Sunday, 9 February 2025

Korrumpiert

Diesem Buch ist ein Einstein-Zitat vorangestellt: "Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind." Wie so oft, bleibt es folgenlos, denn eine andere Denkweise ist etwas anderes als mit dem vertrauten Denken zu neuen Schlussfolgerungen zu gelangen. Eine andere Denkweise wäre zum Beispiel, sich vom Mehrheitsprinzip, auf das die Demokratie gründet, zu verbschieden. Das vorliegende Buch ist weit entfernt davon, auch wenn der Autor erfreulich nüchtern konstatiert: "Aber eine wirkliche Demokratie, die alle beteiligt und vor allem das Gemeinwohl heute und morgen vor Augen hat, hat es nie gegeben. Daraus lässt sich auch ableiten, warum sie sich heute dem Markt unterordnet, der nur denen dient, die vor allem den eigenen Wohlstand im Blick haben und eine 'Volksherrschaft' fürchten."

Zum Auftakt rekapituliert Marco Bülow, ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter, die Corona-Maskenaffäre, in der kein Politiker zur Rechenschaft gezogen wurde, da ihnen rechtlich nichts nachgewiesen werden konnte. Schwer vorstellbar, dass sich jemand darüber wundert, schliesslich werden die Gesetze im Parlament gemacht. Und diejenigen, die sie auslegen, sind nicht in ihre Ämter gekommen, weil sie eigenständig, sondern weil sie systemkonform denken.

Doppelmoral, Freundschaft mit Autokraten, Spenden usw. Detailliert zeigt Marco Bülow auf, wie geldgetrieben die Politik ist und nennt auf Profit fixierte Parlamentarier beim Namen, Lobbyisten hingegen nicht. Geld scheint mittlerweile der einzige Wert, den weltweit alle respektieren bzw. sich ihm unterwerfen. "Macht und Geld haben immer mitregiert, aber eine Zeit lang gab es in den Parteien, in den Medien, in der Zivilgesellschaft ein stärkeres Korrektiv, welches das Machtgefälle begrenzte, allzu eklatante Ausfälle korrigierte, das Pendel auch wieder in die andere Richtung schlagen liess."

Politiker sind in einem komplizierten System gefangen und müssen dazu sehen, dass sie darin nicht untergehen. Ein kompliziertes System hat eben viele Vorteile, jedenfalls für die, die sich darin auskennen. Es ist nichts anderes als ein Selbstbedienungsladen für Eingeweihte.

Dieses kompliziert angelegte System führt dazu, dass es viele Möglichkeiten der Einflussnahme gibt. Dem Autor ist es darum zu tun, das Lobbying sachlich anzugehen, die Kategorien 'Gut' oder 'Böse' hält er für unangemessen. Liegt es vielleicht daran, dass es Kategorien sind, die jeder versteht? Marco Bülow zieht es vor, ausführlich über das Wesen des Lobbyismus zu informieren, um schliesslich zu dem einigermassen banalen Schluss zu kommen: "Am Ende geht es meistens ums Geld und um den Einfluss derjenigen, die viel davon besitzen."

19 Jahre sass Bülow im Bundestag, sein Erfahrungsschatz in Sachen Lobbyismus ist beträchtlich, seine Ausführungen lassen einen die Politiker als das sehen, was sie hauptsachlich sind: Systemprofiteure. Verblüffend sind dabei weniger die Charakterdefizite vieler Abgeordneter, sondern die Möglichkeiten, die den Lobbyisten zugestanden werden. Bülows Ansehen bei den Kollegen stieg, als er eines Tages zum Treffen einer einflussreichen Lobby geladen war. Es sind solche Sätze, die mir genug über den Politbetrieb verraten, um mich davon abzuwenden.

Nur wer gute Kontakte vorweisen kann, wird respektiert. Das ist ein Phänomen, das nicht nur die Politik regiert. Als ich vor Jahren in die engere Auswahl für eine Dozentur in "Editorial Photography" an einer Uni in Cornwall kam, wurde ich beim Vorstellungsgespräch danach gefragt, was für "industry contacts" ich hätte. Ich hatte keine und war somit aus dem Rennen. 

Es genügt, den parlamentarischen Alltag zu beschreiben, um seine Absurdität vor Augen zu haben. Alle Anträge von der Opposition werden grundsätzlich abgelehnt. "Ein ungeschriebenes, aber sehr gewissenhaft verfolgtes Gesetz." Wer glaubt, in der Politik gehe es um Inhalte, um die ernsthafte Auseinandersetzung, um sachliche Argumente, wird hier eines Besseren belehrt. Wie sollte es auch anders sein in einer Welt, in der das Geld regiert. Schon eigenartig, dass wir uns selbst zu Sklaven machen.

Lobbyisten sind in der Regel bestens informiert und verfügen gegenüber den Parlamentariern über einen Wissensvorsprung, den sie gerne mit denen, die sie beeinflussen wollen, teilen. Geschieht dies ohne Gegenleistung, so haben die betreffenden parlamentarischen Informationsempfänger, so sie denn nicht ganz unsensibel sind, den Lobbyisten gegenüber Schuldgefühle. Lobbyismus ist angewandte Psychologie; wer sich darauf einlässt, wird zum Gefangenen.

. "Wenn wir dem Wesen des Lobbyismus und der Korruption auf den Grund gehen wollen, müssen endlich alle Vorgänge, alle Einflussnahmen ans Tageslicht, in das Zentrum der Debatte über unsere Demokratie gerückt werden." Natürlich hat er recht, nur eben: Wirklich aufgeklärt zu sein (so notwendig ich das auch finde) wird überschätzt. Schwer vorstellbar, dass man mehr über jemanden wissen kann als über den egomanischen Aufmerksamkeits-Junkie im Weissen Haus, doch da die Vernunft eine weit geringere Rolle spielt als Marco Bülow anzunehmen scheint, wurde der Mann gerade zum zweiten Mal amerikanischer Präsident.

Korrumpiert bietet vielfältige und kenntnisreiche Aufklärung über das Politgeschäft, ist jedoch wenig überzeugend, wenn es um Fragen wie 'Ist der Mensch gut oder böse' oder den 'Zwang zum Positiven' geht. Da wimmelt es dann von Sätzen von geradezu erschütternder, nichtssagender Schlichtheit. "Sich mit der menschlichen Psyche im Allgemeinen und der eigenen Psyche im Besonderen zu beschäftigen, ist spannend und wichtig. Therapeutische Hilfestellung kann sicher weiterhelfen. Verlangte Dauerhochleistung und Daueroptimismus erschöpfen, machen krank, erfordern dann besondere Hilfe." Ein dünneres Plädoyer für Therapie (im wesentlichen ein Businessmodell, denn auch hier geht es ums Geld) ist schwer vorstellbar.

Den Vogel abgeschossen hat dann aber diese Passage. die für mich unter 'wirrer geht nimmer' läuft. "Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner sagt: 'Es gibt keine negativen Emotionen.' Das legitimiert uns nicht, sie an anderen auszulassen, aber sie gehören zu uns. Und wenn es um Gefühle geht, die wir durch die Gesellschaft, die Politik empfinden, dann müssen sie auch öffentlich deutlich werden. Emotionen und Verstand lassen sich nicht trennen. Genau das müssen wir verstehen, wenn wir begreifen wollen, wie es zu welchen Handlungen kommt." 

Nichtsdestotrotz: Korrumpiert ist ein lehrreiches Buch, dem 19 Jahre Parteipolitik zugrunde liegen. Marco Bülow hat sich davon losgesagt, die Gründe legt er in diesem reflektierten Erfahrungsbericht dar. Selber denken, hat er erfahren, ist in einer Partei verpönt, ihm selber aber lebensnotwendig. Heutzutage engagiert er sich für das Projekt Kooperative Demokratie, dessen 9-Punkte-Plan auch in diesem Buch zu finden ist.

Marco Bülow
Korrumpiert
Wie ich fast Lobbyist wurde
und jetzt die Demokratie retten will
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2025

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