Auf Petra Morsbach bin ich durch einen Artikel von Herbert Riehl-Heyse in der Süddeutschen gestossen. Und da ich „den Riehl“ sehr schätze (ich hatte 1986 ausgewählte Texte von ihm unter dem Titel „Die Weihe des Ersatzkaisers und andere Geschichten“ herausgegeben), liess ich mich von seiner Begeisterung für Petra Morsbachs Schreiben gerne anstecken. Das liegt jetzt 25 Jahre zurück. Seither bin ich regelmässig gespannt, wenn ein neuer Titel von ihr erscheint. Und so gehe ich diesen Essay positivst gestimmt an – und werde nicht enttäuscht. Im Gegenteil: Ich werde vielfältigst aufgeklärt und unter anderem daran erinnert, dass Wahrheit konkret und Widerstand gegen Machtmissbrauch zwar schwierig, doch geboten ist.
An drei Fällen – einem Kirchenskandal, einem politischen Skandal und einem Fall, der an einer kulturellen Institution spielt – zeigt dieser Essay auf, wie es zu Machtmissbrauch und dessen weitgehendem Akzeptieren kommt. Vertuschungen und Verschleierungen sind keine Fehler von Machtsystemen, sondern gehören zu deren Kennzeichen. Gleichzeitig klärt Der Elefant im Zimmer darüber auf, wie Widerstand gelingen kann. Verblüfft hat mich übrigens, dass sich dieser lange Essay (325 Seiten) so flüssig liest.
Doch sind das nicht einfach Einzelfälle? Können sie überhaupt repräsentativ sein? Ja, können sie, argumentiert Petra Morsbach, denn die Mächtigen hätten „gegen den Kern ihres Auftrags“ verstossen. „Der Chefkleriker verletzte nicht etwa die Haushaltsdisziplin, sondern – neben den Strafgesetzen – die römisch-katholische Sexualmoral, ein Alleinstellungsmerkmal dieser Kirche. Der Untersuchungsausschuss vereitelte nicht einzelne Beweiserhebungen, sondern die Untersuchung selbst, für die er berufen worden war. Die kulturelle Organisation verstiess gegen die Freiheit und Würde der Kunst, die sie verteidigen sollte.“
Der erste Fall handelt von Kardinal Hans Hermann Groër und dessen Pädophilie, die zwar bekannt war, jedoch verschwiegen wurde, bis sich dann ein Opfer ‚outete‘ und der kirchliche Machtapparat aktiv wurde. Wie das vonstatten ging, schildert Petra Morsbach detailliert und differenziert. Dabei zeichnet sie das Bild einer Kirche, der es mehr um Machterhalt als um ihr Credo geht. So recht eigentlich ist das wenig verwunderlich (und trifft wohl auf alle Institutionen zu), doch es ist nicht so simpel, sondern um einiges komplizierter. Und auch gewollt juristisch überkomplex.
Schweigen, Ablenken, sich in allgemeine Floskeln retten, keinesfalls auf konkrete Fragen konkrete Antworten geben. Sprache dient oft nicht der Verständigung, sondern deren Verhinderung. Nicht immer, doch da, wo es um Machterhalt geht. Wie trickreich die Mächtigen beziehungsweise der Machtapparat vorgehen, erfährt man in diesem Buch. „Die Stabilität des Apparats hatte die oberste Priorität. Ihr wurden alle höheren Anliegen geopfert, sie war beinahe zum Selbstzweck geworden. Die missbrauchten Knaben waren so gesehen ein Kollateralschaden.“
Zu den Eigenheiten der katholischen Kirche gehört, dass die Priesterkandidaten ihren Bischöfen Gehorsam versprechen. Petra Morsbach kommentiert das mit ihrem eigenen Witz (der für mich zu den Gründen gehört, weshalb ich ihr Schreiben schätze): „Wer zu dieser Blanko-Erklärung bereit ist, muss eine überdurchschnittliche hierarchische Sehnsucht mitbringen, egal wie zynisch er vielleicht später wird.“ Man kann sich unschwer vorstellen, dass Machtkontrolle nicht zum Wesen der katholischen Kirche gehört.
Immer mal wieder stolpere ich über Sätze, die Grundsätzliches beleuchten (nichts, was in der heutigen Zeit wesentlicher wäre) und von einer realistisch-nüchternen Weltsicht zeugen, die sich nicht hinter einer dieser Pseudo-Fachdisziplinen versteckt, sondern einfach genau hinguckt und eigenständig denkt. „Wie können 17 intelligente, gebildete Bischöfe, die eine Elite religiöser und ethischer Bestimmung darstellen, als Gruppe denselben Automatismen unterliegen wie Konzernchefs, Hells Angels und Paviane? Bei den letzteren Gruppen gehört Dominanz sozusagen zum Anforderungsprofil. Aber bei Stellvertretern Christi? Und doch ist es so. Und es wäre fahrlässig, in Konflikten von etwas anderem auszugehen.“
Fall 2 handelt von Christine Haderthauer, der ehemaligen Chefin der bayerischen Staatskanzlei, und ihrem Mann, dem Arzt Hubert Haderthauer, die mutmasslich von der Arbeit straffälliger Psychiatriepatienten profitierten – drei Schlussberichte kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen, nur einer von diesen war ernsthaft an der Aufklärung des Falles interessiert. Auch hier geschah, was als Muster im Umgang mit Widerstand von unten die Regel ist. „Wenn ein Führungskader öffentlich des Fehlverhaltens bezichtigt wird, verteidigt ihn seine Organisation reflexhaft, selbst wenn keiner an seine Unschuld glaubt – und gelegentlich bis zur Handlungsunfähigkeit, wie der Fall Groër zeigt.“
Doch ein Abgeordneter der Freien Wähler und sein Rechtsberater wehrten sich gegen den Versuch des Untersuchungsausschusses den Fall zu begraben und zur Tagesordnung überzugehen. „Man wollte, wenn man schon nichts erreichte, die Stunden im Ausschuss nutzen, um zumindest auf sinnvolle Weise nichts zu erreichen.“ Sie taten dies, indem sie ganz einfach möglichst genau beschrieben, was der Ausschuss tat beziehungsweise nicht tat. Eine Methode, die sich bewährt und „der Menschheit bedeutende Erkenntnisse beschert.“
Immer wieder kommt Petra Morsbach darauf zurück, dass Der Elefant im Zimmer nicht gesehen werden will. Der Elefant ist die Institution, genauer: die Macht, die um (fast) jeden Preis erhalten werden muss. Man schweigt, lenkt ab, redet über Verfahrensfragen, ereifert sich über Details, rettet sich in die Komplexität – zum Schutz derer, die von den bestehenden Verhältnissen profitieren. Selten ist mir so deutlich aufgegangen, dass das Aufdecken von Missständen alle, die diese bislang nicht bemerkt oder toleriert haben, angreifbar macht. Kein Wunder, mauern sie.
Fall 3 handelt von den Erfahrungen der Autorin als Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, deren Funktionäre den in der Satzung statuierten Auftrag, „…. die Entwicklung der Künste ständig zu beobachten, in jeder (uns) geeignet scheinenden Weise zu fördern oder Vorschläge zu ihrer Förderung zu machen“ unter anderem mit der Vorschrift verunmöglichen: „Buchvorstellungen macht die Akademie nicht.“ Warum eigentlich nicht? Nur schon so zu fragen, gilt nicht als opportun, sich dagegenzustellen bedarf der Hartnäckigkeit – und darüber verfügt Petra Morsbach, der ein klarer Blick auf sich selber, gepaart mit Selbstironie, eigen ist.
Wie schon in den vorangegangenen Fällen, geht es auch hier um grundsätzliche Fragen. „Kann man gegen Machtmissbrauch überhaupt vorgehen, wenn er von einer jeweiligen Mehrheit geduldet wird? Wie aktiviert man die betrieblich und gesetzlich vorgesehenen Kontrollmassnahmen, wenn die Kontrollpersonen sich auf die Seite der Macht stellen?“ Und wie geht man mit dem Gehorsamsreflex um, der Gruppen zu befallen scheint, wenn ihr Chef angegriffen wird?
„Wieso erhebst du dich über die ganze Institution?“ gehört zu den Fragen, die keine sind und einen der Überheblichkeit bezichtigen. Sie werden meist von Überheblichen vorgebracht, die sich selber nicht als solche sehen. Petra Morsbachs Antwort darauf lohnt allein die Lektüre dieses Essays. Mir jedenfalls ist selten so deutlich geworden, weshalb die Dichtung wichtig und wirkmächtig ist.
Der Elefant im Zimmer, ein Lehrstück über die Mechanismen der Macht, zeigt nicht zuletzt, dass wir in der irrigen Vorstellung leben, von rationalen Überlegungen geleitet zu werden, doch es sind unsere Empfindungen und Einbildungen, die uns selten bewusst sind, die das Sagen haben. Oft fühlte ich mich an einen Jura-Dozenten erinnert, der nach Zivilrechtsübungen meinte: Merken Sie sich: Das Schlimmste ist, nicht zu einem Entscheid zu kommen, Gründe dafür finden wir dann immer noch.
Dass dem nicht so sein muss, wir nicht automatisch zu Opfern unseres zwar gesellschaftlich gewünschten, doch nicht immer gesunden Gehorsams werden müssen, zeigt dieser Essay, dem es wesentlich darum geht, „zur Entmystifizierung der Macht und zur Enthysterisierung des Widerstands“ beizutragen, eindrücklich. Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced zitiert die Autorin James Baldwin.
Fazit: Ein überzeugendes Plädoyer für Zivilcourage, basierend auf genauem Hinschauen, eigenständigem Denken und einem aussergewöhnlichen Erzähltalent. Ein notwendiges und hilfreiches Buch!
Der Elefant im Zimmer
Über Machtmissbrauch und Widerstand
Penguin Verlag, München 2020
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