Sunday, 9 November 2025

Annie Ernaux: Die Jahre

Annie Ernaux, geboren 1940, die sich als „Ethnologin ihrer selbst“ bezeichnet, erhielt 2022 den Nobelpreis für Literatur. Mein Verhältnis zu Trägern und Trägerinnen des Literaturnobelpreises ist gespalten. Ich glaube, sie schätzen zu müssen, doch es ist selten, dass ich es auch tue. Zu vielen habe ich schlicht keinen Zugang (jedenfalls nicht zu den Büchern, die mir in die Hände gefallen sind), die meisten kenne ich nicht, und dann gibt es die, die mich unmittelbar ansprechen. Die Jahre von Annie Ernaux gehört ganz unbedingt dazu, das weiss ich bereits nach den ersten paar Seiten. Es liegt an Aussagen wie „Der Welt fehlt es am Glauben an eine transzendentale Wahrheit“, gefolgt von „Alles wird innerhalb einer Sekunde vergehen, Getilgt das von der Geburt bis zum Tod angesammelte Wörterbuch. Stille wird eintreten, und man wird keine Wörter mehr haben, um sie zu sagen. Aus dem offenen Mund wird nichts mehr kommen. Kein Ich, kein Mir, kein Mich. Die Sprache wird die Welt weiter in Worte fassen. Bei Familienfeiern wird man nur noch ein Vorname sein, von Jahr zu Jahr gesichtsloser, bis man in der anonymen Masse einer fernen Generation verschwindet."

Damit doch etwas überdauert und Bestand hat, schreibt Annie Ernaux auf – anhand von Fotos, Schlagern und Erinnerungen – , was sie erinnert. Indem sie nicht nur ihr eigenes persönliches Erinnern, sondern auch die damalige Zeit (die 1940er Jahre) beschreibt (was es damals nicht gegeben hat: Rindfleisch und Orangen, Krankenversicherung, Kindergeld, die Rente mit 65, Urlaubsreisen), lässt sie auch den später geborenen Leser (jedenfalls ging es mir so) seine eigene Zeit erfahren – schliesslich ändert sich, abgesehen vom technischen Fortschritt, nur wenig. Die 1948 geborene Christine Westermann trifft es gut: „Ein sehr persönliches Buch, eine Zeitreise in meine Kindheit, meine Jugend ...“.

Die Zeit, die Annie Ernaux schildert, ist erfüllt mit Vorstellungen und Gewissheiten, die einen heutzutage fremd und exotisch anmuten. Da gab es „Sünden, die so schwer wogen, dass man sie auf keinen Fall beichten konnte“, da war der Stolz auf seine Schuluniform, und der Militärdienst machte einen zum Mann, da war es selbstverständlich, „dass Algerien mit seinen drei Departements zu Frankreich gehörte“.

Annie Ernaux versteht sich aufs Foto-Lesen, weiss, dass das, was Fotos zeigen, alles andere unsichtbar macht – und so bringt sie es uns zu Bewusstsein. „Ein Repertoire aus Gewohnheiten, eine Summe von Handgriffen“ genauso wie die zahlreichen Anweisungen: Aufessen, nicht schmatzen, nicht mit den Türen knallen ...

Die offizielle Geschichtsschreibung, die sich mit Politik abgibt, weiss von diesen Dingen nichts. Zudem: Ein Satz wie dieser vermittelt mir mehr über Frankreich als sämtliche politischen Leitartikel. „Frankreich war gross und setzte sich aus verschiedenen Bevölkerungen zusammen, die sich durch das, was sie assen und durch ihre Art zu sprechen voneinander unterschieden.“

In den sechziger Jahren waren die Menschen voller Zuversicht, „sie glaubten, die Dinger würden ihr Leben verbessern." Und dann war da die Musik der Jazz, der Gospel, der Rock 'n' Roll. „Dream, love, heart waren reine Wörter ohne praktischen Nutzen, die uns das Gefühl gaben, es existiere noch etwas jenseits unserer Welt.“

Auf sein eigenes Leben zurückzublicken – und dies ist es, was diese „Ethnologin ihrer selbst“ einem möglich macht – , habe ich selten so vergnüglich erlebt, auch wenn ich Jahre später und im Nachbarland aufgewachsen bin. Beispiele: „... man ass lieber Konserven als frisches Obst ...“; „Die Männer stellten sich am helllichten Tag zum Pinkeln an irgendeine Mauer, und höhere Bildung stimmte misstrauisch ...“; „Charles Piaget, der Arbeiter aus der Lip-Uhrenfabrik war bekannter als der Psychologe mit demselben Nachnamen, mit dem man uns im Philosophieunterrichts getriezt hatte (niemand ahnte, dass man bei dem Namen eines Tages nur noch an den Schweizer Luxusjuwelier denken würde, der Anzeigen in den Zeitschriften schaltete, die beim Friseur auslagen).“

Die Jahre machte mich sehr, sehr oft schmunzeln. „Wer einen Fernseher angeschafft hatte, kommentierte das Aussehen von Ministern und Ansagerinnen und redete von Prominenten, als wären es Nachbarn.“ Automatisch stellen sich in meinem Kopf Bilder von Menschen ein, die nach dem Tod von Tina Turner vor dem Tor ihres Anwesens Blumen niederlegten. Die Aufgabe der Medien, man kann nicht oft genug daran erinnern, besteht darin, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu garantieren.

Obwohl chronologisch strukturiert, erzählt dieses Buch keine lineare Geschichte, sondern ganz Vieles und ganz Unterschiedliches nebeneinander, immer wieder unterbrochen von Erinnerungsfetzen – näher als bei dem, was wir wirklich erleben, kann man kaum sein.

Annie Ernaux formuliert universelle Wahrheiten, direkt, pragmatisch und gänzlich unprätentiös. „Für unser persönliches Leben hatte die grosse Geschichte keine Bedeutung. An einem Tag war man glücklich, an anderen nicht. Je mehr man eintauchte in das, was sich die Wirklichkeit nannte, die Arbeit, die Familie, desto stärker wurde das Gefühl der Unwirklichkeit.“

Je subjektiver jemand sich auszudrücken traut, desto grösser die Möglichkeit zur Identifikation, denn wir sind weit weniger speziell als wir gemeinhin annehmen. Und wenn dann dieser jemand (wie Annie Ernaux) über die Fähigkeit verfügt, sich differenziert und einfach auszudrücken (eine Kunst, die wenige beherrschen), fühlt man sich als Leser berührt und bereichert. Ich für meinen Teil habe selten ein Buch gelesen, bei dem ich fast jeden Satz unterstreichen wollte.

Fazit: Ein Buch, für das ich dankbar bin. Gescheit, amüsant und wunderbar instruktiv; der Beweis, dass das Leben in Worte gefasst werden kann.

Annie Ernaux
Die Jahre
Suhrkamp, Berlin 2023

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