Wednesday, 5 November 2025

Unterwegs in Rio Grande do Sul

Mein Hotel in Santa Maria ist in der Nähe der Rodoviaria, das Zimmer geräumig, beim Frühstück wundere ich mich wie immer über den Humor unseres Schöpfers, dessen Lust an Formen und Gestalten ständig einen einzigartigen Reichtum an Zweibeinern herzaubert.

Die sechseinhalbstündige Busfahrt nach Uruguaiana lässt mein Herz jubeln, jedenfalls während der ersten fünf Stunden, als ich in Ruhe die unendliche Weite geniessen konnte, doch dann tauchte eine Familie mit jungen Kindern auf – und mit meiner Landschaftsmeditation war es vorbei.

Der Taxifahrer in Uruguaiana war um die 90, ledergegerbte Haut, zahnlos, und sprach nicht nur einen mir gänzlich unbekannten Dialekt, er verstand auch nicht, wo ich hinwollte. Ein Kollege erläuterte ihm dann, wo mein Hotel lag. Auf dem Weg dorthin wies er auf zwei Lokale hin, wo abends die Mädels willig seien, was ihn eindeutig mehr begeisterte als mich.

Das Hotel sah von aussen hübsch aus, in meinem Zimmer hatte es dann allerdings knapp Platz für ein Bett, und das Bad war derart eng, dass ich froh war, die letzten Wochen ein paar Kilo abgenommen zu haben. Beleibten Herrschaften würde ich von einem Klobesuch in diesem Etablissement definitiv abraten – hinein schaffen sie es womöglich, hinaus hingegen ... Na gut, ich kann mich täuschen.

Jedenfalls, das Hotel figurierte für mich in der Kategorie "Vielleicht mit zwanzig, wenn man nur was zum schlafen braucht", doch es zeigte sich dann, dass die Gäste so in meinem Alter waren, Argentinier, einer in einem Velvet Underground T-Shirt.

Wo ich her sei, fragt die Frau, die ich nach der argentinischen Grenze frage. Wir plaudern ein wenig, das üblich Belanglose, dann weist sie mich auf ein Café hin, das gut sei, auch das im Park, bei der Praça, könne sie empfehlen. Beide suche ich in der Folge auf, mit Gewinn.


Ich schaue in den Geschäften an der Grenze nach einer Brieftasche, und werde fündig. Kurz darauf frägt mich eine Ladeninhaberin, die gerade Kleider aufhängt, ob ich was suche, ob sie mir behilflich sein könne. Danke, ich bin auf der Suche nach Fotomotiven, erwidere ich. In der nächsten Strasse gibt es einiges zu sehen, sagt sie. Sie hatte recht.

Man solle das Licht und die Aircon ausmachen, wenn man das Zimmer verlasse, was ich dann auch pflichtgetreu tue, nur um die Aircon voll aufgedreht zu finden, als ich zurückkehre. Die Reinigungskraft hat eben ihre eigenen Ideen ...

Dass Uruguaiana eine Grenzstadt ist, merke ich im Hotel, wo mehrheitlich Spanisch gesprochen wird, und in den Läden nahe der Grenze, wo ich gefragt werde, ob ich in Reais bezahlen wolle.

Da der Lärm auf dem Flur am zweiten Abend sich in Grenzen hielt, schloss ich messerscharf, das Hotel sei in dieser Nacht kaum belegt, so dass ich beim Frühstück, sofern ich zu den ersten gehörte, vermutlich alleine war. Ich war jedoch nicht der einzige Frühaufsteher, das ganze Hotel war bereits auf den Beinen, inklusive zweier Militärpolizisten, von denen die Frau ausgiebig tätowiert war, was vermutlich nur mir auffiel, da man sich in Brasilien gelegentlich fragen kann, wer eigentlich (noch) nicht tätowiert ist. Das Funkgerät der Polizistin übertönte jedes Gespräch, so dass man sich des Eindrucks nur schwer erwehren konnte, man befände sich in der örtlichen Einsatzzentrale.

Zu den Sätzen, die mich nun schon ein Leben lang begleiten, gehört Adolf Muschgs 'Trotz vieler Versuche, ein schlechter Reisender geblieben' (ich zitiere aus dem Gedächtnis). In meinem Falle: immer zu früh, stets etwas angespannt, wie jetzt an der Rodoviaria in Uruguaiana.

Die langen geraden Strecken gemahnen mich oft an Amerika, wo allerdings das Wiedersehen dominiert, da man das alles bereits in Filmen gesehen hat. In Brasilien sehe ich die Landschaft zum ersten Mal, ist sie neu, entdecke ich sie. 

Der Zustand der Strassen ist zum Teil fürchterlich und erinnert mich an den Nordosten des Landes, wo er noch fürchterlicher gewesen ist.

In São Borja springt nach der Mittagspause der Bus nicht mehr an, die Batterie hat den Geist aufgegeben. Die 40 Minuten Wartezeit fällt den Brasilianern eindeutig leichter als mir.

Von São Borja bis Santo Angelo sitzt ein junger Mann neben mir, der eindeutig angesprochen werden will, damit er erzählen kann. Ich tue ihm den Gefallen und bin nicht im Geringsten erstaunt (die meisten Brasilianer sind so), dass er mir keine einzige Frage stellt.

Hinter einem Laster herzukriechen und dabei durchgerüttelt zu werden, lässt mich mehr als einmal schwören, dass ich mir solche Rumpelfahrten nicht mehr antun werde.

Für die wichtigen Dinge, sei er zuständig, sagte einst mein Vater. Also wer Chef oder Bundesrat oder amerikanischer Präsident werde. Für die unwichtigen hingegen seine Frau. Also ob wir ein Haus kaufen sollen oder ein neues Auto. Ich bin genauso. Philosophische Gespräche auf Portugiesisch, das geht, doch was Messer, Gabel, Löffel heisst, muss ich (nicht zum ersten Mal) nachschlagen.

Der junge Rezeptionist erstarrt, als ich mich nach dem Verbleib meines Hemdes erkundige, das eine Näherin, die nahe beim Hotel wohnt, flicken wollte. Ich wiederhole meine Frage. Jetzt blüht er auf. Sie sprechen ja Portugiesisch und ich befürchtete schon, es handle sich um Spanisch. Das erinnerte mich an einen meiner Schüler, der meinte, ich spreche ganz gut Portugiesisch, so wie die Leute "no interior".

Auf der Strasse spricht mich ein älterer Mann an. Zweimal war er bereits in Pfäffikon SZ. Was ihm in der Schweiz aufgefallen sei? Keine Abfälle auf den Strassen, er zeigt auf den Boden um uns herum, und die Leute bleiben vor dem Zebrastreifen stehen. Und vor allem: Kein Vogelgezwitscher. Manaus müsse ich besuchen, ein Naturparadies. Er stellt mir ein oder zwei Fragen, doch meine Antworten interessieren ihn nicht; ich werde wie meist in Brasilien zum Stichwortgeber reduziert.

Beim Eingang des Supermarktes gibt es eine Theke und gratis stark gesüssten Kaffee. Da gerade ein Gewitter niedergeht, verkürze ich mir damir die Zeit, bis es nachlässt.

Die neueste Mode in Santo Angelo sind Eisdielen, die eine Riesenauswahl zur Selbstbedienung anbieten. Und da der Mensch ein Herdentier ist, finden sich um Umkreis von wenigen Metern gleich drei.

Das Frühstück in meinem Hotel ist legendär. Melone, Mango, Pizza, verschiedene Kuchen, Brote, Fleisch, Käse, Säfte, Kaffee, Tee. Ich entdecke Quindim, eine Süssspeise aus Kokos, Eigelb und Zucker. Drei Angestellte überwachen das Buffet und sichern den Nachschub. Ein Brasilianer würde bei einem schweizerischen Café complet wohl kollabieren.

Nachdem ich mir am Morgen buddhistische Gedanken zum Alter angehört habe, die darin gipfelten, man solle das Jetzt umarmen und zuversichtlich dem Kommenden entgegensehen, ergiesst sich am Mittag eine Busladung aus dem Altersheim in die Eingangshalle des Hotels, die mich der Zukunft eher mit gemischten Gefühlen entgegensehen lässt, denn diese Leute, die ich für älter halte als mich selber (vielleicht täusche ich mich aber auch), hatten allesamt Mühe mit dem Sich-Hinsetzen, vom anschliessenden Wieder-Aufstehen gar nicht zu reden. Mit Ausnahme von zwei, drei wirkten alle nicht einmal ansatzweise halbwegs fit. Es handle sich beileibe nicht um ein Altersheim, so der Rezeptionist, sondern um eine Reisegruppe aus Rio de Janeiro (das sind mehr als 1600 Kilometer bzw. dreissig Stunden Busfahrt), welche die Missionsstationen der Gegend besuchen wolle.

Der Taxifahrer, der mich zur Rodoviaria bringt, hatte bereits letzte Woche Schweizer als Fahrgäste. Ob das wohl etwas bedeute? Vermutlich Pech, grinse ich. Er ebenso.

An den Rodoviarias finden sich auch immer Leute auf Drogen oder sonstwie schief drauf. Você é de onde? Da Suica. É perto de Jerusalém? Nein, nicht nahe, eher weit ...

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