Sunday, 21 December 2025

Aus dem Wörterbuch meiner Mitmenschen

Berührt einen das gesellschaftliche und insbesondere das politische Geschehen wenig (die immergleichen Langweiler streiten sich um Geld und Privilegien), entgeht einem leider auch für unsere Zeit Kennzeichnendes, worauf der 1972 in Kiel geborene Knut Cordsen hinweist. "Ich habe, wie man das halt so macht als Journalist. mitgeschrieben, wenn mir Dinge auffielen, wenn es mir merkwürdig vorkam, wie meine Mit- und Nebenmenschen redeten. Nebenmensch trifft es oft besser als das eingemeindende 'Mitmensch.'" Der Begriff Nebenmensch geht übrigens auf Goethe zurück – dieses Buch ist auch eine lehrreiche Lektüre.

Stand Jetzt "möchte nicht verdammen, es möchte erheitern", so der Autor in seinem Vorwort. Und, um es gleich vorwegzunehmen, das tut es auch. Doch es tut noch mehr: Es klärt auf, denn wie wir uns ausdrücken, verrät nicht zuletzt wie wir denken bzw. wie wir gerne wahrgenommen würden.

Politiker machen uns heutzutage Angebote. Damit präsentieren sie sich als das, was sie sind: Verkäufer. Die Verkäuferin Annalena Baerbock sagt es so: "Ich möchte heute hier mit meiner Kandidatur ein Angebot machen, für die gesamte Gesellschaft. Dass wir Zukunft gestalten, das ist mein Angebot, das ist unser Angebot, dafür treten wir an."

Neben dem Angebot ist auch "das Aus" ein ziemlich inflationär gebrauchter Begriff, der vom "Pokal-Aus" bis zum "Kriegs-Aus" geht und massgeblich von der Bild-Zeitung, dem Zentralorgan der Niedertracht (so Max Goldt), befördert worden ist.

Wir leben in einer Zeit, "die nicht anders als zuckerwattiert zu charakterisieren ist", meint Knut Cordsen, der festgestellt hat, "dass der auf -ie endende Diminutiv immer weitere Kreise zieht." Von Messie bis zu Selfie. Sprache diente eben schon immer auch dem Verschleiern. So lügen etwa britische Politiker nicht, sie pflegen einen ökonomischen Umgang mit der Wahrheit.

Schon mal von Brandmauerspechten und Brandmauertoten gehört? Nun ja, es gibt sie nicht. Dafür gibt es nicht wenige, die definitiv nicht wissen, wovon sie reden, wie die Ausführungen zur Brandmauer klarmachen. Stand Jetzt, mit seinen vielen Beispielen aus der deutschen Politik, kann mit Gewinn auch als Einführung in die inszenierte Politik gelesen werden.

Zur den ausgeprägsten Fähigkeiten des Menschen zählt der Selbstbetrug. Was sich auch in Begriffen wie "gottoffen", "zukunfstoffen" und "ergebnisoffen" zeigt, denn es ist davon auszugehen, dass diejenigen, die sie benutzen, sie nicht anwenden. Wer glaubt, was er sagt. so sinngemäss einst Konrad Adenauer, ist ungeeignet für die Politik.

Zu meinen Favoriten gehören die Ausführungen zu "fair", einem Begriff, der wohl auch deshalb Eingang in die englische Sprache gefunden, weil er selten praktiziert wird. Die Evangelische Kirche Deutschlands sieht das anders, hoffnungsfroher; sie bezeichnete 2007 "fairgeben – fairsorgen – fairteilen" als "Gottes Spielregeln für eine gerechte Welt." Treffend kommentiert Autor Cordsen: "Mas kann es für eine Ausgeburt des Kulturprotestantismus halten."

Stand Jetzt ist eine überaus gelungene Bestandesaufnahme der heutigen Zeit bzw. des jetzigen Moments, in dem der militärische vom friedliebenden Helden abgelöst worden ist. "Heutzutage ist offenbar schon ein Held, wer am Wochenende Oldtimer spazieren fährt." Doch obwohl mittlerweile so ziemlich jede Tätigkeit als heldenhaft durchgehen kann (vom Sparhelden zum 'Delivery Hero'), ist der Pantoffelheld gänzlich aus der Mode gekommen. Unsere moderne Zeit verlangt Taten, und begnügt sich mit Worten.

Fazit: Geistreich, witzig und erhellend

Knut Cordsen
Stand Jetzt
Aus dem Wörterbuch meiner Mitmenschen
Kunstmann, München 2025

Wednesday, 17 December 2025

In Stockholm

 Vor dem Abflug nach Stockholm komme ich am Zürcher Flughafen mit einer seit vielen Jahren in Witikon wohnenden Spanierin aus Bilbao ins Gespräch. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Schwiegermutter, die in der dortigen aramäischen Gemeinschaft ansässig sei. Bei den Aramäern handle es sich um eine christliche Minderheit in der Türkei, die jedoch hauptsächlich in der Diaspora lebe. Und wieder einmal wundere ich mich über unsere bunte, vielfältige Welt.

Im Flugzeug sitze ich neben einer Schwedin, die mit ihren beiden Kindern ihre Schwester und deren Mann, die am Zürichsee leben, besucht hatte. Nach einem PhD in Klima und Meteorologie hat sie sich gegen das akademische Leben entschieden und beschäftigt sich nun in einer Projektgruppe mit einer App für Behinderte. Wer denken gelernt hat, kann vieles machen, denkt es so in mir.

Mein Hotel verfügt über einen Shuttle, der alle dreissig Minuten fährt, und gerade mal sechs Minuten bis zum Flughafen benötigt. Vorgestellt hatte ich mir, dass mich in Flughafennähe flaches Gelände erwarten würde, um mir den Blick in die Weite zu verschaffen – nichts, das meiner Seele besser tut. Das regnerische und teils stürmische Wetter machte mir allerdings einen Strich durch die Rechnung und wartete mit einer tiefliegenden Wolkendecke auf; viel Weite gab es nicht zu sehen.

Nur einmal, im Bus von Arlanda nach Märsta, klarte es auf. Und meine Seele jubelte.

Das abendliche Zudröhnen mittels BBC, CNN und FOX News für einmal ausser Kraft, da gerade einmal vier schwedische Sender zu empfangen sind. Als ich mich erkundige, ob das üblich sei, sagt man mir, nein, nein, man werde sich darum kümmern. Das dauerte dann eine ganze Weile; schlussendlich hatte ich dreizehn Kanäle, auch ein paar englische waren dabei und boten Filme, bei denen ich definitiv nicht zum Zielpublikum gehöre.

Drei Nobelpreisträger für Literatur habe ich mit dabei, doch keinen finde ich lesbar. Im Gegensatz zu früher glaube ich heute nicht mehr, dass ich verpflichtet bin, Nobelpreisträger zu schätzen und so lege ich sie zur Seite. Wobei: Ich habe auch einige gelesen, die ich beeindruckend fand. Stattdessen nehme ich mir bereits Gelesenes von Alan Watts, Krishnamurti und Eugen Herrigel vor – und werde wieder einmal an Wesentliches erinnert: dass man lernen soll, Meister seiner selbst zu werden.

Die Zeit vergeht langsamer, sobald man aus seinen Routinen fällt.

An meinem ersten Tag regnet es, am zweiten auch; es regnet die ganzen vier Tage, in denen ich mit einem Drei-Tages-Pass für Senioren (Nie hätte ich gedacht, dass es einmal so weit kommen könnte!) die Stadt erkunde. Die Innenstadt ist voller Touristen, zu viele für mich. Als Jugendlicher fand ich Menschenansammlungen geil, heute ist es das Gegenteil. „Que lindo perrito“, höre ich eine männliche Stimme hinter mir und sehe einen etwa Sechzigjährigen einen Hund aus Stein streicheln. Ich ergreife die Flucht.

In einer menschenleeren Seitenstrasse: Hej, zwei kleine, blonde Schwedenmädels, die mir lachend zuwinken.

Die Shuttle-Busfahrer sind entweder dunkelhäutig oder tragen Bart, manchmal auch beides. Im Lokalbus heute zum ersten Mal eine blonde Frau am Steuer. Wie in der Schweiz so winken sich auch hier die Buschauffeure zu.

Die Verkehrsanbindung des Flughafens ist exzellent, Züge und Busse zuhauf. Ein Flughafen fühlt sich ganz anders an, wenn man sich regelmässig dort aufhält. Junge Männer kauften vor allem Bücher darüber, wie man schnell erfolgreich wird, sagt der junge Buchhändler.

Es nieselt, Wind kommt auf. Dann ganz plötzlich dringen Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Das Ganze dauert nur einige wenige Minuten. Gibt es eigentlich Faszinierenderes als Wetter?

Die junge Frau aus Simbabwe neben mir im Bus sagt, ihre eigenen Erfahrungen in Polen, wo sie studiert hat, seien total anders als die einer Bekannten. Von Labels halte sie übrigens gar nichts, die seien eine amerikanische Manie. Ob jemand ein Psychopath oder ein Narzisst sei, er sei einfach ein schlechter Mensch. Sie hat einen vierzehnstündigen Stopover in Stockholm und ist begeistert, dieses Europa hier sei verglichen mit Warschau um Klassen besser. Sie werde sich nach Arbeit als Englischlehrerin erkundigen, doch zuerst gehe es jetzt nach Harare, mit einem weiteren Stopover, dreieinhalb Stunden, in Addis Abeba. Das muss ein billiger Flug gewesen sein, schmunzle ich. Das war es in der Tat, lacht sie.

Die Rezeptionistin trägt ihr Haar meist hoch gesteckt. Heute nicht, heute trägt sie es offen und wirkt wie eine gänzlich andere Person.

Im Zug ein Finne, der zum Motorradeinkauf hierher gekommen ist. Hier koste das Motorrad 12000 Euro, in Finnland 18000. Alles sei bereits arrangiert: Er gehe es jetzt abholen, nehme es dann mit der Fähre nach Helsinki. Früher sei er Koch gewesen, dann gab es plötzlich keine Arbeit mehr und so wurde er Fernfahrer. In Schweden, Norwegen, Finnland. Heute arbeitet er als Manager für Frachtgut.

Wieder einmal eine E-Mail der Obama Foundation, die mich in schöner Regelmässigkeit auffordert, Geld zu spenden. Das ist ja wie bei Trump. Die Reichen betteln bei denen, die entschieden weniger haben, um Geld. Kränker geht kaum.

Ich bin auf dem Weg nach Solna, als der Zug in den Bahnhof von Sollentuna einfährt und ich das farbige Gebäude wieder sehe, das mir schon vor zwei Tagen aufgefallen war. Und so steige ich aus und mache Fotos. Ganz verschiedene Firmen beherberge dieses Gebäude, das auch ‚Colour House‘ genannt werde, sagt der mit einem iPad beschäftigte Mann, den ich angesprochen hatte und der sich als Stadtplaner entpuppte. Das schwarz/weisse Gebäude daneben sei übrigens das Gericht, schmunzelt er.

                                                               Sollentuna, 10 August 2023

Ich fahre nach Uppsala. Und nach Märsta. Gehe durch die Strassen und mache Fotos. Mich einer mir unbekannten Umgebung auszusetzen und sie auf mich wirken zu lassen, das ist heutzutage meine Form des Reisens. Ihn interessiere die Geschichte der Stadtteile und Gebäude, sagt der Stadtplaner aus Sollentuna. Das kann ich bestens nachvollziehen, so war es fast mein ganzes Leben. Mittlerweile hingegen zählt nur noch, ob etwas meine Augen anspricht, ob mir etwas ästhetisch gefällt

Wir reden noch über dies und das, doch hauptsächlich über Wissen und Wahrnehmung, gut zwanzig Minuten lang. Ob ich ein Professor sei, für Ethnologie vielleicht? Das Denken in Systemen sei nicht mein Ding, antworte ich, mein Interesse gehöre der Welt der Ideen, dem unabhängigen Denken ausserhalb der Institutionen.

Der weite Himmel, die mächtig wirkenden Wolken wirken befreiend auf mich.

Ob er Englisch spreche, frage ich den beleibten, mit seinem Handy beschäftigten Kioskbetreiber an der Bahnstation Upplands Väsby. Nein, sagt er, ohne aufzuschauen und beschäftigt sich weiter mit seinem Handy. Ehrlich oder gleichgültig? Ich tippe auf faul.

Im Zug. Eine Frau um die fünfzig, Kopfhörer in den Ohren, telefoniert angeregt, ihre Mimik und ihre Gesten sprechen für sich, der ganze Körper ist in Bewegung. Besonders der Gebrauch ihres Zeigefingers ist eindrücklich, auch und obwohl ihre Gesprächspartnerin nichts davon wissen kann.

Life is ‚a crack of light‘ between the two great voids, before birth and after death“, so oder ähnlich habe ich das über ein Buch von Jenny Diski gelesen.

Sunday, 14 December 2025

Im Spiegel des Kosmos

Es geschieht selten, sehr, sehr selten, also eigentlich nie, dass ich wegen eines Zitats, das einem Buch vorangestellt ist, in regelrechte Begeisterungsstürme ausbreche. Die Ausnahme ist dieses Zitat hier, es stammt von Edgar D. Mitchell, Astronaut der Apollo 14: „Von dort draussen, vom Mond aus betrachtet wirkt die Weltpolitik so lächerlich kleinlich. Am liebsten möchte man einen Politiker am Schlafittchen packen, ihn eine Viertelmillion Meilen hinaus ins Weltall zerren und zu ihm sagen: „Schau dir das an, du kleiner Mistkerl."

Der US-amerikanische Astrophysiker Neil deGrasse Tyson, geboren 1958 in New York City, weist in seinem Vorwort auf „zwei rasche Lehren aus diesem Buch“ hin: „1) Das menschliche Auge reicht nicht aus, um die fundamentalen Wahrheiten über die Abläufe in der Natur zu enthüllen. 2) Die Erde ist nicht der Mittelpunkt aller Bewegung. Sie kreist um die Sonne, als lediglich einer unter mehreren anderen bekannten Planeten.“ Das wissen wir doch, werden vermutlich die meisten denken. Schon, aber eben nur in der Theorie, denn in der Praxis lassen wir uns von dem leiten, was wir sehen und in unserem Erleben dreht sich die Welt um uns. Und genau deswegen ist Im Spiegel des Kosmos so überaus nützlich – „als Fundgrube von Einsichten, informiert durch das Universum und vermittelt mit den Methoden und Werkzeugen der Wissenschaft.“ Übrigens: „Objektive wissenschaftliche Wahrheiten fussen nicht auf Glaubenssystemen“, sie gründen auf Experimenten, können also nachgewiesen werden.

Mit „Wahrheit & Schönheit. Ästhetik im Leben und im Kosmos“ überschreibt Neil deGrasse Tyson das erste Kapitel. Und diese Formulierung is so recht eigentlich ein Geniestreich, denn Schönheit ist in der Tat Wahrheit, das behauptet er nicht nur, das führt er an Beispielen vor. „In unserem Sonnensystem haben wir Kometen und Planeten und Asteroiden und Monde, und sie alle präsentieren sich dem Auge in umwerfend einziger Form und Gestalt. Zu vielen dieser Objekte haben wir detaillierte und objektiv wahre Kenntnisse angesammelt, woraus sie bestehen, wo sie herkommen und wohin sie unterwegs sind. Derweil drehen und bewegen sie sich auf ihren zugewiesenen Pfaden durch das Vakuum des Weltalls, wie Pirouetten drehende Tänzer in einem kosmischen Ballett, und mit den Gravitationskräften als Choreograph.“ Wunderbar!

Im Spiegel des Kosmos ist ein ungemein hilfreiches Buch, da es einen Perspektivenwechsel vornimmt: Nicht unser Ach-so-delikates-Ego wird gehätschelt, sondern unser Dasein im Kosmos wird uns vor Augen geführt. „Für mich persönlich als Wissenschaftler und als Erdenbewohner ist vielleicht das Schönste am Universum, dass wir überhaupt etwas darüber wissen können.“ Man sollte sich Zeit nehmen für diesen Satz, ihn wirken lassen und zu begreifen bereit sein, dass nichts, absolut gar nichts, selbstverständlich ist. Oder uns zusteht. Oder gar verdient wäre ...

Es liegt an unserem Lebenstrieb, dass wir an der Idee, das Ego sei Realität, festhalten. Obwohl wir wissen (können), dass es dieses Ego gar nicht geben kann, denn schliesslich ist alles in stetiger Veränderung begriffen. Diese Vorstellung eines Ego führt übrigens auch zur Astrologie, die lehrt, „dass Sonne, Mond, Planeten und Sterne sich ganz persönlich auf uns auswirken“ ... Dazu Neil deGrasse Tyson: „Kenntnisse über das Universum im Allgemeinen – und kosmische Perspektiven im Besonderen – helfen uns zugleich unser Ego von allem zu lösen, was am Himmel passiert, und dabei selbst die Verantwortung für unser eigenes Tun zu übernehmen.“

Dass wir so wenig fähig sind, das Wunder des Lebens, unserer Existenz, des Universums zu sehen, wirklich zu sehen, liegt grösstenteils an unserem Denken, das linear unterwegs ist. Doch: „Wissen wächst nicht linear, sondern exponentiell, deshalb ist jeder Versuch unseres Gehirns hoffnungslos, die Zukunft allein auf Grundlage der Vergangenheit vorherzusagen.“

Im Spiegel des Kosmos liest sich über weite Strecken als Plädoyer für die Wissenschaft und das meint: Verstehen zu wollen, wie die Dinge wirklich sind. Als zu Beginn von Corona viele sich berufen fühlten, ihre Meinung kundzutun – Politiker, Geschäftsleute und andere Ideologen – , waren Wissenschaftler die Einzigen, auf die ich bereit war, zu hören. Nicht, weil sie immer recht hatten, doch weil sie, sofern sie ernsthaft unterwegs waren, bereit waren, sich an Überprüfbarem zu orientieren.

„Die ganze Mission im Leben eines Wissenschaftlers besteht darin, die wahren Merkmale und Eigenschaften der Natur herauszufinden, selbst wenn sie im Widerspruch zu den eigenen philosophischen Überzeugungen stehen. Genau deshalb werden Sie niemals Bataillone von Astrophysikern bei der Erstürmung eines Hügels beobachten können.“ Wir wären gut beraten, uns die Geisteshaltung hinter dieser Mission anzueignen. Argumente dazu liefert dieses Buch zuhauf.

Im Spiegel des Kosmos führt eindrücklich, anregend und überzeugend vor, wie wir unseren Verstand zum Wohle von uns allen nutzen können.

Neil deGrasse Tyson
Im Spiegel des Kosmos
Perspektiven auf die Menschheit
Klett-Cotta, Stuttgart 2024

Wednesday, 10 December 2025

Schwarzlicht

In jüngeren Jahren, als ich mir von Büchern sinngebende Einsichten versprach, pflegte ich mir wichtige Sätze anzustreichen – und da ich fast alles wichtig fand, nahmen die Unterstreichungen gelegentlich ganze Seiten ein. Daran musste ich denken, als ich María Gainzas Schwarzlicht zur Hand nahm, denn bereits die ersten Seiten begeisterten mich derart, dass ich drauf und dran war, praktisch jeden einzelnen Satz zu unterstreichen.

Hier einige ganz willkürlich ausgewählte Beispiele:

„Sie trug eine zitronengelbe Bluse und ein zerknittertes stahlgraues Kostüm. Sie machte einen gewöhnlichen, ja geradezu etwas lächerlichen Eindruck, doch ihr Äusseres war, wie ich nach einiger Zeit feststellen sollte, ihrer Geisteshaltung genau entgegengesetzt.“ Soviel zu all den Trotteln, die vom ersten Eindruck auf eine Person schliessen.

„Auch wenn sie selten davon sprach, schien sie einer älteren Zivilisation zu entstammen, die es nicht nötig hatte, alles in Worte zu fassen.“ Wie wohltuend, denkt es so in mir.

„Ich war jung, wusste wenig, und was ich wusste, verstand ich kaum, dafür jedoch weckte nahezu alles rasendes Interesse bei mir.“ Treffender kann ich meine eigene Jugend nicht beschreiben!

Die Kunstkritikerin María, die in der Welt der Kunst eine Zeitlang „ein gewisses Prestige erlangt hatte, das sich der Illusion verdankte, eine empfindsame Prosa sei Ausdruck einer ehrbaren Gesinnung, am Stil erkenne man den Charakter“, ist eigentlich nicht darauf aus, sich zu etablieren, als sie bei der Taxierungsabteilung des Banco Ciudad eine neue Stelle antritt.

Ihre Chefin, Enriqueta Macedo, führt sie in die Welt der gefälschten Kunstwerke ein. Enriqueta hatte die Fälschungen der Bande der melancholischen Fälscher („Ihre Mitglieder, die davon lebten, dass sie die Reichen übers Ohr hauten, fühlten sich wie durch ein brüderliches Band verbunden.“), ansässig in Buenos Aires, im Stadtteil Belgrano, während vierzig Jahren für echt erklärt. Im Namen der Kunst und nicht etwa des Geldes wegen. „Falsch waren ihrer Ansicht nach bloss Werke von zweifelhafter Qualität.“

Es geht in diesem glänzend geschriebenen Roman nicht nur um die darstellende Kunst („Ein Sammler kauft keine Kunst, er kauft die gesellschaftliche Bestätigung seiner Investition.“), sondern auch, und vor allem, um die Lebenskunst. „Obwohl es vordergründig immer um Malerei ging, schienen ihre Ratschläge sich in Wirklichkeit auf die Kunst des Lebens zu beziehen.“

Als Enriqueta stirbt, wird María Kunstkritikerin bei einer Zeitung. Als sie den Job verliert, macht sie sich auf die Suche nach der legendären Kunstfälscherin Negra. „… frage ich mich manchmal, ob das Fälschen nicht das einzig wirklich grosse Kunstwerk des 20. Jahrhundert darstellt.“

Schwarzlicht ist ausgesprochen reich an Lebensweisheiten, zu denen auch gehört: „Wie die Grossmutter einer Freundin immer sagte: ‚Nur weil dir schon mal was Schlimmes passiert ist, heisst das nicht, dass dir danach nichts Schlimmes mehr passieren kann.’“ Ob die Erkenntnisse, die etwa Proust („Jeder Mensch kann auf sieben genaue Kopien seiner selbst zählen.“) und anderen bekannten Autoren zugeschrieben werden, erfunden sind oder nicht, ist bei einem Werk, das sich der Fälschung widmet, schwer abzuschätzen – ich jedenfalls habe mich entschieden, sie als wahr zu betrachten.

Immer mal wieder muss/darf ich Tränen lachen. „Ohne sie war ich wie eine Kuh ohne Weide …“. Fühle ich mich nachdenklich gestimmt. „Vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie ‚die glücklichste Zeit des Lebens‘, eine Feststellung, die einen ganz schön traurig machen kann.“ Weiss ich mich mit Wesentlichem konfrontiert. „Doch wie Bach, der darum bat, ihn niemals bewaffnet ausser Haus gehen zu lassen – er fürchtete, ihn könne plötzlich Mordlust befallen – , hielt ich mich von allen Verlockungen fern.“

Schwarzlicht ist gescheit, witzig und lebensklug. Und überdies vielfältig lehrreich. Eine Perle!

María Gainza
Schwarzlicht
Roman
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2023

Sunday, 7 December 2025

Shutdown

Corona hat mich aufgeweckt und wieder neugierig gemacht. Diesmal auf Wissenschaft, für die ich mich nie gross interessiert habe. Zur Zeit jedoch finde ich all das, was mich einst begeisterte, von den Medien zur Fotografie zur Linguistik und zum Interkulturellen, ziemlich fade, Medizin und Biologie hingegen total spannend.

Für Leute wie mich, die bislang nie darüber nachgedacht haben, was eigentlich ein Virus ist – klar, von einer Viruserkrankung und einem Computer-Virus hatte ich schon gehört – , ist „Shutdown“ ein überaus nützliches Aufklärungsbuch, an dem eigentlich nur irritiert, dass es mit dem Doktortitel der Autorin hausieren geht, was für mich in aller Regel eher ein Indiz mangelnder Kompetenz ist (in diesem Falle scheint das nicht so, der Text überzeugt).

Die Autorin studierte Biologie und forschte mit Viren. Und sie versteht es, das ungeheuer breite Thema Pandemie leserfreundlich darzustellen. Das zeigt sich bereits im Prolog, der den grösseren Zusammenhang klarmacht, in dem unsere gegenwärtige Situation gesehen werden muss. „Der Mensch befeuert nicht nur den Klimawandel, sondern zerstört Natur und Umwelt in einer Dimension, die kein Ökosystem mehr verkraften kann. Viren, die bislang in einer harmonischen Symbiose mit ihrem tierischen Wirt zusammenleben, geraten unter Druck und suchen sich einen neuen Lebensraum oder zerstören den Angreifer: die Menschheit.“

À propos Zusammenhang: Dieses Buch macht mir auch bewusst, wie fahrlässig ich in den letzten Jahren auf dieser Welt (Afrika, Asien und Südamerika) unterwegs gewesen bin. Von der fehlenden Malaria Prophilaxe bis zum sorglosen Verzehr von was auch immer, ungeachtet der Faustregel „Cook it, boil it, peel it or forget it“, die ich vor Jahren noch befolgt habe, jedoch schon lange nicht mehr praktiziere. Auch in dieser Hinsicht ist „Shutdown“ ein Weckruf.

Bis vor Kurzem wusste ich nicht, dass in und auf unserem Körper Billionen von Bakterien (Lebewesen) und noch viel mehr Viren (keine Lebewesen, sie können sich nicht selbständig ernähren und vermehren) leben. Zusammen bilden sie unsere körpereigene Mikrobenarmee, der es jedoch nicht immer gelingt, Eindringlinge unschädlich zu machen.

Doch nicht nur die Zoonose ist eine weitgehend unterschätze Gefahr, auch das Wettrüsten im Bereich der biologischen Waffen wird von der breiteren Bevölkerung kaum zur Kenntnis genommen. „Laut Sunday Times gab es bereits um die Jahrtausendwende weltweit 450 Laboratorien, die mit biowaffenfähigen Krankheitserregern herumexperimentieren und zum Teil auch handeln.“ Gemäss gegenwärtigem Wissensstand stammt Covid-19 nicht aus dem Labor, die Wahrscheinlichkeit, dass das nächste Virus von dort kommt, ist jedoch viel grösser als ich gedacht hätte, was auch daran liegt, dass ich bislang nicht wirklich darüber nachgedacht habe.

Neben den biologischen Infos liefert „Shutdown“ auch viel nützliches Politwissen. Wir waren nämlich auch deswegen nicht auf Corona vorbereitet, weil Grundlagenforschung schon lange ein kümmerliches Dasein geführt hat, da sie nicht in unsere Zeit, die dem schnellen Geld verpflichtet ist, passt. „Ein breites Grundlagenwissen über Corona-Viren hätte eine Pandemie vielleicht verhindern können.“ Die Aktivitäten der Gates-Foundation sieht Ina Knobloch kritisch. „Zumindest Bill Gates und seine Stiftung scheinen immer gut vorbereitet zu sein. Zahlreiche Firmen, an denen er zum grossen Teil beteiligt ist, haben ein Rat-Race um Impfstoffe gegen das neue Corona-Virus begonnen – und die Aktien schiessen nach oben, während die meisten anderen Kurse sich im freien Fall befinden.“

Dass Ina Knobloch sich immer auch persönlich einbringt (im Gegensatz zu diesen Journalismus-Primadonnen, die vorgeben, der Objektivität verpflichtet zu sein und dabei ausser Acht lassen, dass sich persönlich zu zeigen, zu einer wahrhaft objektiven Darstellung dazugehört), gefällt mir ganz besonders an diesem Buch. Man lese etwa ihre Erfahrungen mit der Vampirfledermaus

Keine einzige Regierung, mit Ausnahme von Taiwan, Hong Kong und Südkorea (so mein Wissensstand), hat angemessen auf Corona reagiert. Die Politik tat, was sie immer tut – sie praktiziert das Durchwursteln. Politiker täten gut daran, von der Wissenschaft zu lernen: Genau Hinschauen, Fehler unverzüglich korrigieren, weiter forschen, besser werden. Das bleibt natürlich eine Illusion, denn die Politik orientiert sich nicht an der Wirklichkeit, sie bildet sich ein, diese gemäss den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen gestalten zu können. Sie wären gut beraten, sich bei Charles Darwin kundig zu machen, der hat nämlich gelehrt, dass nicht die Gescheitesten und auch nicht die Cleversten überleben, sondern die, welche sich am besten anzupassen wissen. An die Natur, nicht an die eigenen Vorstellungen!

So recht eigentlich müsste es doch mittlerweile allen klar sein, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Man denke an die verheerenden Waldbrände in Kalifornien, Australien und Amazonien. An die sintflutartigen Regenfälle in Indonesien, Ostafrika und Brasilien. An das Massensterben im Tierreich – erinnert man sich noch an die 40 000 toten Krabben, die an die Küste von Grossbritannien gespült wurden, an die 2 Millionen tote Fische, die an der Ostküste der USA angeschwemmt wurden? Ina Knobloch weist noch auf etliche weitere Fälle aus den letzten Jahren hin und mir wird bewusst, dass man all dies nicht vergessen darf und handeln muss, bevor es zu spät ist.

Fazit: Engagiert, lehrreich und aufrüttelnd.

Dr. Ina Knobloch
Shutdown
Von der Corona-Krise zur Jahrhundert-Pandemie
Droemer, München 2020

Wednesday, 3 December 2025

Auf verlorenem Posten

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"Ich wandle in der Finsternis.
Doch mich leitet der Duft des Ginsters"
So beginnt Nicolás Gómez Dávilas "Auf verlorenem Posten". Und ich bin begeistert. Es sollte nicht die einzige Erkenntnis in diesem Band voller Erkenntnisse bleiben, die mich für das eigenständige Denken des Autors einnimmt. Einige davon will ich hier vorstellen:

"Wer sich mit widersprüchlichen Evidenzen nicht abfindet, wird sich letztlich in schlüssige Täuschungen verrennen."

"Bereits die schonendste Wahrheit erscheint dem modernen Menschen eine Zumutung."

"Ich glaube mehr an das Lächeln als an den Zorn Gottes."

"Nicht die Botschaft eines Buches, sondern sein Klima ist es, das uns einlädt, in ihm zu hausen."

"Der wahre Künstler arbeitet mit der Mentalität eines Handwerkers."

"Die Originalität ist nicht etwas, wonach man sucht, sondern etwas, das man findet."

Ich habe diese Einsichten/Erkenntnisse ganz willkürlich ausgewählt, hätte mich genauso gut auch für andere entscheiden können, die 250 Druckseiten geben Anregung zu ungemein Vielem. Gefragt habe ich mich nur, wie man ein solches Buch (das ausschliesslich aus Fragmenten wie den oben erwähnten besteht) eigentlich lesen soll beziehungsweise kann. Der Aufsatz von Francisco Pizano de Brigard ("Die Schlüssel des Nicolás Gómez Dávila"), der am Ende des Buches zu finden ist, versucht Auskunft zu geben: Dávilas Scholien oder Glossen seien so kurz in der Form wie in der Aussage, erfahre ich da, und so recht eigentlich nur ganz zu verstehen, wenn man ihren Ursprung in den griechischen und lateinischen Klassikern vor dem geistigen Auge habe. "Für Don Nicolás, wie es für jeden denkenden Menschen immer der Fall war, bleibt in diesem Diskurs das Echo der Vergangenheit immer spürbar. Dies bedeutet, dass kein Problem wirklich neu, keine Frage ohne Präzedenzfall ist und keine Erfahrung uns völlig überraschen kann."

Nun ja, ich bin weder mit den griechischen noch mit den lateinischen Klassikern vertraut, halte die Vorstellung, dass das Lesen dieser im Original einen zu einem kultivierten Menschen mache, für elitären Schwachsinn und stimme trotzdem zu, "dass kein Problem wirklich neu, keine Frage ohne Präzedenzfall ist und keine Erfahrung uns völlig überraschen kann."

Man kann ein Buch aus ganz verschiedenen Gründen schätzen. Weil es spannend zu lesen ist, weil es einen unterhält, weil es interessant ist, es einem zu neuen Einsichten verhilft. Sind diese Einsichten nicht nur interessant, sondern auch noch hilfreich - und viele der Einsichten in diesem Werk von Nicolás Gómez Dávila sind es - dann ist mir ein Buch lieb und teuer. Hier einige weitere Beispiele:

"Wer weiss, dass ihm das Leben nichts schuldig ist, nimmt eine korrekte Haltung gegenüber den Dingen ein."

"Zu hören, wie auf dumme Weise kritisiert wird, was wir verachten, regt uns dazu an, es zu verteidigen."

"Das wissenschaftliche Denken klärt die Intelligenz, doch es wäscht sie dabei aus."

"Die Einsamkeit ist heutzutage etwas derart Beängstigendes, dass alle die Hitze des Konflikts vorziehen."

Nicolás Gómez Dávila
AUF VERLORENEM POSTEN
Neue Scholien zu einem inbegriffenen Text
Karolinger, Wien 1992