, den Klimawandel leugnet, ist wenig überraschend. Wer sich die amerikanische "Who profits?"-Frage zu eigen macht, gelangt meist schnell zum Kern vieler politischer Probleme. Alexander Etkinds überaus detaillierte Ausführungen bringen  jedoch Verblüffendes ans Licht, das diesen Kern ganz neu beleuchtet. "Nur ein Prozent der russischen Bevölkerung war in der Ölindustrie tätig, und ein erheblich geringerer Anteil an Menschen profitierte davon. Dennoch erwirtschaftete die Branche weit mehr als die Hälfte des Staatshaushalts."

Höchst differenziert zeigt Alexander Etkind auf wie Russland an ganz unterschiedlichen Fronten (von der Homophobie zur Unterstützung rechtextremer Bewegungen, von systematischen Lügen zur Verbreitung von Korruption) gegen den Westen schiesst, mit dem Ziel das Vertrauen in den Staat zu unterminieren. Dabei macht er einem auch bewusst, dass die moralfreien Polit-Amateure im Weissen Haus gegen die moralfreien Polit-Profis im Kreml keine Chance haben.

Ob das russische Gebaren wirklich von strategischen Überlegungen geleitet wird, wie das Alexander Etkind und andere Akademiker insinuieren, da bin ich mir nicht so sicher, da ich davon ausgehe, dass der Mensch nicht wirklich weiss, was er tut. Andererseits versteigt sich der Autor nicht einfach in Theorien, sondern orientiert sich am Verhalten der Russen. Und dieses lässt seine Rückschlüsse in der Tat sehr plausibel erscheinen. Nur eben: Was uns einleuchtet, muss deswegen noch lange nicht so sein.

Was dieses Werk für mich lohnenswert macht, ist die ungeheurere Dichte an Informationen, die der Autor vorlegt. Ganz besonders aufschlussreich sind so Sätze wie: "Und die bei der Elite beliebten Banken – unter anderem Credit Suisse und Deutsche Bank – waren ebenfalls im Bilde.", machen sie doch deutlich, dass wenn es wirklich eine einheitliche Front gegen Russland gäbe, das Regime kaum überlebensfähig wäre.

Mir fehlt zwar der Wissenshintergrund, um dieses Werk angemessen würdigen zu können, doch die Vielzahl der Erkenntnisse, die mir dieses Werk vermittelt, sind echte Augenöffner. Einige will ich hier teilen: "Sämtliche Petrostaaten waren zutiefst ungleich." Putins Vorgesetzte beim KGB sahen als seine einzige Schwäche sein "vermindertes Gefahrempfinden". "Der Unterdrücker verübt seine Gräueltaten zwar frei von jeder Vernunft, erklärt sich aber eifrig. Nicht seinem Opfer gegenüber, aber für das Publikum zu Hause und im Ausland hält er Begründungen bereit."

Nun gut, einen Russland-Ignoranten wie mich zu beeindrucken, ist nicht allzu schwierig. Was natürlich auch damit zu tun hat, dass ich alle offiziellen russischen Verlautbarungen für Lügen halte, und allem, was man inoffiziell zu wissen glaubt, mit Skepsis begegnen. "Vor 2022 gab es in Russland 83 Milliardäre ("Forbes") und 269.000 Millionäre (Credit Suisse). Die tatsächliche Zahl der Reichen und Mächtigen im Land lag irgendwo dazwischen – wenige zehntausend. Über sie wissen wir nur sehr wenig." Wie Alexander Etkind auf diese wenigen zehntausend kommt, erläutert er nicht.

Mein Lieblingskapitel ist "Die unerträgliche Leichtigkeit westlicher Expert*innen". Was seit 2014 in der Ukraine geschieht, bezeichnet der Autor zutreffend mit Russisch-Ukrainischer Krieg. Die westlichen Einschätzungen sogenannt anerkannter Grössen sind aus heutiger Sicht überaus peinlich. Man sollte sich die einschlägigen Namen merken (unter ihnen Adam Tooze, Niall Ferguson, John Mearsheimer), auf dass man sich künftig an ihre Inkompetenz erinnere.

Russland gegen die Moderne ist ein beeindruckend informatives Werk. Alexander Etkind plädiert nicht nur für die Idee eines deföderierten Russlands, er sagt den Zerfall der Russischen Föderation voraus. 

Alexander Etkind
Russland gegen die Moderne
Eine "Spezialoperation" zur Unterdrückung der gesellschaftlichen Transformation
transcript Verlag, Bielefeld 2025

Wednesday, 7 May 2025

Bürokratopia

Mit der Bürokratie habe ich noch nie etwas Positives verbunden, ich halte sie, wie das der britische Anthropologe Nigel Barley einmal treffend auf den Punkt gebracht hat, für an end in itself. Allerdings merke ich bereits auf den ersten Seiten von Bürokratopia, dass ich mir dazu recht wenig Gedanken gemacht und offenbar Wesentliches nicht beachtet habe.

Da die Autorin Julia Borggräfe Juristin ist, muss ich gleich noch einmal über meinen Schatten springen, denn mit Juristen (ich habe selber ein Jurastudium absolviert), assoziiere ich so ziemlich gar nichts, das ich hilfreich finde. Im vorliegenden Fall habe ich mich jedoch insofern getäuscht, als mir dieses Buch bewusst macht, wie notwendig eine funktionierende Verwaltung für das Gelingen der Demokratie ist.

Dass die Verwaltung unser Leben weit mehr bestimmt als die Politik, ist mir schon lange klar. Jedenfalls theoretisch. Umso verblüffter bin ich jetzt, dass ich mir über die Funktionsweise der Verwaltung bislang noch nie wirklich nachgedacht habe. "Der Zusammenhang zwischen einem funktionierenden Staat und einer starken Demokratie hat sich bei den politischen Verantwortungsträger:innen noch nicht durchgesetzt – obwohl dieser mehr als offensichtlich ist." Man sieht gerade in den USA, was passiert, wenn die politisch Verantwortlichen keinen Schimmer davon haben, was Verantwortung bedeutet.

Die Verwaltung hat sich am Gemeinwohl zu orientieren. "Verwaltungsakte mögen für Einzelpersonen mitunter belastend sein, aber sie dienen der Aufrechterhaltung von Ordnung und Gerechtigkeit. Daraus, dass Verwaltungsentscheidungen auf Gesetzen basieren, die durch demokratische Prozesse legitimiert und durch das Rechtssystem überprüfbar sind, ergibt sich ihre Verbindlichkeit für alle Bürger:innen." Auch wenn ich das mit der Gerechtigkeit entschieden weniger idealistisch sehe, so bringt dies auf den Punkt, weshalb die Verwaltung so wesentlich ist: Sie vermittelt Stabilität. Und nichts ist den Menschen wichtiger.

Julia Borggräfe diagnostiziert einen Vertrauensverlust in den Staat und plädiert für Bildung, den "Rohstoff, aus dem individuelle und gesellschaftliche Zukunft gemacht wird." So nachvollziehbar ihre Forderung auch ist, besonders innovativ scheint mir dieser Ansatz nicht, auch deswegen nicht, weil die Charakterbildung in der Schule keinen Platz hat und das vermittelte Fachwissen nach Abschluss der Ausbildung oft obsolet geworden ist.

Studien werden angeführt, Beispiele aus anderen Ländern herangezogen. So funktioniert der Schulunterricht etwa in Finnland (kooperativ, von unten nach oben) ganz anders als in Deutschland (Top-down-Prinzip). Auch für die Digitalisierung macht sich Julia Borggräfe stark. Nun ja, wer sich einmal längere Zeit in Ländern, wo regelmässig der Strom ausfällt, aufgehalten hat, wird das womöglich etwas weniger positiv sehen.

Aufgestossen ist mir das Vokabular.  Ein Titel wie "Modernes Personalmanagement als Treiber von Verwaltungsinnovation" lässt mich automatisch aufstöhnen. "Employer Branding", "Work-Life-Balance", "Strategische Personalplanung und -entwicklung" etc. ist der übliche Beraterjargon. Ein Satz wie "In der heutigen dynamischen und komplexen Welt spielt Führung eine entscheidende Rolle für den Erfolg von Innovations- und Transformationsprozessen, gerade auch in der öffentlichen Verwaltung", finde ich schlicht unerträglich. Nichtssagender geht kaum.

Je mehr meine Lektüre voranschritt, desto öfter ging mir dieses Zitat von Robertson Davies (aus A Mixture of Frailties) durch den Kopf: His reply had that clarity, objectivity and reasonableness which is possible only to advisors who have completely missed the point. Der Punkt hier ist der Faktor Mensch, an dem dieses Werk völlig vorbeigeht. So wird zum Beispiel differenziert und einleuchtend ausgeführt, weshalb der Klimawandel zu den "wicked problems" und mittels strategischer Vorausschau angegangen gehört. Dabei wird jedoch vollkommen ausser Acht gelassen, dass für unser Hirn nur die nähere Zukunft, nicht aber die entferntere emotional (Verstehen ist ein Gefühl) begreifbar ist.

Bürokratopia ist detailliert, informativ, verständlich geschrieben; vor allem die Analyse lohnt. 

Julia Borggräfe
Bürokratopia
Wie Verwaltung die Demokratie retten kann
 Wagenbach, Berlin 2025      
                      

Sunday, 4 May 2025

Trees, Time, Architecture!

Diesem Band liegt die Ausstellung Trees, Time, Architecture im Architekturmuseum der Technischen Universität München zugrunde, jedoch vom Schema der Ausstellung hie und da abweicht. "Das Zusammenspiel verschiedener Genres – Lebensbericht, Werkschau, Fotodokumentation und wissenschaftliche Analyse, um nur einige zu nennen – und das Einbringen der Ich-Perspektive in dieses Buch sollen dazu beitragen, den Baum als Kulturwesen, als Haupt- und Leitfigur verschiedener Berufe und Wissenschaften zur Geltung zu bringen."

Wir leben in hektischen Zeiten, alles muss schnell gehen. Bäume machen da nicht mit, haben ihren eigenen Lebensrhythmus. Sie wachsen extrem langsam. "Sie sprengen die Massstäbe des menschlichen Lebens und ihre Zeit steht im Widerspruch zu einem sich ständig beschleunigenden, technologischen und ökologischen Wandel." Kein Wunder, ist unser Verhältnis zu ihnen ziemlich, nun ja, komplex. "Wir haben sie vergöttert, uns vor ihnen gefürchtet unsere Häuser aus ihnen gebaut, sie aus unseren Städten verbannt, Hochhäuser mit ihnen geschmückt und schon vor Jahrhunderten Tausende Quadratkilometer grosse Wälder vernichtet.", schreiben Ferdinand Ludwig und Kristina Pujkilovic in ihrem Beitrag "Baum, Zeit, Architektur!"

Von Architektur und Bauen verstehe ich nichts, weshalb ich dieses Werk auch nicht angemessen zu würdigen imstande bin. Und so beschränke ich mich auf das, was ich glaube beurteilen zu können (mit der dokumentarischen Fotografie habe ich mich eingehend beschäftigt): Die fotografische Reise durch die Xylella-Epidemie in Apulien, die Valentina Piccinni und Jean-Marc Caimi unternommen haben.

Sieben Jahre lang haben die beiden mit  Amerkennung und Preisen Überhäuften (ob dies eine Auszeichnung ist, sei einmal dahingestellt; meines Erachtens ist offizielle Anerkennung, wie James Agee in "Let Us Now Praise Famous Men" ausführte, ein fatales Missverständnis, ja, der Todeskuss.) die Schadwirkungen des bakteriellen Krankheitserregers "Xylella fastidiosa" dokumentiert. "Xylella bewirkt das Olive Quick Decline Syndrome, das befallene Bäume schnell absterben lässt und die gesamte Olivenwirtschaft in der Region gefährdet."

Es versteht sich: Bilder für sich genommen sagen uns in aller Regel nicht viel. Ein Bild kann uns nur dann mehr als tausend Worte sagen, wenn wir wissen, was wir vor Augen haben, denn, wie schon Goethe sagte: Wir können nur er-kennen, was wir kennen. Bilder brauchen also Worte bzw. erklärenden Text, um verstanden werden zu können. Nein, nicht alle Bilder, doch die dokumentarischen. 

Die Texte, die die ausgezeichneten Aufnahmen von Valentina Piccinni und Jean-Marc Caimi begleiten sind höchst informativ und umfassen so recht eigentlich alles Aspekte, die diese Bilder verständlich machen, ja mehr, ihnen eine potentielle Wirkmächtigkeit verleihen, die sie ohne diese Texte definitiv nicht hätten.

Das Projekt begann 2016. Der Schädling hatte sich in der Gegend um Gallipoli gerade festgesetzt und breitete sich, begünstigt durch Klimawandel und Pestizide, schnell aus. Die Olivenhaine lagen im Sterben, die Lebensgrundlage der Bauernfamilien war dabei zu verschwinden. Wie immer, wenn Menschen nicht verstehen, was vor sich geht, sind Verschwörungstheorien nicht weit. Hilfreicher ist hingegen (wie Valentina Piccinni und Jean-Marc Caimi zeigen) die wissenschaftliche Herangehensweise.

Was dieses Fotografenduo hier vorlegt, ist Dokumentarfotografie vom Feinsten. Eindrücklich demonstrieren sie nicht nur, was sie vorgefunden haben, sondern auch, wie sie bei ihrem Projekt vorgegangen sind, was für Mittel sie eingesetzt, was sie selber empfunden haben. Es ist diese Mischung, die ich persönlich überaus überzeugend finde, denn hier zählt der Prozess (sie wurden von den Leuten vor Ort in deren Leben aufgenommen) genauso wie das Resultat (die Bilder mit Text).

Andjelka Badnjar, Kristina Pujkilovic, Ferdinand Ludwig, Andres Lepik (Hrsg.)
Trees, Time, Architecture
Entwerfen im Wandel
Park Books, Zürich 2025

Wednesday, 30 April 2025

My Best Shots

Swiss photographer Rene Burri once said that his best shots only exist in his head. The same goes for me. Let me give you two. With the help of my words your mind will probably conjure up somewhat similar scenes.

The first one I did not take (for I had no camera at hand) was on a dirt road up in the mountains surrounding the Braziliean town of Santa Cruz do Sul. Ricardo, the owner of the school where I then taught, was slowly manoeuvring the van down a steep gravel road when all of a sudden an old woman carrying wooden branches on her hunched back appeared in the middle of the road. Without any haste she veered to the side, she didn't look up but concentrated on her path. To me, this was a scene from another century. How could she live up there? I wondered. Yet what stayed with me most was that she payed no attention to us, she was simply doing what she was doing and that was it.

The second shot I did not take was in Lat Krabang, near Bangkok, Thailand. Through the window of my hotel room a highway could be seen. Underneath the highway was a river. Every time I left the hotel, a group of ducks in a well-formed row crossed the street in order to drink some water. Afterwards they returned in the same formation. It was a remarkably organised procession that not only fascinated me but also a police officer on a motor bike who stopped, took out his handy and made the picture that I had wanted to make. Had I had the necessary mental presence, I would surely have photographed the photographing police officer on his bike.

Sunday, 27 April 2025

Wie die Welt denkt

Der 1968 geborene Brite Julian Baggini behauptet in der Einleitung zu Wie die Welt denkt. Eine globale Geschichte der Philosophie, dass Philosophie wichtig sei (was angesichts der Tatsache, dass er studierter Philosoph ist, wenig überrascht), auch wenn der Durchschnittsmensch keine grosse Ahnung vom tieferen Sinn der Konzepte, die sein Leben informieren (die Harmonie bei den Chinesen oder die individuelle Freiheit bei den Amerikanern und Europäern) hat bzw. zu haben braucht. Doch ebenso gilt: "Dass Pawel in Krakau und Priti in Delji aufgewachsen ist, erklärt besser, warum Pawel an den auferstandenen Christus und Priti ans Karma glaubt, als jede theologische Begründung, die die beiden liefern könnten."

Wie die Welt denkt. Eine globale Geschichte der Philosophie setzt sich mit den Ideen auseinander, die unser Dasein prägen. Da Julian Baggini auch journalistisch unterwegs ist und damit einen Sinn fürs Alltägliche hat, ist dafür gesorgt, dass er sich nicht in Sphären verliert, in denen allein die intellektuelle Überheblichkeit herrscht. Dazu kommt seine vom Journalismus inspirierte Herangehensweise: Er hat für dieses Buch zahllose Gespräche mit Philosophinnen und Philosophen aus aller Welt geführt.

Die Tatsache, dass die schriftliche Philosophie in China, Indien und Griechenland in etwa zu gleichen Zeit, doch unabhängig voneinander entstanden ist (um 550 vor Christus), ist einerseits ein Rätsel, und legt andererseits die Vermutung nahe, wir Menschen verfügten wohl über mehr Gemeinsamkeiten als wir gemeinhin annehmen. Dass wir jedoch vor allem die Unterschiede leben (wollen), zeigt Autor Baggini anhand der Tagung des Indian Philosophical Congress  (IPC), bei der "eine starke Gegnerschaft gegen die westliche Kultur und Philosophie zu spüren" war.

Da mir das einschlägige Wissen abgeht, um dieses Werk angemessen würdigen zu können, beschränke ich mich auf ein paar wenige Aspekte, die meine Aufmerksamkeit geweckt haben. Auch will ich auf den gerade erwähnten IPC kurz eingehen, da er divergierende Weltanschauungen offenbar machte.

"In Europa und Amerika würde ich erwarten, dass ein Eröffnungsvortrag eine These präsentiert, die in wesentlichen Hinsichten neu und originell ist. Auf dem IPC hingegen waren die Vorträge eher Ausweise für die Belesenheit der Referenten, deren Hauptaufgabe offenbar darin bestand, eine traditionelle philosophische Schule zu repräsentieren." Man könnte dies jetzt natürlich soziologisch, historisch, ethnologisch oder psychologisch erklären. Julian Baggini erläutert die philosophische Sichtweise. "Um zu erklären, wie Philosophie betrieben wird, muss man die Ideale erklären, die diese Praxis zu verkörpern sucht. Was aber sind die Ideale, die der Art und Weise zugrunde liegen, auf die die Philosophen in Indien ihre Ideen präsentieren?"

Die Probleme, die sich bei solchen Fragen stellen, sind sowohl theoretischer (Etwa: Wie trennt man die indische Philosophie von der durch Meditation erlangten mystischen Einsicht?) als auch praktischer Natur (Autoritäten werden in der ostasiatischen Welt nicht angezweifelt). Auch erweisen sich die Gespräche mit indischen Philosophen mitunter eher verwirrend als erhellend. So befragte er eine Referentin zum Verhältnis von Religion und Philosophie, die beide stark miteinander verwoben sind. "Wir können den Leuten ihre religiösen Gefühle nicht einfach wegnehmen", sagte sie, "Religion ist eine tief verwurzelte, unbewusste Aktivität."

Speziell angesprochen haben mich die Ausführungen zur Leere. "Das Konzept der Leere ist der westlichen Philosophie ebenso fremd wie es für viele ostasiatische Traditionen von zentraler Bedeutung ist." Im Westen richtet man seine Aufmerksamkeit auf Dinge, in Ostasien schenkt man auch stets dem Raum zwischen den Dingen Beachtung. Im Westen liegt der Fokus auf dem Individuum, in Ostasien auf den Beziehungen zwischen den Individuen. Die Leere wird in Ostasien nicht nur als Absenz, sondern auch als Präsenz verstanden.

Das erinnerte mich auch an einen Beitrag in der International Herald Tribune übers Glücklichsein. Ein Foto zeigte ein lachendes Kind in einer Gruppe von Menschen. Westler automatisch assoziierten damit Glück, Japaner hingegen nur dann, wenn auch die anderen auf dem Bild lachten.

Es gibt Stimmen (etwa Stephen Hawking), die behaupten, die Philosophie habe sich überlebt, da sie mit den modernen Entwicklungen der Wissenschaft nicht mitgehalten habe. Nur eben: Viele Fragen der Philosophie gehören gar nicht in den Bereich der Wissenschaft. Man denke an Probleme der Moral oder der politischen Theorie. Und auch "um die Welt so zu erklären, wie sie uns in der gelebten Erfahrung erscheint", genügt die Wissenschaft nicht, sind metaphysische Überlegungen vonnöten.

"Der Geist-Körper-Dualismus ist im Westen zu einer so selbstverständlichen Denkweise geworden, dass man leicht glauben könnte, er sei eine Universalie der Menschheit." Nur eben: Das ursprüngliche christliche Denken war ein ganz anderes, ging es doch davon aus, dass Seele und Körper nicht getrennt seien. Man denke etwa an die Auferstehung Christi. "Nicht die Seele Jesu ist in den Himmel aufgestiegen, sondern er selbst, einschliesslich seines Körpers." Solcher Erkenntnisse wegen lese ich Bücher!

"Ideen sind weder fest an bestimmte Kulturen gebunden noch sind sie frei schwebend, universell und ortlos. Wie Menschen werden sie von einer Kultur geformt, können aber reisen." Weshalb denn auch Julian Baggini die Einnahme multipler Perspektiven befürwortet. Das heisst jedoch nicht, dass es keine universellen Überzeugungen geben kann. So sind sich alle philosophischen Schulen einig, dass "das konventionelle Selbst, die Art und Weise, wie wir normalerweise von uns selbst und anderen denken, illusorisch ist. Dieses Selbst ist lediglich ein Strom von Erfahrungen, ein Bündel von Wahrnehmungen, das keine bleibende Essenz hat." Diese Erkenntnis wiederum wird von verschiedenen Schulen verschieden interpretiert. Für Genaueres greife man zu diesem exzellent geschriebenen Werk!

Fazit: Ein Buch voller spannender Überlegungen und Denkanstösse. Höchst anregend.

Julian Baggini
Wie die Welt denkt
Eine globale Geschichte der Philosophie
C.H. Beck, München 2025